Tichys Einblick
Corona-Paradoxien I

Wie weit sind wir zur Isolation bereit?

Die Covid-19-Pandemie stürzt die internationale Politik in ein durch Abwarten und Aktionismus verdecktes Chaos. Die europäischen Gesellschaften diskutieren darüber, wie weit man sich aus dem öffentlichen Raum zurückziehen soll.

Sonnetanken an der Isar in Zeiten des Corona Virus in München, 15.3.2020

imago Images/Overstreet

Zuerst haben wir uns vor der Krankheit gegraust, dann auch vor den Folgen, die sie für das gesellschaftliche Leben in China zu haben schien. Der Ein-Parteien-Staat, die autoritäre Herrschaft der KP und ihres lebenslangen Vorsitzenden Xi Jinping spielten sicher eine Rolle bei der raschen und radikalen Isolation ganzer Landstriche von der Außenwelt. Das Tragen von Masken im öffentlichen Raum wurde durch Beamte und Drohnen eingefordert und bei Zuwiderhandlung geahndet.

Doch nun rücken fast alle diese Dinge näher an uns, den liberalen Westen, heran. Italien ist schon seit dem 10. März eine einziger »cordon sanitaire« geworden, in dem die Kontrollen auf den Straßen kaum geringer ausfallen als in China. Das Haus darf man noch verlassen, wenn es denn unbedingt sein muss, wegen Arbeit oder Lebensmitteln. Das freundliche Motto »Restiamo a casa« (Wir bleiben zu Hause) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zwangsmaßnahmen gegen die Ausbreitung des neuen Virus damit in Europa angekommen sind.

Am Samstag zog Spanien nach und verhängte eine landesweite Ausgangssperre. In Österreich gibt es inzwischen eine implizite Ausgangssperre, die fast die italienische Stufe erreichen. Das Haus darf man demnach nur noch verlassen, um zum Arbeitsplatz zu kommen, Lebensmittel einzukaufen oder anderen zu helfen oder sich mit zusammen Wohnenden die Füße zu vertreten.

Vor dem Wochenende hatten entgeisterte Twitter-Nutzer von ausgebuchten Restaurants berichtet und verpflichtende Beschränkungen gefordert. Man befürchtete sonst eine massive Verbreitung des neuen Virus. In jedem Fall ist es klug und vorausschauend, wenn die Stadt Wien nun das Messegelände zu einem provisorischen Lazarett hergerichtet hat, das als »Betreuungsraum« für leicht am Virus Erkrankte, nicht als vollgültiger Krankenhausersatz dienen soll. Derzeit hat man in der österreichischen Hauptstadt noch genügend freie Betten. Doch das kann sich nur allzu schnell ändern.

Dementis vom Gesundheitsministerium

Auch Deutschland schlittert allmählich in eine Covid-19-Stimmung hinein und mutmaßt über bald kommende Maßnahmen. Das Gesundheitsministerium tut aber vorerst eines: es dementiert am 14.3.2020 die angeblichen Fake-News – um doch am darauffolgenden Tag via Tagesschau (15.3.2020) zu bestätigen.

und dann heute:

Im Lande bäumt sich das öffentliche Leben noch einmal krampfartig auf, unter der Kritik der Wissenden und dem Applaus der #ichmachewasichwill-Fraktion. Was vor allem auffällt, ist die Inkongruenz der sonst mit so viel Hingabe gepflegten »informierten Zeitgenossenschaft« und des realen Verhaltens in der Pandemie.

Bevor das öffentliche Leben – mutmaßlich – auf ein Minimum heruntergefahren wird, will man es sich noch einmal gut gehen lassen und gönnt sich einen Kaffee in vollen Innenstädten.

Aus München gab es das Photo zum Skandal.

Zahlreich ist auch das Unverständnis darüber, warum die Kommunalwahl in Bayern unter den derzeitigen überschlagenden Nachrichten nicht verschoben wurde – fast nahtlos danach wurde für Bayern der Katastrophenfall ausgerufen. Die Stichwahlen werden vielleicht nur als Briefwahl stattfinden.

Die andere Seite der Hysterie ist ein Widerstand gegen staatliche Maßnahmen, die noch gar nicht verhängt sind und angeblich auch nicht kommen sollen. So kündigen einige an, die gar nicht bestehende Ausgangssperre, sobald sie da wäre, missachten zu wollen.

Aber auch in Deutschland fordern Nutzer eine sofortige Ausgangssperre – die natürlich zumal für den dichtbesiedelten Teil des Landes Sinn ergibt.

Unterdessen hat auch Christian Drosten, Chef-Virologe der Berliner Charité, weitere entkrampfende Ratschläge gegeben, die sogleich richtig aufgefasst wurden. Beim Kneipenbesuch soll man demnach Flaschenbier bevorzugen. Der Professor trinkt ohnehin kein gezapftes Bier. Die Gläser würden »in diesen Kneipen« ja nur »mal durchs Wasser gezogen«, unter minimalem Spülmitteleinsatz. Flaschen seien hygienischer.

Corona sitzt im Hals und wird ausgehustet, stellte der Virologe nochmals fest. Die Gefahr, dass das Virus »airborne« sei – wie sie öffentliche Desinfektionsmaßnahmen in China und anderswo nahegelegt haben –, verneint Drosten. Es gebe keine Virus-Wolken, auch Aerosole genannt, die Viren fielen vielmehr nach wenigen Sekunden zu Boden. Der Aufenthalt im Freien wäre also unproblematisch?

Twitter-Nutzer wussten sofort, was der Virologe meint:

Viel Zeit verschlafen hätten unsere Regierungs-Strategen im europäischen Konzert, sagt Drostens Kollege Kekulé, sehr spät Schulen und Kitas dicht gemacht, statt schon, als die Kinder aus den Ferien wiederkamen (und den Virus mitbrachten), zu reagieren. Ein einziges Kind könne 3.000 Menschen infizieren, das nenne sich exponentielles Wachstum. Nun aber stünden wir „an der letzten Verteidigungslinie“ und können nur noch unsere Krankenhäuser vorbereiten auf das, was kommt.

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