Was Sparer zu Recht fürchten – die Geldentwertung – definiert die Europäische Zentralbank als Ziel. Seit 2003 lautet die Formel für die erwünschten Inflationsrate: „unter, aber nahe 2 Prozent.“ Am Donnerstag änderte die EZB dieses Ziel: Jetzt soll die von ihr gewollte und geförderte Inflationsrate im Euro-Raum bei 2 Prozent „als symmetrisches Ziel“ liegen. Was sich sehr technisch anhört, bedeutet schlicht: Sie kann auch ruhig „überschießen“, also über den angepeilten zwei Prozent liegen. Die Zahl, betonte EZB-Chefin Christine Lagarde, sei „keine Obergrenze“. Das verstehen die Märkte: An ihrem Anleihenkaufprogramm wird die Zentralbank festhalten. Mit einer Straffung der Geldpolitik ist nicht zu rechnen. Gleichzeitig machte Largarde in der Vergangenheit auch immer wieder deutlich, dass sie an der Nullzins-Politik festhalten will.
Das Problem liegt vor allem darin, dass die EZB ihre gewünschte Inflationsrate für den gesamten Euro-Raum plant – also für den Zusammenschluss von sehr unterschiedlichen Volkswirtschaften. Die Führung der Zentralbank argumentierte immer, eine gewisse Inflationsrate sei das Zeichen für wirtschaftlichen Aufschwung.
Falls das Wachstum schwächelt, so die Lehre, muss die Zentralbank mehr Geld in Umlauf bringen – vor allem durch Anleihenkäufe, aber auch durch Tiefzinsen, die Kredite billiger machen. Diese Medizin verschreibt die EZB der Eurozone seit Jahren, besonders hoch dosiert in Krisenzeiten. Während der Schuldenkrise 2008 pumpte sie Milliarden in den Markt. In der coronabedingten Wachstumskrise seit Anfang 2020 erreichte die Geldschöpfung neue Rekorde. Ende 2019 lag die konsolidierte EZB-Bilanz noch bei 4,67 Billionen Euro. Im April 2021 erreichte sie ein Allzeithoch von 7,56 Billionen.
Allerdings wirkte die Medizin schon früher nicht gleichmäßig im ganzen Euroraum. Und jetzt schon gar nicht. Für Deutschland rechnet Bundesbank-Präsident Jens Weidmann bis zum Jahresende 2021 mit einer Inflation von über 4 Prozent, wobei er allerdings hofft, dass sie 2022 wieder nachlässt. Wie kommt es zu der hohen Entwertungsrate in Deutschland, wahrscheinlich doppelt so hoch wie das EZB-Ziel? Zum einen erholte sich die deutsche Wirtschaft relativ schnell. Außerdem treibt der Staat die Geldentwertung zusätzlich mit dem CO2-Aufschlag auf die Energiekosten.
In Italien dagegen, wo die Wirtschaft schon seit Jahren praktisch stagniert und im Corona-Lockdown kräftig schrumpfte, liegt die Inflationserwartung für 2021 gerade bei 1,3 Prozent, für 2022 bei 1,1 Prozent. In Portugal erreicht sie noch nicht einmal ein Prozent.
Großer Gewinner der Inflation sind die Staatshaushalte. Die Schuldenaufnahme verbilligt sich, langfristig verringert sich auch ihre Schuldenlast, zumindest relativ. So, wie dem Sparer das Bare auf dem Konto allmählich verdampft, mildern sich auf der anderen Seite mit der Zeit die realen Staatsschulden.
Die Inflationspolitik der EZB hält der frühere Chefvolkswirt der Zentralbank Jürgen Stark schon seit Jahren für grundverkehrt. Er trat im September 2011 von seinem Posten zurück. Die EZB, so Stark, habe nach ihren Statuten nur das Ziel, die Preisstabilität zu erhalten. Stattdessen, so der Ökonom, sehe sie sich immer mehr als „inflation targeter“, als Zielsteuerungs-Institution für Geldentwertung. Das sei aber nicht ihre Aufgabe. Außerdem, so argumentiert er, könne eine Zentralbank die Geldentwertung eben nicht beliebig lenken. Komme sie erst einmal ins Laufen wie jetzt in Deutschland, sei sie schwer zu bremsen.
Während die EZB ihr Inflationsziel anhebt und nach Andeutungen von Lagarde auch „grüner“ werden, also den Wirtschaftsumbau in der EU stimulieren will, kündigte die US-Zentralbank im Juni das Ende der ultralockeren Geldpolitik an. Noch liegen dort die Zinsen zwischen null und 0,25 Prozent. Fed-Chef Jerome Powell bereitete die Märkte aber schon einmal auf eine baldige Reduzierung der Anleihenkäufe von derzeit 120 Milliarden Dollar pro Monat vor. Für 2023 kündigte er sogar zwei vorsichtige Zinsschritte nach oben an. Bleibt es tatsächlich bei der Nullzins-Politik der EZB und dem lockeren Euro-Drucken, während die Fed in den USA die Geldpolitik wieder strafft, dann dürfte der Außenwert des Euro deutlich leiden. Auch dabei gibt es Gewinner und Verlierer. Für große exportorientierte Unternehmen bedeutet der Verfall des Wechselkurses eine gute Nachricht. Importe aus dem Dollarraum würden sich dann aber verteuern – was vor allem die Verbraucher zu spüren bekommen. Der Euro würde dann weicher und weicher.
Eine neue Bewertung ihre Strategie kündigte die EZB für 2025 an.
Nicht ausgeschlossen, dass sie dann das Inflationsziel noch ein wenig höher setzt.