Die Berliner Schriftstellerin Monika Maron („Munin oder Chaos im Kopf“) bekam vor wenigen Tagen eine Mail von der Literarischen Welt mit einer Anfrage, die in Deutschland eine Premiere darstellen dürfte. Sie betrifft den Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp, einen der wenigen wichtigen Autoren in Deutschland, die sich kritisch sowohl zur Migrationspolitik als auch zu den verengten Debattenräumen in Deutschland äußern. Schon in der vergangenen Woche hatte die Welt am Sonntag in einem langer Artikel darüber spekuliert, dass Suhrkamp, Tellkamps Verlag, dessen neuen Roman „Lava“ aus politischen Gründen ablehnen könnte. Allerdings sprach der Autor dieses WamS-Beitrags weder mit Tellkamp – noch präsentierte er irgendwelche entsprechenden Suhrkamp-Interna, die den angeblichen Bruch zwischen dem Verlag und einem seiner wichtigsten Autoren belegen würden.
Dann teilte der Verlag öffentlich noch mit, Tellkamps neues Buch befinde sich im Lektorat, als Erscheinungstermin sei im Einvernehmen mit dem Autor das Frühjahr 2021 vorgesehen. Ein Haus wie Suhrkamp trennt sich schon deshalb nicht so leicht von einem Autor, da sich dessen letzter Roman „Der Turm“ gut 750.000 Mal verkaufte. Es sind Schriftsteller mit einer derart großen Reichweite, die dafür sorgen, dass die Bilanz von Verlagen einigermaßen stimmt.
Da Belege für den Literaturskandal – Suhrkamp feuert Tellkamp! fehlen, wollte die Welt am Sonntag nun offenbar mit kreativen Mitteln Fakten nachreichen. In der Mail der Literarischen Welt an Monika Maron heißt es – auch hier ohne Beleg – Suhrkamp zögere „offenbar“, Tellkamps Roman 2021 herauszubringen. Maron möge sich zu der Frage äußern, ob Suhrkamp weiter der Verlag von Tellkamp sein könne, und ob ein Verlag überhaupt „Positionen“ wie die von Tellkamp in seinem Programm haben sollte. Wobei nicht klar ist, was gemeint ist: die literarischen Positionen des Dresdner Autors oder seine politischen.
Ihre Aufforderung, an der „Umfrage“ teilzunehmen, schrieb die Welt, habe sie an eine Reihe von Autoren verschickt.
Faktisch forderte die Literarische Welt also Kollegen Tellkamps dazu auf, die Frage zu beantworten: soll/darf Tellkamp noch verlegt werden? Bis auf die Literarische Welt beziehungsweise die WamS, die das Ergebnis der „Umfrage“ am Sonntag veröffentlichte, stellte niemand diese Frage. Auch die Verlagsleitung von Suhrkamp nicht.
Monika Maron antwortete der Literarischen Welt:
„Liebe X., welcher Skandal soll hier eigentlich herbeidiskutiert werden? Niemand kennt das Buch, über dessen Zumutbarkeit wir hier urteilen sollen. Mir ist von einem Dissens zwischen Autor und Verlag nichts bekannt. Wo sind wir gelandet, daß Sie mir diese Fragen stellen? Darf man Tellkamp verlegen? Vielleicht demnächst: Darf man Michel Houellebecq verlegen?
Ich nehme an der Umfrage nicht teil.
Mit herzlichem Gruß
Monika Maron“
Allerdings fanden sich einige Autoren und ein paar andere, die notdürftig unter dem Stichwort „Intellektuelle“ zusammengefasst wurden, um die leere Debattenhülle auszustopfen. Die Überschrift der WamS lautet: „Suhrkamps Dilemma“. Das existiert zwar nicht; der Begriff Dilemma, ganz nebenbei, bezeichnet übrigens die erzwungene Wahl zwischen zwei Übeln. Aber ein Dilemma, ein Zerwürfnis, ein Skandal soll in einer Art Anrufung doch noch irgendwie entstehen.
Immerhin antworten etliche Autoren, die in der WamS abgedruckt werden, ähnlich wie Monika Maron.
„Wie soll ich ein Urteil über einen Roman fällen, von dem bislang noch nichts bekannt ist außer dem Gerücht, es solle darin unter anderem um die Flüchtlingskrise vom Sommer 2015 gehen?“, fragt Thea Dorn.
