Tichys Einblick
KRISENVORBEREITUNG

Wie robust ist Deutschland?

Eine wesentliche Begründung der Staatsnotwendigkeit liegt in der Bereitstellung des öffentlichen Gutes „Sicherheit“. Ohne sie würde niemand in die Zukunft investieren. Effizientes Risikomanagement ist also eine Voraussetzung für eine stabile Wirtschaft. Eine Bestandsaufnahme von Ulrich Blum und Werner Gleißner.

imago Images

Was charakterisiert den robusten Staat? Es ist die Bereitstellung des öffentlichen Gutes „Sicherheit“. Wie die Corona-Krise zeigt, gehören zur Sicherheit weit mehr als eine funktionierende Polizei und einsatzbereite Streitkräfte. Ein „robuster Staat“ zeichnet sich dadurch aus, dass er strukturell befähigt ist, angesichts einer nicht vorhersehbaren Zukunft Extremrisiken gut zu begegnen.

Wenn damit das Risikomanagement zu den Kernaufgaben des Staates zählt, mit welchen Risiken muss sich die Bundesrepublik Deutschland befassen? Welche haben eine relevante Wahrscheinlichkeit des Eintritts und bedrohen zugleich Leben, Gesundheit, Eigentum sowie die Grundrechte der Bürger? In welchem Umfang? Wie häufig?

Nach heutigem Stand der Risikoforschung ist mit mindestens einer solchen extremen Krise pro Jahrzehnt zu rechnen. Ein effizientes Risikomanagement ist also wichtig für die Stabilität des Staates und der Wirtschaft. Die nachfolgende Beurteilung erfolgt entlang von zwölf Kriterien, wobei zwei Klassen unterschieden werden: solche, die die potenziell erreichbare Robustheit beschreiben, und solche, die erfassen, inwieweit der Staat dieses Potenzial auch ausschöpft.

Frühaufklärung

Das Wissen über große Risiken und mögliche Krisen ist wichtig, damit ein Staat überhaupt in Krisenprävention investieren kann beziehungsweise tatsächlich investiert. Das nötige Wissen ist seit Jahren vorhanden. So wurde beispielsweise mehrfach auf eine mögliche Pandemie hingewiesen:

1. Im Nachgang der SARS-Krise des Jahres 2003 in Asien wurde seitens der Bundesregierung im Jahr 2012 eine Risikoanalyse in Auftrag gegeben. Neben einer Hochwasserkatastrophe wird ein Pandemieszenario ausgerollt, das sehr nahe an der gegenwärtigen Realität liegt. Die Infektionskrise läuft über drei Wellen und drei Jahre und führt insgesamt zu 7,5 Millionen Toten. Ein Großteil der Bevölkerung wird sich im Gesamtzeitraum infizieren.

2. Kurz darauf veröffentlichte die Fraunhofer-Gesellschaft (2013) ein Szenario auf Basis einer Influenza – die ins Frühjahr 2020 (!) projektiert wurde. Diese hat ebenfalls große Ähnlichkeit mit den aktuellen Ereignissen. Sechs relevante Bereiche der Szenarien werden analysiert: kritische Infrastruktur, Bevölkerungsschutz, Technologie und Medizin, Kommunikation und Information, Gesellschaft und Bevölkerung, politische und ökonomische Rahmenbedingungen. Eine verzögerte Lagebilderfassung, unzureichende Katastrophenschutzausbildung, Fehler in der Krisenkommunikation sowie eine Überlastung des Gesundheitssytems werden klar aufgezeigt.

3. Auf Einladung der Johns-Hopkins-Universität fand im Oktober 2019 eine internationale Pandemiesimulation „Event 201“ statt. Ein SARS- ähnliches Coronavirus breitet sich, ausgehend von südamerikanischen Schweinefarmen, weltweit aus. Ein Medikament ist nicht verfügbar. Nach 18 Monaten ist der Globus durchseucht, und 65 Millionen Tote sind zu beklagen.

