Unverhofft rücken heute die Paladine auf den letzten Metern aus, um noch einmal zu betonen, dass sie gegen das Kernkraft-Aus seien. Wahr ist aber auch: angesichts der Tatsache, dass es seit 2017 eine theoretische parlamentarische Mehrheit aus Union, FDP und AfD gibt, die einen Ausstieg aus dem Ausstieg hätte durchsetzen können, wirken solche Bekundungen nicht nur halbherzig, sondern auch als bloße Wahlkampfmanöver, um in der Manier Kaiser Wilhelms II. am Ende verlautbaren zu können: „Ich habe diesen Ausstieg nicht gewollt!“
Dabei gab es vor 12 Jahren einen parteiübergreifenden Konsens. Rückblick: der 30. Juni 2011. Es ist der Tag der Abstimmung zum Atomausstiegsgesetz („Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes“). Union wie FDP hatten sich in den Monaten zuvor geeinigt und innenpolitischen Widerstand erstickt. Auch in den Ländern, wo es durchaus in manchem Landesverband gekracht hatte, brachte man die Parteikollegen auf Linie. Der Bundestag machte da keine Ausnahme. An dem Tag ist das Plenum mit 600 Abgeordneten gut gefüllt.
Dass die Linke gegen den Gesetzesentwurf stimmt, hängt aber nicht mit einem Abwehrkampf zugunsten der Kernenergie zusammen. Vielmehr möchte die Linkspartei einen eigenen Entwurf durchdrücken, der den Atomausstieg im Grundgesetz festschreibt. Heißt: den Linken geht selbst der Koalitionsvorschlag nicht weit genug. Insofern beläuft sich die Zahl derjenigen, die an diesem Tag für ein Weiterlaufen der Kraftwerke einsetzen, auf 9 Abgeordnete. Es sind:
Marco Bülow (SPD)
Gitta Connemann (Union)
Frank Hofmann (SPD)
Rolf Koschorrek (Union)
Franz Obermeier (Union)
Michael Paul (Union)
Frank Schäffler (FDP)
Rainer Stinner (Union)
Arnold Vaatz (Union)
Weitere 8 Abgeordnete enthalten sich, weitere 20 geben ihre Stimme nicht ab. Damit stimmen 513 Abgeordnete für den Gesetzentwurf, der die stufenweise Abschaltung sämtlicher Kernkraftwerke bis zum 31. 12. 2022 vorsieht. Dabei dürfen auch die Enthaltungen nicht durchweg als Unentschiedenheit oder leiser Protest verstanden werden. Vorzeigegrüne wie Hans-Christian Ströbele und Monika Lazar dürften damit eher signalisiert haben, dass ihnen der Ausstieg nicht schnell genug voranging. Eher kann man dies noch von den nicht anwesenden Abgeordneten vermuten. Darunter sind auch prominente Namen wie Peter Gauweiler, Michael Glos und Kristina Schröder.
Das sollte aber nicht über die Prominenz aufseiten von CDU/CSU und FDP täuschen, die damals für das Ende der Kernkraft votierten, heute dagegen so tun, als handele es sich um ein grünes Projekt, das man im letzten Moment aufhalten müsse. Dass Merkel-Vertraute wie Peter Altmaier, Helge Braun, Ursula von der Leyen oder Norbert Röttgen dafür stimmten, dürfte weniger verwundern. Doch zu den Ja-Sagern zählten auch Personen wie Wolfgang Bosbach, Hans-Peter Friedrich, Hermann Gröhe, Philipp Mißfelder und Erika Steinbach, die sonst als Querdenker der eigenen Fraktion galten.
Arnold Vaatz war damals dabei. Er war einer der fünf Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, die an diesem Tag gegen das Gesetz stimmten. TE fragt ihn nach den Erfahrungen dieses Tages. Fühlte er sich isoliert? Das sei ihm gleichgültig gewesen, er sei es gewohnt, isoliert zu sein – während die anderen mit den grünen Wölfen heulten. „Einige haben uns damals ausgelacht, andere haben uns den Vogel gezeigt!“, ruft er in Erinnerung. Dabei hatte er der Fraktion vorher deutlich erklärt, dass eine solche Entscheidung den Wirtschaftsstandort Deutschland maßgeblich gefährden würde. Einer der Anführer der Anti-Atom-Bewegung innerhalb der Union sei damals Norbert Röttgen gewesen, „Muttis Klügster“.
