Tichys Einblick
Mehrheit in der Minderheit

Wo sind all die woken Leute?

Jedenfalls nicht dort, wo sie sein sollten. Es gibt die Tugendeiferer, die Medien, Politiker, Firmen und Werbeagenturen umschwärmen – nur offenbar viel seltener, als ihre Verehrer glauben.

imago Images

Der Vorsitzende des Vereins Deutsche Sprache Walter Krämer schrieb kürzlich einen Brief an die Rundfunkräte des WDR, dessen Intendant gerade den ARD-Vorsitz innehat, und an den Rat des ZDF, um die Gremienmitglieder zu bitten, über die Praxis des Genderns in Nachrichten und Moderationen zu diskutieren.

Krämer kritisierte die gesprochene Gender-Lücke wie bei “Ärzt-innen”, “Journalist-innen” oder „Steuerzahler-innenbund“ (Anne Will). Die Sprechpause wird dabei durch einen sogenannten Glottischlag erzeugt, eine laut Lexikon „plötzliche, stimmlose Lösung eines Verschlusses der Stimmlippen“, was sich wie ein Knacklaut anhört.

Anne Will praktiziert den Glottischlag schon durchgehend, die Mitarbeiter des Jugendangebots „funk“ auch, Claus Kleber versucht es ab und zu. Sprache, kritisiert Krämer, müsse flüssig und verständlich vorlesbar sein. Das sei die Knacklautsprache eben nicht.

Über seinen Brief und die Gegenreaktion des Vereins „Genderleicht“ berichtete das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND), und ließ dessen Vertreterin Christine Olderdissen ausführlich zu Wort kommen:

„Beim Projekt ‚Genderleicht’ hält man Krämers Argumentation für wenig überzeugend. Die Initiative des Journalistinnenbundes setzt sich für eine geschlechtergerechte Sprache in deutschen Medien ein. ‚Der Verein für Deutsche Sprache kann den Sprachwandel nicht aufhalten‘, sagt Christine Olderdissen. ‚Er kommt aus der Mitte der Gesellschaft und wird insbesondere von jungen Menschen vorangetrieben. Wir im Journalismus gehören zu denen, die sich der Schönheit der Sprache verpflichtet fühlen und die Regeln der Rechtschreibung einhalten. Diese sind jedoch dehnbar und passen sich dem Sprachwandel an. In den Redaktionen bemerkt der Journalistinnenbund vor allem durch jüngere Kolleginnen und Kollegen Veränderungen. ‚Es ist der journalistische Nachwuchs, der geschlechtergerechte Sprache im Praktikum und Volontariat und als junge Redakteurinnen und Redakteure in die Medienhäuser trägt’, so Olderdissen.“

In den RND-Text hatte die Redaktion eine Abstimmungsfunktion eingebettet. Leser konnten dort votieren, ob sie so wie Olderdissen glauben, dass sich die Gendersprache gesellschaftlich durchsetzt. Nach mehr als 800 angegebenen Leserstimmen stand das Meinungsbarometer bei 91 Prozent, die das nicht glauben. Und später am Tag nach 1400 Stimmen immer noch bei 91 Prozent.

Es mag also sein, dass vor allem Praktikantinnen und Volontäre die frisch erlernte Doktrin in die Medienhäuser tragen, dass die Gesellschaft sich durch Sprachoperation ändern lässt. Aber die Mitte der Gesellschaft zieht nicht recht mit. Übrigens schwankt die Lehre zwischen zwei einander eigentlich ausschließenden Annahmen: Zum einen sollen die Fortgeschrittenen mit der richtigen Erkenntnis über die Sprache auf die Gesellschaft einwirken, zum anderen gibt es die richtige Erkenntnis in der breiten Mitte der Gesellschaft laut Olderdissen längst, sie muss sich nur noch sprachlich niederschlagen. Nur spricht ein Abstimmungsergebnis von 91 Prozent gegen Genderjargon weder für die eine noch die andere Variante. Was zu der Frage führt: Mag sein, dass Gegner der Knacklautsprache sich überdurchschnittlich motiviert fühlen, dagegen zu stimmen.

Andererseits dürfte das Leserpublikum von RND eher links stehen. Wo bleiben also die Befürworter? Die kommen auf vier Prozent, weitere fünf Prozent wollten sich nicht entscheiden.

Eine ähnliche Erfahrung machte gerade das Management des KaDeWe in Berlin. Dort kamen Werber auf die Idee, für die neue Imagebroschüre des Kaufhauses der gehobenen Preisklasse unter anderem die taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah als Model zu verpflichten. Die Redakteurin hatte eine Bekanntheit über taz– und Missy-Magazin-Kreise hinaus erlangt, als sie vor einigen Monaten die 300 000 Polizisten in Deutschland als Müll bezeichnete, und stolz twitterte, dass sie auf Black-Lives-Matter–Demonstrationen mit dem Schild „all cops are targets“ (alle Polizisten sind Ziele) gezogen sei.

Bessere Kreise waren auf die Autorin, die Biodeutschen in ihrer Kolumne eine „Dreckskultur“ attestiert hatte, schon früher aufmerksam geworden; Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und dessen Frau hatten Yaghoobifarah ins Schloss Bellevue eingeladen. Das Beisammensein scheiterte daran, dass die taz-Autorin sich durch die Anrede ‚Frau’ auf der Einladungskarte missgegendert fühlte, und außerdem die Briefmarke für das Antwortschreiben nicht bezahlen wollte, „weil kein cent für almanya“.