Die Suhrkamp-Autorin Nora Bossong schrieb:
„Über Tellkamps neuen Roman, den ich nicht gelesen habe, kann ich nichts sagen. Unterstellungen vorab finde ich unlauter. Generell sollten Verlage am besten die Bücher publizieren, die sie überzeugen und begeistern.“
Der Verleger Helge Malchow kommentiert:
„Ehrlich gesagt: komische Fragen mit komischen Unterstellungen. Um was geht es denn? Im Frühjahr 2021, also in über einem Jahr, soll ein Roman von Uwe Tellkamp im Suhrkamp Verlag erscheinen. Schön. Ist man begrenzt neugierig. Hat der Suhrkamp Verlag mittlerweile was anderes gesagt? Nein? Na, dann beschäftigen wir uns bis dahin mit Büchern, die schon da sind.“
Und Ernst-Wilhelm Händler erwidert (neben ein paar überflüssigen Distanzierungssätzen):
„Man lese den Roman als Roman und urteile dann.“
Dieses Prinzip, ganz nebenbei, galt früher in allen ernstzunehmenden Feuilletons.
Der Historiker Jörg Baberowski erscheint in der Umfrage mit den Sätzen:
„Der Suhrkamp-Verlag war einmal Heimat für Intellektuelle, Exzentriker, Anarchisten und Unangepasste, eine Institution, die dem täglich ausgesprochenen Widerwort eine Bühne bot. Ich kann und mag mir nicht vorstellen, dass ein solches Verlagshaus einen Autor nur deshalb fallenlässt, weil ihm dessen politische Auffassungen missfallen. Es wäre das Ende der Suhrkamp-Kultur. Thomas Bernhard hätte, wenn er noch lebte, über den Versuch, einen Autor politisch zu maßregeln, wahrscheinlich Folgendes gesagt: Ich wünsche Ihnen mit Ihrer Isabel Allende alles Gute!“
Hätte es nur solche Antworten (und Antwortverweigerungen wie die von Monika Maron) gegeben – der große Skandalkonstruktionsversuch wäre gescheitert, was man wiederum als gutes Zeichen hätte sehen können. Aber es gibt eben noch andere Stimmen.
Die linksradikale Ich-AG Philipp Ruch, seit seinem Happening plus Merchandising mit Holocaustopfer-Asche eigentlich intellektuell ruiniert, taucht in der WamS unter der Bezeichnung „Aktivist“ als Stichwortgeber gegen Tellkamp auf:
„Ich halte es für keinen Skandal, wenn ein Verlag verschwörungstheoretische Literatur nicht verlegen mag.“ Woher er weiß, dass es sich bei dem noch unveröffentlichten und unfertigen Roman, dessen Text nur sehr wenige kennen, um „verschwörungstheoretische Literatur“ handelt, lässt er in bester Verschwörungstheoretikermanier offen. Dem Verlag gibt er folgenden Ratschlag: „Suhrkamp ist zwar selbst ziemlich am Ende, aber es ließe doch etwas hoffen, wenn dort Verantwortliche wären, die den klassischen Konflikt zwischen Geld und Moral für letztere entscheiden.“ Und bringt noch ein bisschen Denunziation in Umlauf: „Wer seine (Tellkamps) Positionen schon jetzt erfahren möchte, der greife lieber gleich zum ‚Compact-Magazin’.“ Was Uwe Tellkamp übrigens so kommentiert: „Ich habe nicht ein Komma dort veröffentlicht.“
Den vorläufigen Gipfel der Perfidie erklimmt allerdings die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die der WamS eine Mischung aus Ahnungslosigkeit und Denunziation liefert, wie sie selbst in diesen haltungsstarken Tagen selten vorkommt. Über den Dresdner Autor behauptet Assmann:
„Uwe Tellkamps Lebensthema ist der Widerstand. Er ist 1968 in der DDR geboren, einem Staat, der keine 68er brauchte, weil er sich selbst den Widerstand gegen den Nationalsozialismus auf die Fahnen geschrieben hat. Nach der Wende schrieb Tellkamp einen Roman über den Widerstand in der Widerstandsgesellschaft DDR. Im Zentrum stand der Klassenfeind des Sozialismus, das Bildungsbürgertum. Während die 68er im Westen gegen Bürgertum und Bildung aufbegehrten, erzählte Tellkamp die umgekehrte Geschichte im Osten von der subversiven Kraft des Bildungsbürgertums in einer Diktatur und die positive Aufladung von Kultur unter Bedingungen der Zensur und Repression.“
Das Thema von „Der Turm“ ist nicht der „Widerstand“ (übrigens nannten sich die DDR-Oppositionellen nicht „Widerstand“, da sie den Unterschied zum Nationalsozialismus deutlich machen wollten). Uwe Tellkamp beschreibt in „Der Turm“ auch keine Familie von Oppositionellen, sondern ganz überwiegend von Dresdner Bildungsbürgern, die sich gegen den Einfluss des DDR-Sozialismus abschirmen.
