Am Sonntagmorgen zwischen 11 und 12 Uhr klingelt bei den meisten Deutschen zu Hause so gut wie nie das Telefon. Doch vor etwa zwei Monaten geschah das Ungewohnte. Am anderen Ende eine sehr sympathische Frauenstimme, die sich als Studentin vorstellt, die für ein Meinungsforschungsinstitut arbeite – um ihr karges Auskommen ein wenig aufzubessern, versteht sich – und mir gern ein paar Fragen zu Allgemeinwissen und Freizeitvorlieben stellen wolle. Alles ganz anonym und nur für wissenschaftliche Zwecke.
Es begann mit der Frage, welches Urlaubsziel man bevorzuge. Österreich, Kenia oder Großbritannien. Klar, ohne nachzudenken, Österreich. Und so ging es weiter, bis hin zu den einzelnen Flaggen europäischer Staaten – früher oder in der Vergangenheit und Heute. Ob der Befragte denn die Kaiserliche Reichskriegsflagge beschreiben könne. Da er sich schon immer für Geschichte und Symbole interessiert hatte, fiel ihm das leicht. Ob er lieber Jazz, Klassische Musik, Deutsche Schlager oder Märsche hören würde. Er sollte sich vorstellen, er miete ein Ferienhaus an. Ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn seine Nachbarn eine Gruppe Flüchtlinge aus Eritrea sind oder ein Skatverein aus Düsseldorf. Irgendwann hatte der Angerufene genug und bat darum, das Gespräch zu beenden. Fröhliches Tschüß und das war’s.
Und schon ist aus einem mittelständischen Unternehmer aus Südbaden, der in Stuttgart auf eine Demonstration geht, ein Staatsfeind geworden. Was sich hier als Fiktion liest, ist das Vorgehen, mit dem der Verfassungsschutz Informationen erhebt und dann umsetzt – im Sinne der jeweiligen Vorgesetzten. Oder dem, was die sich so wünschen.
Ein Krimi? Nur unerlaubte Phantasie?
Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) sagte gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der Querdenker-Bewegung sammelten sich „Akteure aus dem Milieu der Reichsbürger und Selbstverwalter“, die Demonstranten benutzten rechtsextremistische Narrative. Es gäbe Verbindungen zu rechtsextremistischen Gruppierungen. Außerdem distanzierten sich die Organisatoren der Bewegung nicht in ausreichendem Maß von extremistischen Personen und ideologischen Versatzstücken. Es sei zu erkennen, dass in den Reihen der Kritiker der Pandemie-Politik immer häufiger von einem Umsturz und der Notwendigkeit, die Ordnung des Grundgesetzes zu beseitigen, gesprochen werde. Seine Landes-Verfassungsschutzpräsidentin Beate Bube ergänzte, sie habe große Sorge, dass sich die „Querdenker“ in den kommenden Wochen weiter radikalisieren könnten. Höchste Zeit, denkt da der naive und besorgte Zeitgenosse, dass diese Leute nachrichtendienstlich unter die Lupe genommen werden.
Einen Putsch gegen die Demokratie hat es in Deutschland zum letzten Mal im November 1923 an der Feldherrnhalle in München durch Adolf Hitler gegeben. Ist es denn schon wieder so weit, fragt sich der verwunderte und verängstigte Zeitungsleser. In der Realität werden solche fiktiven Befragungen tatsächlich zu Bedrohungsszenarien aufgebauscht. Dass die erfundene Bedrohung mit dem Lagebild der Geheimdienstler nicht zusammenpasst – davon kann sich jeder selbst überzeugen. Gelegentlich kommt so ein Papier ans Licht, wie das des Bundeskriminalamts das von einer derartigen Unterwanderung und Bedrohung der Republik nichts wissen will. Dann wird nach dem Leck gesucht. Trotzdem – öffentlich-rechliche Medien bleiben bei ihrer fiktionalen Darstellung eines drohenden Umsturzes. Da wird aus der Bedrohung von Links in der Lageanalyse des BKA eine rechte Bedrohung.
Das ist leider keine Fiktion. Das ist Realtiät, nachprüfbar, belegt. Gut, dass wir Tagesthemen haben, die am gewünschten fiktionalen Bild mitarbeiten.
Und die Realität kann man besichtigen. Es kostet nur etwas Mühe, sich vom Fernseher wegzubewegen. Aber bekanntlich ist Bewegung gesund. So erinnere ich mich meiner persönlichen Eindrücke im Rahmen meiner der beruflichen Tätigkeit geschuldeten Besuche einiger Demonstrationen der Querdenker. Zum Äußersten entschlossene und martialisch auftretende Demokratieumstürzler habe ich beim besten Willen nicht entdecken können. Lediglich am Rande trieben sich einige folkloristische Gestalten herum, die man eher auf einem Karnevalsumzug mit historischen Kostümen vermuten könnte und die sich zudem deutlich von der Mehrheit der Teilnehmer abhoben. Ja, ich habe Spinner gesehen, Menschen mit verklärtem Blick, auch einige Umweltbewegte, vor allen Dingen aber ganz normale Bürger, viele davon im Familienverbund. Ebenso dürften die meisten von ihnen, im Gegensatz zu den Teilnehmern so vieler anderer Demonstrationen, brave Steuerzahler sein. Viele von ihnen dürften das dem Grundgesetz entsprechende Gesellschaftsbild gar nicht kennen, geschweige denn es umstürzen wollen.
Aber noch einmal: Ein Staatsstreich ist von diesem Personenkreis nicht zu erwarten – eher schon von den linken Gegendemonstranten, die jedes mal auf ihre Weise zeigen, was sie von unserer Demokratie halten. Die Bürgerproteste passen dem Kanzleramt einfach nicht in den Kram, und wie immer ist das Naheliegende, die Gefahr von Rechts zu beschwören. Kein Zweifel, knallharten Rechtsextremismus gibt es, aber eben nicht dort. Taucht dann auch noch die Beobachtung durch den Verfassungsschutz auf, so könnte die Erwartung der Staatsautorität sein, verlässt die Menschen schlagartig der Mut und die Bewegung ebbt ab. Am Ende ein nicht ungefährliches Kalkül. Dann nämlich, wenn immer erkennbarer die Fiktionen der Bedrohung durch die Strobls dieser Republik von der erlebbaren Realität abweichen.