4. Das Realszenario der Covid-19-Pandemie in China ab Anfang Januar öffnete ein Zeitfenster von gut einem Monat, die Katastrophe von außen zu analysieren und Vorkehrungen zu treffen; allerdings wurden weder externe Warnungen aus China noch interne Hinweise, beispielsweise von deutschen Unternehmen, die bereits damals millionenfach Testkits nach Asien verkauften, aufgenommen.

Die Frühaufklärung war vorhanden und umfasste sogar zwei im eigenen Land erstellte Arbeiten mit entsprechend aufbereiteten Handlungsfeldern. Sie wurden aber nicht genutzt, was später zu bewerten ist.

Erfüllungsgrad: 95 Prozent

Institutionen und Governance

Die föderale Struktur der Bundesrepublik führt automatisch zu relativ komplexen und möglicherweise langwierigen Entscheidungsprozessen mit dem Nachteil der Reaktionsverzögerung. Für den Föderalismus spricht allerdings neben der Machtteilung, dass Fehler – wenn sie gemacht werden – nicht flächendeckend auftreten und die Möglichkeit besteht, aus Fehlern anderer zu lernen. Zudem erzeugt die Konkurrenz der Landesregierungen oft eine Transparenz, die die Bundesregierung meist nicht herstellen kann oder nicht anstrebt. Was auffällt, ist, dass trotz einer auf einen Krieg anwendbaren „Notstandsverfassung“ eine solche für Notlagen durch den Eintritt anderer Extremrisiken nicht existiert.

Erfüllungsgrad: 80 Prozent

Stabilität von Bündnissen

Deutschland ist eingebunden in Bündnisse, die grundsätzlich die Robustheit gegenüber Krisen verbessern helfen. Die Beistandsverpflichtung der NATO reduziert die Bedrohung durch einen Krieg. Die Europäische Union, und hier insbesondere der gemeinsame Markt, haben wirtschaftliche Vorteile, und die grundlegende Idee einer Solidargemeinschaft kann helfen, Krisenfolgen zu mindern, die einen einzelnen Staat betreffen. Trifft die Krise alle Staaten der EU gleichzeitig, so sind die Möglichkeiten des Ausgleichs allerdings begrenzt. Konterkariert werden kann dieser positive Plattformeffekt durch nationale Egoismen – aktuell zu sehen bei den Exportverboten für Gesundheitsprodukte.

Erfüllungsgrad: 85 Prozent

Finanzielle Stabilität und Bonität

Deutschland hat vor der Corona-Krise die Quote der insgesamt aufgelaufenen Staatsschulden bezogen auf das Volkseinkommen (BIP) wieder auf knapp unterhalb der ursprünglichen „Maastricht-Grenze“ von 60 Prozent reduzieren können. Die „Sparpolitik“ der vergangenen zehn Jahre hat zu einer deutlichen Verbesserung der finanziellen Spielräume geführt, und Deutschland hat international eine der besten Bonitäten, nämlich eines der wenigen Triple-A aller wichtigen Ratingagenturen. Es existiert also eine sehr hohe finanzielle Stabilität, die es ermöglicht, in einer schweren Krise die dann erforderlichen Mittel bereitzustellen (zum Beispiel durch Kreditaufnahme für Investitionen, Garantien gegenüber Banken, Zahlung von Kurzarbeitergeld oder Hilfen an Unternehmen). Ein Staatsfonds mit einer signifikanten Vermögensreserve (wie ihn beispielsweise China, Dubai und Norwegen besitzen) existiert dagegen nicht.

Erfüllungsgrad: 95 Prozent

Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit

Das Pro-Kopf-Einkommen, der Human Development Index (HDI) und die wiederkehrenden Exportüberschüsse belegen, dass Deutschland zu den wirtschaftlich leistungsfähigsten Staaten der Welt zählt. Verbesserungsbedürftig sind allerdings die Bedingungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Viele Bereiche der Wirtschaft sind überreguliert, auch ist im internationalen Vergleich die Steuer- und Abgabenlast sehr hoch. Teilweise existieren auch Defizite in der Digitalisierung einschließlich der Nutzung künstlicher Intelligenz. Die marktwirtschaftliche Ordnung macht das Land attraktiv, doch die verfassungsmäßige Absicherung zentraler Elemente – wie Eigentumsrechte und Vertragsfreiheit – sind nur eingeschränkt wirksam.