Assmann, einmal in Fahrt, meint weiter:
„Inzwischen hat Tellkamp die Seiten gewechselt.“
Wie das? Uwe Tellkamp hatte 1989 als Soldat kurz wegen Befehlsverweigerung in Haft gesessen; er gehörte zu den Ostdeutschen, die sich dem Zugriff der sozialistischen Ideologie verweigerten und Schutz in einem bürgerlichen Traditionsbestand suchten. Inwiefern hätte er dann heute „die Seiten gewechselt“?
Die Kulturwissenschaftlerin fügt ihren inkonsistenten Gedankengängen einen Satz an, der zum Dümmsten gehört, was bisher in der sogenannten Tellkamp-Debatte gedruckt wurde: „Aus dem Aufrechten ist ein Rechter geworden.“
Dass jemand beides sein kann, liegt offenbar jenseits von Assmanns Vorstellungsvermögen.
Damit ist aber noch längst nicht Schluss. Über den Roman, von dem Assmann außer dem Titel „Lava“ nicht eine Zeile kennt, liefert sie eine Art politisches Gutachten ab:
„Mit seinem neuen Roman wird der Autor selbst zum Widerstandsaktivisten und mobilisiert gegen den demokratischen Rechtsstaat des wiedervereinigten Deutschlands. Wenn er tut, was der Titel des neuen Romans verspricht, nämlich glühende Lava über das Land zu gießen, dann wird man ihn daran nicht hindern können… Man muss sich allerdings fragen, durch welchen Vulkan, sprich Verlag, diese Lava sich ergießen soll. Es sollte nicht der Suhrkamp-Verlag sein, denn auch Verlage haben ihre Identität und ein Gesicht zu verlieren.“
Um dann, als Klimax der Niedertracht, Tellkamp ohne jeden Beleg in die Nähe des Antisemitismus und Gewalt zu rücken, und die Denunziation noch sinnfrei mit dem Corona-Virus zu verquirlen:
„Zu einem Zeitpunkt, wo sich in der Gesellschaft Hass, Antisemitismus und Gewalt mit der Geschwindigkeit des Coronavirus ausbreiten, muss der Suhrkamp-Verlag keinen Brandbeschleuniger auf den Markt werfen.“
Hier hätte die Redaktion beziehungsweise Chefredaktion der WamS zwingend eingreifen müssen. Denn diese Art der Verdächtigung hat mit Literaturdebatte nicht das Geringste zu tun. Das ist Denunziation eines Autors, den Assmann aus politischen Gründen offenbar ablehnt – was sie allerdings weder politisch noch ästhetisch begründet. Stattdessen bemüht sie eine Charaktermordsprache, die historisch dem Kesseltreiben gegen nichtkonforme DDR-Autoren während des Schriftstellerkongresses 1979 ähnelt.
Ganz nebenher: Die WamS hätte auch aus einer gewissen Fürsorgepflicht verhindern müssen, dass Assmann sich auf offener Bühne selbst demontiert.
Der Versuch, einen Bruch zwischen Verlag und Autor herbeizuspekulieren und „Stimmen“ von Autoren zu organisieren, wirkt deshalb so bösartig, weil es ja durchaus schon Bemühungen gab, Uwe Tellkamp aus dem Diskurs zu drängen, mindestens aber als Autor zu markieren, der nicht mehr ohne weiteres der Öffentlichkeit zugemutet werden kann. Anfang Januar sagte der Verein Lingnerschloss in Dresden eine schon vereinbarte Lesung Tellkamps sechs Tage vor dem Termin wieder ab.
Die Begründung des Vereins lautete, Tellkamps Lesung – und auch andere Veranstaltungen, etwa eine Lesung des Althistorikers Egon Flaig – verstoße gegen die „Neutralität“ des Vereins, weil sie von Debattenmagazin „Tumult“ veranstaltet werden sollte. Und „Tumult“, so ein Mitglied des Lingnervereins, sei „rechtspopulistisch“. Als es in Dresden erheblichen Protest gegen die Lesungsabsage gab, verkündete der Verein, Tellkamp dürfe kommen – nur nicht unter dem Label von „Tumult“. „Das Lingnerschloss hat sich herabgelassen, das Odol seiner Gnade über unsereins zu verschütten“, spottete Tellkamp mit Anspielung auf die Geschichte des Hauses: Karl August Lingner war Erfinder und Hersteller des Odol-Mundwassers.