Und wie war es hinter verschlossener Türe? Da gaben ihm dann einige Recht, so Vaatz. Aber nach außen hin hielt man sich bedeckt. Anlass für die Wende sei keine tiefere Überzeugung gewesen, sondern Merkels Taktiererei vor der Wahl in Baden-Württemberg. Der Ausstieg hatte keine sachliche Grundlage, sondern eine politische. Heute beurteilt Vaatz den Vorgang nicht nur energiepolitisch. Der Ausstieg aus der Atomkraft habe zur Abhängigkeit von russischem Gas geführt. Man habe Moskau damit den Eindruck vermittelt, im Falle eines Konflikts müsse Deutschland schon allein deshalb stillhalten. Die deutsche Energiepolitik habe Russland ermutigt. Der Krieg in der Ukraine sei damit auch eine Folge des deutschen Atomausstiegs.
Blickt man auf den Antrag selbst, wundert man sich noch mehr. Das Gesetz setzte schon damals Prämissen voraus, die es so nie gegeben hat. Zum Beispiel:
„Die Bundesregierung hat unter Einbeziehung der Ergebnisse der Reaktor-Sicherheitskommission und der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ sowie des absoluten Vorrangs der nuklearen Sicherheit beschlossen, die Nutzung der Kernenergie zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu beenden.
Hierzu sollen die Elektrizitätsmengen nach Anlage 3 Spalte 4 aufgehoben und zusätzlich die Berechtigungen der Kernkraftwerke zum Leistungsbetrieb – im Hinblick auf die Sicherstellung der Versorgungssicherheit, die Einhaltung der nationalen und internationalen Klimaschutzziele und die Gewährleistung einer preiswürdigen und sozialverträglichen Strompreisentwicklung – auf den noch erforderlichen Zeitraum zeitlich gestaffelt bis zum 31. Dezember 2022 befristet und so ein festes Enddatum für die friedliche Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität in Deutschland eingeführt werden.“
Dasselbe gilt für die „sozialverträgliche Strompreisentwicklung“. Katrin Göring-Eckardt mag zwar vom festen Glauben beseelt sein, dass der Strom billiger wird, sobald die Kraftwerke erst einmal abgeschaltet sind. Bisher ist jedoch die von Trittin versprochene Kugel Eis etwas teurer als gedacht worden – außer, man legt nicht die absoluten Kosten, sondern den prozentualen Anstieg der Eisverteuerung zugrunde. In dem Fall wäre sogar noch Platz nach oben. Dennoch hielt die Bundesregierung auch dazu im damaligen Gesetzesentwurf fest:
„Es sind moderate Auswirkungen auf die Strompreise und gegebenenfalls auch auf das Verbraucherpreisniveau zu erwarten. Eine genaue Bezifferung ist aufgrund zahlreicher Variablen und nicht vorhersehbarer Entwicklungen nicht möglich.“
Heißt: der Strompreis steigt nur moderat an, aber im Zweifel könnte es auch richtig teuer werden – so genau wusste man das 2011 (angeblich) nicht. Das Atomausstiegsgesetz von 2011 ist damit ein historisches Dokument. Es belegt in hervorragender Weise, dass Taschenspielertricks bei Gesetzesentwürfen keine Entwicklungen der letzten Jahre sind, und sich die Welt schon damals an ideologischen Vorgaben messen lassen musste. Man könnte auch schlicht von einem Betrug sprechen.
In jedem anderen Fall würde man bei dieser Voraussage von Murphys Gesetz es tunlichst unterlassen, eine solche Vorlage durch den Bundestag zu schicken. Doch stattdessen segnen die über 500 Abgeordneten ein Papier ab, das eingesteht, dass man nicht weiß, was aus dieser Entscheidung an Kosten erwachsen könnte. Die Enscheidungsträger haben sehenden Auges in Kauf genommen, dass zugunsten einer von oben verordneten Energiewende ungeahnte Risiken auf den Bürger zukommen werden – und damit eine Politik begründet, die bis in die Regierungszeit der Ampel reicht und von dieser aktuell auf eine neue Ebene gehoben wird.
Bemerkenswert bleibt dabei nicht nur, mit welchen unsachlichen Ansprüchen das Gesetz unterpflastert ist. Denn offenbar scheinen sich weder die Politiker, die damals abstimmten, noch die Politiker, die heute in der Verantwortung sind (wobei es beachtliche Schnittmengen gibt), an die im Einleitungs- und Finanzierungsteil angeführten Voraussetzungen erinnern zu können. Sie sind schlicht nicht gegeben. Würde man die im Gesetz zugrundeliegenden Prämissen wirklich anwenden, hieße das: der Atomausstieg muss verschoben werden. Und zwar nicht nur um ein paar Monate.