Erfüllungsgrad: 90 Prozent

Krisenvorbereitung und -übungen

Durch Krisenvorbereitung gewinnt eine Regierung Handlungsspielraum in einer Extremlage. Dies ist der entscheidende Erfolgsfaktor einer Bewältigungsstrategie, wenn krisenrelevante Risiken systematisch analysiert werden. Eine solche „nationale Risikoanalyse“ erfordert Identifikation und Quantifizierung der Risiken. Erstgenanntes erfolgt angemessen, bei der Umsetzung der daraus abzuleitenden Handlungen gibt es große Defizite. Krisenvorbereitung und Krisenübungen wurden seit Ende des Kalten Krieges deutlich reduziert, und damit ist eine Krise derzeit im Wesentlichen nur durch Improvisation zu überbrücken. Insbesondere fehlt mangels Vorbereitung und durchdachter Pläne eine Wirtschaftspolitik, die auch im Krisenfall im Sinne der sozialen Marktwirtschaft eine (neue) Langfristigkeit der Planung ermöglicht und Erwartungen stabilisiert. Fehlende Pläne bringen unnötige Unsicherheit.

Erfüllungsgrad: 40 Prozent

Kritische materielle Abhängigkeiten

Deutschland weist eine ganze Reihe „kritischer“ und im gegenwärtigen Umfang nicht zwingend notwendiger Abhängigkeiten von Dritten auf. Eine exakte Analyse solcher Abhängigkeiten existiert nicht, oder wenn sie – wie bei kritischen Rohstoffen – existiert, hat sie auf staatlicher Seite oder bei den Unternehmen nicht zu Maßnahmen geführt; typisch ist die Reaktion auf die Seltene-Erden-Krise im Jahr 2010, die erst zum Aufbau einer Rohstoffallianz führte, welche dann aber schon nach wenigen Jahren wieder aufgelöst wurde. Die Stabilität der Wertschöpfungsketten steht aktuell im Fokus, beispielsweise bei pharmazeutischen Wirkstoffen.

Erfüllungsgrad: 60 Prozent

Redundanzen und Reserven

In einer Krise steigt der Bedarf an bestimmten Ressourcen und Gütern massiv, und zeitgleich kann die erforderliche Bereitstellung zurückgehen. Wenn eigene Produktionskapazitäten in einer Krise nicht im erforderlichen Umfang verfügbar sind und Importe ausfallen, dann benötigt man adäquat dimensionierte Vorräte. Zwar verfügt Deutschland aufgrund der Erfahrung mit den Ölkrisen der 1970er-Jahre über Speicher für Öl und Gas, eine systematische Lagerhaltung für alle potenziell wesentlichen Güter in Krisensituationen existiert hingegen nicht.

In der Corona-Krise war schon ganz zu Beginn festzustellen, dass die für eine Pandemie notwendige Schutzkleidung, speziell Atemmasken, praktisch nicht verfügbar war und schon nach wenigen Tagen Engpässe auftraten. Auch die Medikamentenverfügbarkeit war „knapp“. Vorräte müssen über einen längeren Zeitraum reichen. Im Rahmen der Krisenprävention sind also Vorräte anzulegen, zum Beispiel für Öl, Gas, Getreide, Konserven, Phosphatdünger, Medikamente, medizinische Schutzkleidung, kritische Ersatzteile und Rohstoffe (beispielsweise Seltene Erden), beziehungsweise Technologien vorzuhalten, die eine Rückgewinnung strategischer Stoffe ermöglichen. Hier bestehen gravierende Defizite.

Erfüllungsgrad: 50 Prozent

Universell einsetzbare Ressourcen

In Abhängigkeit des Krisentyps werden bestimmte Ressourcen – personelle Ressourcen und zugehöriges Gerät – für die Bewältigung benötigt. Relevante Ressourcen sind diejenigen in der staatlichen Verwaltung und bei der Polizei, im Gesundheitswesen sowie beim Militär, das in besonderer Weise flexibel und universell einsetzbare Ressourcen vorhält (Transportkapazität, Sicherungsmöglichkeit, Verteidigungsfähigkeit, Gesundheit). Relevant sind hier natürlich auch die Mittel im Bevölkerungs- und Katastrophenschutz. Derartige Ressourcen wurden seit Ende des Kalten Krieges massiv reduziert.