In der WELT hatte es kurz nach dem Text über die angebliche Ablehnung des neuen Tellkamp-Buchs noch einen zweiten merkwürdigen Artikel gegeben: „Uwe Tellkamp und die Medien – die Geschichte einer Entfremdung“.
Darin kocht Autor Marc Reichwein noch einmal die Spekulation über den angeblich von Suhrkamp abgelehnten neuen Tellkamp-Roman auf, und verbindet ihn mit einer Art schriftlichen Tadel an Tellkamp – weil Tichys Einblick geschrieben hatte, dass es kein Zerwürfnis zwischen dem Autor und dem Verlag gebe, und die Verschiebung auf das Frühjahr 2021 einvernehmlich mit dem Autor vorgenommen worden sei. TE stützt sich dabei – im Gegensatz zur WamS – auf verlässliche Quellen. Was die WELT, die sich um den großen Literaturskandal schon betrogen sah, offenbar ärgert:
„Auffällig ist, dass der Beitrag in „Tichys Einblick“ eine verkappte Stellungnahme Tellkamps enthält, zumindest wird dort folgende Reaktion des Autors kolportiert: ‚Der Dresdner Autor sieht die Entscheidung des Verlags, die Veröffentlichung zu verschieben, nicht als Affront. Bei einem Roman, an dem der Autor zehn Jahre lang gearbeitet hat, käme es auf ein halbes Jahr mehr bis zur Premiere auch kaum an.’ Interessant an diesen Sätzen ist erstens, dass sie um eine Negierung des mutmaßlichen Konflikts zwischen Autor und Verlag bemüht sind. Zweitens interessant an der Passage ist, dass etwas unklar bleibt, was daran wirklich eine Äußerung von Tellkamp ist. Der Konjunktiv im zweiten Satz suggeriert einen Autor, der äußerst gelassen auf den Zeitpunkt der Romanveröffentlichung blickt – nach so einer schweren Geburt zumindest ungewöhnlich. Wenn Tellkamp sich zu Wort meldet, warum dann ausgerechnet bei „Tichys Einblick“, einem Portal für Eingeweihte und solche, die sich eingeweiht fühlen wollen? Warum lehnt Tellkamp Interviewanfragen der großen Medien (auch von WELT) seit Jahren ebenso konsequent wie notorisch ab?“
Vielleicht gibt es die Entfremdung zwischen den Medien schlechthin und Tellkamp auch gar nicht?
Vielleicht verspürt ein Autor schlicht keine Lust, eine mediale Skandalisierungsmaschinerie zu befeuern, so wie andere Schriftsteller auf ihre Weise auch, etwa Monika Maron mit ihrer Weigerung, etwas zu der „Umfrage“ beizusteuern?
„Aber auch Tellkamp, wenn er noch zur bürgerlichen Mitte gehören und sich deutlich dort positionieren will, sollte seine Medienstrategie überdenken“, verwarnt ihn die WELT: „Und sich nicht nur noch in Kreisen tummeln, die sich seine Ausgrenzung für ihre eigene Agenda zunutze machen.“
Der WELT-Beitrag liest sich wie eine letzte Warnung an Uwe Tellkamp: Wir würden gern darüber schreiben, wie ihr Verlag Sie ausgrenzt. Und wenn Sie sich weigern, uns dafür ein paar Soundhäppchen beizusteuern, das werden Sie noch sehen.
Die Literarische Welt, von der die Anfragen zu der „Umfrage“ ausgingen, wurde 1925 von Willy Haas gegründet. Sie zählte jahrzehntelang zu den wichtigen Bühnen für Literatur und Literaturkritik. Die WELT ist nach wie vor Heimat wichtiger und exzellenter Autoren und Journalisten – Stefan Aust, Robin Alexander, Rainer Mayer. Gerade deshalb stellt die Kampagne der WamS zu Uwe Tellkamp und Suhrkamp einen eklatanten Bruch mit der eigenen Tradition dar.
Es geht nicht um Literatur. Mehr noch: es geht gegen Literatur.
Diese Kampagne bringt auch ausschließlich Verlierer hervor. Es verlieren selbst die politisch korrekten Kronzeugen. Ein Blatt verjuxt seine Reputation. Und die Literatur wird, wie weiland von DDR-Funktionären, zum Parcours für politische Bekenntnisse heruntergestuft.