Tichys Einblick
Historisch-politische Blindheit

Will Saskia Esken eine Lobbykratie oder eine Räterepublik?

Die neue SPD-Vorsitzende offenbart politische Vorstellungen, die der repräsentativen Demokratie und dem Prinzip der Volkssouveränität widersprechen. Aber ihre Zeit an der SPD-Spitze könnte ohnehin bald schon wieder vorbei sein.

ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images

Wahrscheinlich grübelt die neue SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken rund um die Uhr darüber nach, wie sie sich inszenieren könnte. Kein Thema ist vor ihr sicher: WDR-Oma-„Umweltsau“-Verteidigung, Mali-Einsatz der Bundeswehr, Nordstream 2, Schuldenbremse im Grundgesetz, Tempolimit (das sie jetzt will, wiewohl sie im Bundestag am 17. Oktober 2019 dagegen gestimmt hat), usw.

Nun will Esken, dass NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen / Non-governmental organizations) stärker in den Prozess der Gesetzgebung eingebunden werden. Die NGOs kämen, so Esken, oft erst dann zu Wort, wenn ein Gesetz schon im Bundestag debattiert werde. Das meinte Esken soeben – nomen est omen? – beim 36. Chaos Communication Congress (36C3) – der jährlichen Fachkonferenz und Hackerparty des Chaos Computer Clubs (CCC) in Leipzig.

Eskens Aussagen sollten Anlass sein für ein kurzes historisch-politisches „update“:

Stichwort „Lobbyrepublik/Lobbykratie“

Bis dann Kevin Kühnert kommt
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Es gibt in Berlin rund 5.000 Lobbyisten. Das heißt rund sieben von ihnen für jeden der 709 Bundestagsabgeordneten. Solche NGO-Lobbyisten sind in üppigster Weise als „Experten“ in die Legislative ohnehin schon eingebunden über Anhörungen, in Enquetekommissionen und dergleichen. Die Fraktionen machen den NGOs zudem bei Hunderten der sogenannten parlamentarischen Abende die Aufwartung. Außerdem gehören die meisten Abgeordneten – zum Teil mehrfach – selbst irgendwelchen NGOs an. Siehe www.abgeordnetenwatch.de. Und: Die Liste der beim Bundestag registrierten Verbände (Stand: 19. Dezember 2019) umfasst auf 894 Seiten sage und schreibe 2.324 Lobbyorganisationen.

Alle 2.324 wird Esken nicht gemeint haben, denn darunter gibt es “gute“ und „böse“. Zum Beispiel sind da 370 Organisationen, die irgendetwas mit „Umwelt“, aber eben auch andere, die mit „Auto“ zu tun haben. Und noch gar nicht dabei sind diverse Klima- und Genderbewegte, zum Beispiel LSBTTIQ-Gruppen (lsbttiq = lesbische, schwule, bisexuelle, Trans, transsexuelle, intersexuelle und queere Menschen) und so weiter und so fort.

Esken sitzt übrigens seit 2013 im Bundestag. All die Zahlen könnte sie kennen. Nein, noch mehr NGOs in der Legislative brauchen wir nicht. Das verträgt sich nicht mit repräsentativer Demokratie und mit dem Prinzip der „Volkssouveränität.“ Aber wahrscheinlich hat die vormalige Saskia Hofer einen rot-grünen Geschichts- bzw. Politikunterricht genossen, oder sie hat schlecht aufgepasst. Sonst wüsste sie, wohin sie den Parlamentarismus – aus offenbar durchsichtigen Gründen – führen will.

Stichwort „Räterepublik“ (Räte = russisch „sowjety“):

In einer Räterepublik werden – aufsteigend in hierarchische Ebenen bis hinauf zu einem Zentralrat – in Betrieben, Wohngemeinschaften, Militäreinrichtungen und dergleichen Räte gewählt. Sie üben ein imperatives Mandat aus, sie sind also nicht frei, sondern an die Weisungen ihrer Wähler gebunden. Dementsprechend sind sie jederzeit abwählbar. Eine Gewaltenteilung gibt es nicht, denn die Räte sind zugleich Legislative, Exekutive und Judikative.

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Ein solches Rätesystem erprobte 1871 die „Pariser Kommune“ vom 18. März bis 28. Mai 1871. Nach diesem Muster etablierte sich in der russischen Revolution von 1905 mit Unterstützung der Bolschewiki ein Rätesystem. Nach dem Ersten Weltkrieg fand dieses System Nachahmer in Österreich, Ungarn, Deutschland (siehe am 4. November 1918 den Kieler Matrosenaufstand). Nach dem Spartakusaufstand im Januar 1919 wuchs die Zahl an Räten in Deutschland: es gab Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin, München („Räterepublik Baiern“), Hamburg, Bremen, Mannheim, Halle, Merseburg, in Oberschlesien und anderswo. Deren Ziel war nach dem Sowjet-Modell im Sinne von Marx die Sozialisierung der Schlüsselindustrien (Kohle, Eisen, Stahl) und der Banken. Es waren dann aber die bayerische und Berliner SPD-Regierung, die der Räterepublik den Todesstoß versetzten. Die Weimarer Verfassung bereitete dem deutschen Räte- und „Sowjet“-Spuk am 31. Juli 1919 schließlich verfassungsrechtlich ein Ende. Leider nur für kurze Zeit!

All dies sollte die Vorsitzende einer Partei, die inklusive Vorläufer am 23. Mai 1863 in Leipzig gegründet wurde, mitbedenken. Aber was kümmert das jemanden, der sich überschätzt und der den „100-Tage-Welpenschutz“ ja gar nicht braucht, hat Esken doch genügend politische Führungserfahrung als vormalige Vize-Vorsitzende des Landeselternrates Baden-Württemberg.

Es wird nicht gut ausgehen für die SPD mit dem neuen Tandem. Aktuell dümpelt sie in der Sonntagsfrage bei allen Instituten bei 13 oder 14 Prozent herum. Auch was die Beliebtheit von Politikern betrifft, steht die SPD-Spitze miserabel da. In einer Emnid-Erhebung für „Bild am Sonntag“ zur Frage, von welchem Politiker sie sich 2020 Jahr „eine möglichst große Wirkung in der deutschen Politik“ wünschen, führt Merkel mit 40 Prozent die Skala an. Unmittelbar hinter ihr landet Friedrich Merz mit 36 Prozent (+3) vor Bayerns Ministerpräsident Söder (CSU, 35 Prozent). Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer ergattert nur 29 Prozent (Ende 2018 lag sie an der Spitze mit 45 Prozent). Dann kommt lange nichts: Ganz weit hinten landen Norbert Walter-Borjans (16 Prozent) und Saskia Esken (15), nur noch „unterboten“ von AfD-Chef Jörg Meuthen (10).

Wolfgang Kubicki (FDP) könnte Recht behalten, wenn er prognostiziert, dass dieses SPD-Tandem kein halbes Jahr überstehen werde. Wenn die SPD in Hamburg dann bei den Bürgerschaftswahlen am 23. Februar 2020 auf Platz 2 zurückfällt und sich einem grünen Regierungschef (einer grünen Regierungschefin?) unterordnen muss, werden die Messer gewetzt. Denn dann hat die SPD-Spitze die Quittung dafür bekommen, dass ihr die Wähler aus der Rentner-, Arbeiter-, Autofahrer- und Oma/Opa-Population egal sind.

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