Wibke Bruhns war die Schwester meines Onkels. Zuletzt trafen wir uns auf dem 90. Geburtstag ihrer Schwägerin im Restaurant des Braunschweiger Tennisclubs und bewunderten noch ihre Energie, ihren würdevollen Auftritt und eine Willenskraft, die es ihr ermöglicht hatten, sich auf den Weg zu machen und den Ehrentag der Frau ihres Bruders mitzufeiern.
Bewunderung deshalb, weil leider schon unübersehbar, dass die Gesundheit angegriffen war. Die als erste Nachrichtensprecherin Deutschlands bekannt gewordene Bruhns hatte viel Gewicht verloren und strahlte dennoch Tapferkeit und Lebensmut aus. Ich erinnere mich gut, dass die Begegnung der beiden Damen damals geprägt war von Herzlichkeit und wohl auch von Dankbarkeit, diesem Leben so viel abgewonnen und das Leben jede auf ihre Weise nicht nur gemeistert, sondern immer wieder auch genossen zu haben.
Wibke Bruhns war in unserer Familie immer ein Thema, schließlich sah man die Schwester meines Onkels Jochen Klamroth öfter im Fernsehen, es war sogar so, dass man sich gegenseitig Bescheid sagte, wenn wieder ein Sendetermin anstand. Hinzu kam wohl auch, dass sich Schwester und Bruder auch von der Physiognomie her ähnlich waren. Wer Jochen gut kannte, der sah Jochen auch in Wibke und umgekehrt. Beide ähnelten dabei ihrem Vater, der als Fotografie im Goldrahmen beim Onkel auf der Kommode stand. Ein Vater, der so viel mehr als in den meisten Familien die Geschicke seiner Kinder prägte.
Hans-Georg Klamroth wurde vom NS-Richter Freisler im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944, mit dem Attentat auf Adolf Hitler, zum Tode verurteilt und in Plötzensee am Schweinehaken aufgehängt. Ein Mord, eine Tragödie und eine Teilhabe am Weltgeschehen, die zur bestimmenden Größe für meinen Onkel und seine Schwester werden mussten. Für jeden auf seine Weise.
Jochen war damals gerade volljährig und kam in ein Strafbataillon. Sippenhaft. Er verlor nicht nur den Vater, er wurde von den Ereignissen traumatisiert und blieb es bis ins hohe Alter. Die Erinnerungen waren nicht auszulöschen. Jochen war schon in jungen Jahren in einer nationalpolitischen Eliteerziehungsanstalt. Der Vater wollte es so. Angedacht war, ihn in die Elite der Nationalsozialisten zu erziehen. Seine Schwester Wibke war deutlich jünger. Sie verlor den Vater, als sie sechs Jahre alt war. Man kann sich wohl vorstellen, wie das für ein kleines Mädchen gewesen sein muss, so früh den Vater zu verlieren.
Die Karriere der gebürtigen Halberstädterin darf heute einzigartig genannt werden. Darf man Bruhns eine Feministin nennen? Das würde ihr sicher nicht gerecht. Höchstens dann vielleicht, wenn Feminismus das selbstverständliche Recht bedeuten würde, als Frau Karriere zu machen und eine eigene Haltung zu haben, die man unmissverständlich in einem männerdominierten Nachkriegsdeutschland äußert und danach lebt.
Wibke Bruhns war zuerst bei der Bild, wechselte dann zum NDR-Fernsehen und später zum ZDF, dort wurde sie erste Nachrichtensprecherin im bundesdeutschen Fernsehen. Und sie blieb unbequem. Mit einiger Verwunderung erlebte Bruhns auch die Vereinnahmung ihrer Person durch die feministische Bewegung. Man darf annehmen, dass ihr dieses Etikett eher unangenehm war. Nein, Wibke Bruhns war keine Quotenfrau, sie war einfach im richtigen Moment die beste für ihren jeweiligen Job, so auch, als sie später Starreporterin beim Stern und für das Magazin Korrespondentin in Jerusalem und Washington wurde, damals, als der Stern noch seine überragende Bedeutung in der Medienlandschaft hatte.
Bei uns zu Hause kamen Briefe aus aller Welt für Onkel Jochen an, der ein paar Häuser weiter wohnte. Briefe, aus denen bisweilen ein paar Zeilen vorgelesen wurden – Nachrichten aus aller Welt aus erster Hand von einer Frau, die man öfter auch im Fernsehen bewundern konnte. Aufregend und prominent.
Nun war die Aufarbeitung des Mordes an meinem Großonkel durch die Nazis und was das mit meinem Onkel gemacht hat, immer ein bestimmendes Element, wenn man mit dem Onkel Umgang hatte – sei es bei Feierlichkeiten oder gemeinsamen Spaziergängen. Immer wieder erzählte Jochen von den Ereignissen rund um das missglückte Attentat auf Hitler, dem nicht nur sein Vater, sondern auch sein Schwager zum Opfer fiel. Wibke muss es in ihrer Familie – zumindest in einer bestimmten Lebensphase – nicht anders ergangen sein.
Ihre Beschäftigung mit dem Leben und Sterben ihres Vaters traf auf das schriftstellerische und journalistische Ausnahmetalent der Wibke Bruhns und mündete 2004 in „Meines Vaters Land“, einem in viele Sprachen übersetzten Bestseller, der etwas später auch inklusive Originalfilmmaterial verfilmt wurde. Dort sah ich in einer Schwarz-weiß-Aufnahme meinen Onkel als Jungen wieder.
Wibke Bruhns hat mit ihrem Wirken und mit ihrer herausragenden Arbeit die Bundesrepublik mitgeprägt. Das ist viel. Aber mit ihrem Buch „Meines Vaters Land“ hat Wibke Bruhns ihre Familiengeschichte – die auch die Familiengeschichte meines Onkels und dadurch auch ein wenig meine Familiengeschichte wurde – mit der Geschichte dieses Landes verwoben. Sicher werden noch in Jahrzehnten Schulklassen die Familiengeschichte der Klamroths (Geburtsname von Wibke Bruhns) lesen, wenn sie deutsche Geschichte aus der Perspektive der Menschen verstehen wollen, die unter dieser Geschichte litten, die sie aber auch mitbestimmt haben.
Auf dem 90. Geburtstag meiner Tante haben wir uns irgendwann bei strahlendem Sonnenschein verabschiedet. Wibke Bruhns nahm ein Taxi zum Bahnhof. Eine große Journalistin, Bestsellerautorin und die Schwester meines Onkels. Beide mögen nun in Frieden ruhen.