Tichys Einblick
Befangenheitsantrag

Wie der Berliner Verfassungsgerichtshof Recherchen zur Wahl behindert

Mit einem bizarren Auftritt wollte die Präsidentin des Berliner Landesverfassungsgerichtshofs die Berichterstattung von TE vermutlich einschüchtern. Marcel Luthe machte ähnliche Erfahrungen – und stellt darum einen Befangenheitsantrag. Von Jerome May und Max Mannhart

IMAGO / Christian Ditsch

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin ist dafür zuständig, die Wahlunregelmäßigkeiten in Berlin aufzuarbeiten. Dafür hat er die Protokolle vorliegen, die das ganze Ausmaß der Katastrophe zeigen. Protokolle, in denen TE innerhalb von anderthalb Wochen Unregelmäßigkeiten fand, die eine Wahlwiederholung zumindest in Teilen unumgänglich machen. Das Gericht allerdings brauchte bereits Monate – und möchte anscheinend genauso weitermachen: Zeit schinden. Die Folge davon könnte sein, dass die Macht des amtierenden Senats zementiert und unumkehrbar Fakten geschaffen werden.

Der Verfassungsgerichtshof kündigte an, erst im Herbst Anhörungen durchführen zu wollen. Mit einem Ergebnis wäre dann frühestens im Winter zu rechnen. Also weit über ein Jahr, nachdem die Wahl stattgefunden hat. Dem Berliner Senat kommt das gerade recht: Er könnte ohne Legitimation durch den Wähler weiterregieren. Dass das Gericht bremst, statt Fahrt aufzunehmen, bekam TE bereits zu spüren.

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Bei der Auswertung der Akten im Berliner Kammergericht wurde unser Team mehrfach äußerst unfreundlich angegangen. Zunächst wurden Mitarbeiter des Gerichts zur demonstrativen Beobachtung des Teams abgestellt. Dann wurde von einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin mehrmals die „Irritation“ des Gerichts zum Ausdruck gebracht, dass TE die Vorgänge am Wahltag aus den Akten öffentlich macht. Sogar rechtliche Schritte wurden in Aussicht gestellt, zu denen man aber selbst sagte, dass man noch nicht wisse, ob diese überhaupt möglich seien. Mitarbeiter von TE wurden auch namentlich auf ihr angebliches Fehlverhalten (man nennt es Journalismus) angesprochen. Die Botschaft war klar: Wir haben euch im Blick.

Später kam schließlich die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, Ludgera Selting, persönlich in den Raum, in dem das Team recherchierte. Sie wolle nur noch mal klarmachen, dass die Mitarbeiter des Gerichts, die uns beobachteten, auf ihre Anweisung da wären, sagte sie. Mittlerweile saßen diese Mitarbeiter mit Tisch so in der Tür zum Raum, dass man kaum mehr an ihnen vorbei kam.

Die Präsidentin fuhr unser Rechercheteam in aufgebrachtem Ton an, sprach von „unglaublichen Vorfällen“ und fragte, was man sich hier erlaube. Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging sie wieder – grinsend – hinaus. Zu dem Zeitpunkt waren nur zwei Mitarbeiter im Raum. Das Ziel dieses bizarren Auftritts war offensichtlich: Einschüchterung des Teams.

Bei der Wahl gilt das strenge Öffentlichkeitsprinzip – Informationen, die zweifellos relevant sind, öffentlich zu machen, ist nicht verboten. Eine ganze Serie höchster Gerichtsurteile bestätigt dies – auch für Berlin. Präsidentin Selting könnte sich eigentlich auch freuen, dass die Arbeit des Gerichts so unterstützt wird und Aufmerksamkeit für diese brisanten Vorgänge entsteht; die Digitalisierung durch TE erleichtert und organisiert den Zugang zu den Akten. Das würde auch den Richtern die Arbeit erleichtern, die sich so nicht durch die Bierkisten, Aktenordner und Papierstapel wühlen müssen. Sich freuen, das tat die Richterin, die selbst auf Vorschlag der SPD ernannt wurde, aber nicht – im Gegenteil.

„Grenze der Sachlichkeit überschritten“

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Wahl-Beschwerdeführer Marcel Luthe machte mit seinen Mitarbeitern ähnliche Erfahrungen – und stellte daher nun den Antrag, die Präsidentin wegen „Besorgnis der Befangenheit“ bei seiner Wahlprüfungsbeschwerde abzulehnen. Selting habe „die Grenze der Sachlichkeit überschritten“. Im TE vorliegenden Antrag heißt es:

„Nachdem von Seiten des Gerichts festgestellt wurde, dass Inhalte der Wahlunterlagen an die Presse gelangt sind, wurden die Helfer während der Akteneinsicht am 19.05.2022 diesbezüglich barsch zur Rede gestellt. Zudem wurde die Einsichtnahme nur noch unter direkter Aufsicht ermöglicht. Dies soll auf Anweisung der hier abgelehnten Richterin erfolgt sein. Damit wird ein tiefes Misstrauen gegenüber der Klägerseite zum Ausdruck gebracht, was für sich bereits die Besorgnis der Befangenheit begründet.“ 

Und weiter: „Beides verbunden mit dem Hinweis, dass es sich bei den Wahlunterlagen geradezu selbstredend um Unterlagen handelt, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden dürfen. Sind diese Worte so gefallen, so stehen erhebliche Vorbehalte der abgelehnten Richterin gegenüber der Klägerseite und gegen das Wahlprüfungsverfahren selbst zu befürchten.“

Darüber wird das Gericht nun beraten.

Es bleibt die Frage: Welches Interesse hat die Präsidentin, dass die Dinge unter der Decke bleiben?

Bei der Recherche zu den Vorgängen spürt man schnell eine Mauer des Schweigens an vielen Stellen. Der Senat verzögert, das Gericht bremst – offenbar besteht geringes Interesse an einer Aufarbeitung. Dafür sind auch zu viele Personen bis hin zum früheren Innensenator Andreas Geisel (SPD) mit deutlicher Verantwortung für die offenkundige Wahlmanipulation verknüpft.

Doch seit TE Licht in das Berliner Wahl-Kuddelmuddel bringt, wird man der Realität nicht mehr ausweichen können. Die Fakten sind eindeutig. Im Gespräch mit TE sagt der frühere Senator, Bundesminister und Grundgesetzkommentator Rupert Scholz, dass angesichts der Vielzahl und Schwere der Mängel weder der Berliner Senat noch das Abgeordnetenhaus hinreichend demokratisch legitimiert seien. Der Senat könne nur noch „geschäftsführend“ im Amt bleiben.


Von Jerome May und Max Mannhart. 
An dieser Recherche haben mitgewirkt: Laura Werz, Jonas Kürsch, Pauline Schwarz, Elisa David, Selma Green, Larissa Fußer, Jonas Aston, Elena Klagges. 

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