Erfüllungsgrad: 60 Prozent

Kritische finanzielle Abhängigkeiten

Eine kritische Abhängigkeit besteht über die Gemeinschaftswährung Euro, deren Entwicklung und Zukunft maßgeblich von politischen Entscheidungen in Ländern abhängig ist, auf die Deutschland naturgemäß keinen Einfluss hat. Insbesondere betrifft dies die faktische monetäre Staatsfinanzierung der Europäischen Zentralbank (EZB), die dem Maastricht-Vertrag ebenso widerspricht wie die exorbitanten Schulden einiger Länder, da durch die fortdauernden Niedrigzinsen viele Eurozonenmitglieder keinen Druck zur Konsolidierung ihrer Staatsfinanzen verspür(t)en.

Das wirkt sich in der jetzigen Krise fatal aus und auf könnte auf Deutschland durchschlagen. Indirekt enthält der Target-Mechanismus Haftungs- und Ausfallrisiken für Deutschland in der EZB-Bilanz. In der Corona-Krise drohen nun sogar Euroanleihen und damit implizit die Übernahme weiterer Ausfallrisiken anderer EU-Länder durch Deutschland.

Erfüllungsgrad: 70 Prozent – mit aktuell starker Tendenz zur Verschlechterung
können. Vorbereitete Regelungen, beispielsweise eine Erhöhung der Flexibilität bei Sicherheitsstandards oder das temporäre Aussetzen von Arbeitszeitregelungen, fehlten und mussten erst eilig aufgestellt werden.

Über die Zeit verbesserte sich das Krisenmanagement allerdings, auch weil Medien Kritik an intransparenten Begründungen zu Ausgangsbeschränkungen und dem partiellen Shutdown der Wirtschaft äußerten und den daniederliegenden öffentlichen Diskurs anschoben. Inzwischen existieren ansatzweise nachprüfbare Kriterien für Freiheitseinschränkungen, die sich an der Reproduktionszahl, der Dichte der Neuerkrankungen oder Kapazitätsreserven im Gesundheitssystem orientieren. Mangels fundierter Risikoanalysen kann die Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen aber kaum begründet werden.

Erfüllungsgrad: 70 Prozent

Fazit

Im Ergebnis zeigt sich, dass die Robustheit des deutschen Staates deutlich verbesserungsbedürftig ist. Daran ändert auch der Sachverhalt nichts, dass manche andere Staaten noch größere Defizite aufweisen. Bei den ersten fünf Kriterien zur Krisenaufklärung und zum Robustheitspotenzial ist Deutschland gut aufgestellt und hat damit das Potenzial für einen „robusten Staat“. Die konkrete Vorbereitung auf eine Krise, das heißt die Ausschöpfung dieses hohen Potenzials, fällt demgegenüber mit einem Niveau von knapp 59 Prozent ab. Eine besondere Schwäche offenbart sich bei der Umsetzung von Risikoanalysen, der Vorratshaltung und der Reservenbeziehungsweise Pufferbildung sowie bei wichtigen Ressourcen der Krisenbewältigung.

Kombiniert man dies, erhält man ein Ergebnis, das etwa der Schulnote 3- entspricht. Es spiegelt die Tatsache wider, dass der Staat die Potenziale für eine risikoadäquate Politik nicht umsetzt. Ein Investment in Richtung mehr „Robustheit“ ist damit sinnvoll. Die Krise bietet die Chance, dass die Bedeutung dieses Investments jetzt erkannt wird.


Die Autoren:

Prof. Dr. Werner Gleißner ist Vorstand der FutureValue Group AG  und lehrt an TU Dresden BWL, insb. Risikomanagement.

Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Blum ist Gründungsdirektor des „Center for Economics of Materials“ an der Martin-Luther-Universität Universität Halle-Wittenberg und Fraunhofer Gesellschaft 

Anzeige
Die mobile Version verlassen