Tichys Einblick
Ende der Fiktion Willkommen

Willkommen in der Türkei? Für Syrer schon lange nicht mehr

Spannend die Frage, welche Pläne die Millionen Syrer in der Türkei für sich selbst und für die Zukunft ihrer Familien haben. Wie viele nach Deutschland wollen, dürfte dabei die wichtigste Frage für deutsche Bürger sein, wenn jetzt der Druck auf die Syrer in der Türkei steigt.

Turkish riot police secure the area as protesters, including many Syrian refugees, demonstrate against new measures requiring the forced relocation of refugees on July 27, 2019 in Istanbul, Turkey.

Burak Kara/Getty Images

Sind die rapide schlechter werdenden wirtschaftlichen Verhältnisse in der Erdogan-Türkei schuld daran, dass sich auch das Innenverhältnis gegenüber den Millionen syrischen Flüchtlingen und Migranten verschlechtert hat – sowohl zwischenmenschlich als auch auf staatlicher Ebene?

Eine interessante Frage auf jeden Fall, die für Deutschland einen Hinweis darauf geben könnte, wie schnell Stimmungen kippen können, wenn der eigene Suppenteller nur noch halb voll ist – wenn auch selbstverständlich auf einem ganz anderen Niveau.

Die Schlagzeilen der deutschen Medien jedenfalls sind unmissverständlich: „Syrer sollen gehen – Türkei beendet Willkommenskultur“. Nun ist die Willkommenskultur in der Türkei sicher nicht vergleichbar mit der in Deutschland, die ja einer Vollversorgung gleichkommt.

Die völlig unterschiedlichen Verhältnisse zum besseren Verständnis in ein Gleichgewicht zu bringen, fällt schwer. Die anhaltende Migration vieler dieser Syrer aus der Türkei in die EU, namentlich auf die griechischen Inseln und über weitere dubiose Wege, spricht allerdings eine eigene Sprache ebenso wie der mittlerweile immer fragwürdiger erscheinende Türkei-Deal der Bundeskanzlerin.

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Zuletzt hatte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sogar verkündet, die „Türkei werde den Flüchtlingsdeal mit der EU aufkündigen, „da diese sich nicht an ihre Zusage halte, im Gegenzug türkischen Bürgern visafreies Reisen in der EU zu gewähren.“ EU-Sprecher betonten zwar sofort eilfertig, „es gebe keinerlei Anzeichen für eine Aussetzung des Flüchtlingsdeals von 2016, wonach sich die Türkei zur Rücknahme von Flüchtlingen verpflichtet hat, die von ihrem Staatsgebiet aus die griechischen Inseln erreichen.“ Aber überzeugend klang das nicht.

Es brodelt in diesem riesigen Auffanglager für Syrer in der Türkei, das sich die EU bzw. Deutschland dank Merkel-Erdogan-Deal schon Milliarden hat kosten lassen. Während deutsche und andere Nichtregierungsorganisationen gerade mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln die verstopfte Migrationsroute Nordafrika-EU wieder befahrbar machen wollen, droht aus der Türkei ein noch viel größerer Überdruck sich nach Deutschland Luft zu machen.

Und nein, die Türken sind nicht zimperlich mit ihren „Gästen“, wenn sie jetzt rigoros darauf bestehen, dass die Migranten an den ihnen zugewiesenen Orten bleiben müssen oder wenn mittlerweile selbstständig tätige Syrer gezwungen werden, ihre arabischen Ladenschilder in türkische auszutauschen. Explizit hatte das der Istanbuler Gouverneur Süleyman Soylu angestrebt, der sich wünschte, seine Stadt solle wieder „türkischer“ aussehen.

Nun beschränkt sich das nicht nur auf Ladenschilder, der Syrer selbst soll weg. Ende Juni machte sich der Unmut der Türken über ihre Gäste dahingehend Luft, das es im Istanbuler Arbeiterviertel Kücükcekmece zu Ausschreitungen gegenüber Syrern kam. Der dazu am meisten verbreitete Hashtag? „#SuriyelilerDefoluyor“ – und das bedeutet soviel, wie „Syrer raus hier“.