Zwischen ihr und dem KaDeWe lief es offenbar besser, sie wurde geschminkt, auf einen stabilen Sessel gesetzt, und bewarb für das Kaufhaus einen Mantel für 3900 und Stiefletten für 459 Euro. Darunter setzten die Werber als sogenannten Claim die Parole „Alles Allen“. So nennt sich auch eine linksextreme Veranstaltung bei den Krawallen gegen die G20 In Hamburg 2017 beziehungsweise gegen die „kapitalistische Verwertungsmaschine“.

Auf der Facebookseite der Konsummaschine KaDeWe sammelten sich innerhalb weniger Tagen etwa 1000 Wortmeldungen von Leuten, die das Unternehmen fragten, was es sich bei der Wahl seiner neuen Werbeträgerin gedacht hatte. Sehr viele kündigten an, in Zukunft woanders einzukaufen. Und auch hier machte sich die Abwesenheit von Befürwortern und Begeisterten bemerkbar.

In Großwokistan hätte man wenigstens ein paar davon erwarten können. Es handelt sich immerhin um eine Stadt, in der die Agentur Jung von Matt gerade die alte DDR-Zwangskollektivierungsparole „Vom Ich zum Wir“ als neue Werbekampagne der Stadtregierung wiederaufarbeitete („Es geht nicht in erster Linie um ein neues Logo, sondern um eine Haltung der Stadt gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern“).

Aber selbst in dieser Metropole blieb die Zustimmung zum neuen inklusiven Markenauftritt des KaDeWe aus. TE fragte bei der Pressestelle des Kaufhauses, ob es auch – auf Facebook oder anderswo – positive Rückmeldungen gegeben habe. Die Mail blieb leider unbeantwortet.

Die Redaktion der Stern versuchte ebenfalls, die Größe eines bestimmten Milieus auszutesten, als sie im Heft 26/20 den Selbsttest „Wie rassistisch bin ich?“ anbot. Es wurde jedenfalls die bis dahin am schlechtesten verkaufte Ausgabe in der Geschichte der Illustrierten.

Die Beatles fragte in ihrem Song Eleanor Rigby:
All die einsamen Leute / wo kommen sie nur her?

Bei den Beispielen von der Knacklautaffirmation bis zum Rassismus-Selbstdiagnose-Kit drängt sich die umgekehrte Eleanor-Rigby-Frage geradezu auf: Wo sind all die woken Leute? Wo sind sie alle hin?
Die Antwort ist relativ einfach: Es gibt sie. Nur eben nicht so viele davon, dass alle Werber, Art directors, Mandatsträger, Zeitschriften- und Luxusmantelverkäufer, die dieses Milieu umschwärmen wie ein Wespenstaat um ein Petit four, davon satt würden. Statt ‚Alles Allen“ gilt: es reicht nur für wenige.

Der frühere Fridays-For-Future-Aktivist Clemens Traub beschreibt diesen grünurbanen Kreis der Bessermeinenden in seinem Buch „Future for Fridays?“:

„Arzttöchter treffen darin auf Juristensöhne. Gin-Tasting und Diskussionen über plastikfreies einkaufen und Zero Waste stehen nebeneinander auf der Tagesordnung.“

Traub, 23, erzählt, wie er erst Teil von FFF war und dann merkte, wie selbstreferentiell und homogen die Gesellschaft war, in der er sich bewegte. Ernsthaft diskutiert wurde dort nicht, weil sich alle schon als Erwachte – also woke – empfinden, und ihre Aufgabe darin sehen, ihre Erkenntnisse an die noch Unerweckten weiterzugeben. Den Grund dafür, dass dieses eher begrenzte Milieu ein so großes Gewicht bekommen könnte, sieht Traub in dessen extremer medialer Überrepräsentation. Der Kreis mag klein sein – aber seine Mitglieder besetzen Redaktionen, Werbeagenturen, NGOs und zunehmend auch Parteiapparate. Vermutlich gab es noch nicht einmal im Kaiserreich eine derart im Gleichtakt schwingende Gesellschaftsklasse. Den Woken geht es also wie dem Besucher eines Spiegelraums, der allein dasteht, aber den Eindruck bekommt, von einer unendlichen Menschenmenge umgeben zu sein.

Ausreichend gut leben nur die angestammten Dienstleister mit den älteren Rechten von diesem Gesellschaftssegment: die Grünen, die Biosupermärkte, die Verkäufer teurer und von den Berliner beziehungsweise süddeutschen Steuerzahlern subventionierten Lastenräder, in Randbereichen noch die anderen traditionell linken Parteien, wobei es dort schon knapp wird.

Was beispielsweise nach der Landtagswahl in Bayern und nach der Kommunalwahl in Frankreich medial als grüne Welle bejubelt wurde, erweist sich beim Nachrechnen – das nur nicht jedem liegt – als Stimmumverteilung innerhalb des linken Lagers.
In Bayern schrumpfte dieses Lager per Saldo sogar leicht. Wahrscheinlich reicht der Zirkel, in dem Menschen tatsächlich die Genderlücke mit Glottischlag auch privat sprechen, kaum über ein und der Kreis der Befürworter nicht über fünf Prozent hinaus. Unterhalb dieser Grenze bewegt sich vermutlich auch die Zahl derjenigen, die jeden Weißen per se für rassistisch halten. Das von Clemens Traub geschilderte Milieu ist größer, aber eben auch nicht so groß, dass man dort auch noch größere Mengen des Stern absetzen, FAZ-Onlineabos oder FDP-Politik verkaufen könnte. Christan Lindner versucht es trotzdem. Ihm geht es darin ähnlich wie dem Stern.

Die taz-Kolumnistin hat es gegenüber ihrem eigenen Hinterland leichter. Sie kommentierte ihren KaDeWe-Auftritt so:
„More likely ist doch, dass ich linke Propaganda im Luxuskaufhaus bewerbe.“

Und das auch noch so umsonst wie ein taz-Online-Besuch. Auf jeden Fall aber kostenlos.

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