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Schnell vergessen wird hierzulande zudem, dass Flucht und Migration in die Türkei schon 2011 begannen. So konnten sich seit nunmehr fast einem Jahrzehnt Strukturen verfestigen, wenn heute schon ganze Stadtteile syrisch geprägt sind und die Syrer im Istanbuler Stadtteil Fatih etwa einen Ort gefunden haben, wo sie sich vermehrt niederlassen und so offensichtlich die Ortsansässigen zu Ressentiments einladen.

Lange waren die Syrer in der Türkei als „Gäste“ und „Brüder“ bezeichnet worden, freilich ohne dass man ihnen einen Aufenthalt- bzw. Rechtsstatus vergleichbar mit dem in Deutschland zubilligen wollte. Für die Welt ist die aktuelle Entwicklung „Wendepunkt der türkischen Flüchtlingspolitik“ und die Süddeutsche schreibt über das Verhältnis der Türken zu ihren Gast-Syrern, die seien „plötzlich ungebetene Gäste.“

Laut Süddeutscher Zeitung hat sich eine Art Schwarzmarkt für syrische illegale Billiglohn-Arbeitskräfte entwickelt, der nun u.a. mittels Razzien in den betreffenden Betrieben ausgetrocknet werden soll. Ein möglicher Nutzen, den man sich staatlicherseits hier versprochen haben mag, scheint vakant geworden. Hier wird jedenfalls kein Auge mehr zugedrückt, hier hilft auch mehr Bakschisch nicht mehr. Streng unterschieden wird jetzt zwischen legalen und illegalen Syrern. Hunderte, wenn nicht Tausende wurden bereits zurück nach Syrien ausgewiesen, die Grenzkontrollen an der über 900 Kilometer langen Grenze noch einmal verschärft.

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Und es gab gravierende Auslöser, welche die öffentliche Meinung in der Türkei noch einmal im Besonderen beeinflussten: So, als in der Silvesternacht 2018/19 syrische Flüchtlinge ausgelassen auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul feierten und als das vielen Türken final zu viel wurde, wie der Deutschlandfunk berichtete. Immer mehr Türken, so der Bericht, würden die Syrer auch deshalb geringer schätzen, weil sie sich vor dem Militäreinsatz gedrückt hätten, während türkische Soldaten nun in Syrien im Einsatz seien:

„Wir Türken haben kein Verständnis dafür, wenn einer vor dem Krieg in seinem Land flieht. Bei uns heißt es: Vaterland oder Tod. Aber diese Leute sind abgehauen statt zu kämpfen. Und nun sind sie hier, liegen unserem Staat auf der Tasche und halten sich nicht einmal an die Gesetze. Die machen Geschäfte und zahlen keine Steuern, die holen sich jeden Monat unsere Steuergelder von der Bank und unser eigenes Volk bekommt nichts.“, so ein türkischer Heizungsmonteur gegenüber dem Deutschlandfunk.

Spannend bleibt jetzt die Frage, welche Pläne diese Millionen sich in der Türkei aufhaltenden Syrer für sich selbst und für die Zukunft ihrer Familien haben. Wie viele nach Deutschland wollen, dürfte dabei die wichtigste Frage für deutsche Bürger sein, wenn jetzt der Druck auf die Syrer in der Türkei steigt.

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Was wäre hier die optimale Lösung? Gespräche etwa mit Assad um Neuansiedlungsprogramme und Wideraufbau seines Landes – also weitere deutsche und europäische Milliarden verbunden mit Sicherheitsgarantien für die Rückkehrer? Nein, davon ist die Welt, sind Syrien und Assad viel zu weit entfernt. Dass Gemengelage der Interessen in der umkämpften oder notdürftig befreiten oder befriedeten Region bleibt weiter unübersichtlich.

Ein All-Inklusive-Urlaub erwartete die Syrer in der Türkei nie. Aber sie konnten dennoch bisher auf eine gewisse Form der Solidarität hoffen, die nun offensichtlich schmilzt wie Butter in der Sonne. Auch als Faustpfand gegen Merkel scheint Erdogan die Millionen Syrer in seinem Land aus dem Auge verloren zu haben ebenso, wie an eine Rückkehr nach Syrien schwer zu denken ist, solange die Lage dort weiterhin unklar bleibt.

Was bleibt also tatsächlich noch als Strohhalm der Hoffnung? Positive Berichte von syrischen Landsleuten aus Deutschland, die hier untergekommen und versorgt wurden.

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