Ein junger Mann mit einem sehr nachdrücklichen Lächeln geht durch die Menge, um kleine Faltblättchen mit Matthäus- und Johannes-Zitaten zu verbreiten: „Freiheit durch Wahrheit.“ Das Papier empfiehlt, die Bibel zu lesen. Jemand hält die Regenbogenflagge hoch. Ein Mitdemonstrant ein Pappschild, auf dem steht: „Peaceful Revolution. Friedlich bleiben!“ Friede ist natürlich immer gut, aber hier am Spreeufer vor dem ARD-Hauptstadtstudio, wo die Demonstranten sich drängen, muss eigentlich nicht extra gemahnt werden. Schon aus Altersgründen. Im Regierungsviertel sammeln sich an diesem Mittwoch auffällig viele Weiß- und Grauhaarige, um gegen das „Dritte Bevölkerungsschutzgesetz“ zu protestieren, das im Bundestag beschlossen wurde, drüben im Bundesrat an der Leipziger Straße gerade bestätigt wird und gleich anschließend in einem Rutsch die Unterschrift aus dem Federhalter des Bundespräsidenten bekommt. „Stoppt das Ermächtigungsgesetz“, heißt es auf einem Plakat, das sich eine mittelalte Dame mit blauer Jacke um den Hals gehängt hat, zusammen mit einer Trillerpfeife. Sie ist mit dem Fahrrad da, einem praktischen Modell, am Lenker baumelt ein weißer Helm. Einige Jüngere mit Rastalocken stehen auf der Straße, die Menge hört den jeweiligen Kundgebungsrednern zu, trillert und trötet, klatscht und skandiert ab und zu. Zum Beispiel: „Liebe.“
Über der Szene liegt der Geruch von Räucherstäbchen und selbstgedrehten Zigaretten. An diesem Stück Spreeufer sieht alles nach einer Mischung aus Kirchentag, Ostermarsch und Demonstration von Altgrünen aus. Auch der Sound passt dazu, das, was vom Redner auf der Brücke herüberweht. Er prangert gerade die Macht der Großkonzerne an, der Lobbyisten, die dort drüben im Bundestag die Fäden ziehen würden. Wer am Vormittag Berichte der ARD schaute und Zeitungsartikel las, der konnte schon vorab erfahren, dass sich hier in Berlin „eine krude Mischung aus Gegnern der Corona-Maßnahmen, Verschwörungstheoretikern und Verfassungsfeinden“ („Süddeutsche“) treffen würde. Später wird Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik sagen: „Die Brutalität war immens“, und sie meint damit die Demonstranten. „Wir sind vom ganz bunten Publikum weggekommen“, so Slowik, „und haben es zunehmend mit einem Spektrum von Menschen zu tun, die unser System generell ablehnen und bereit sind, dafür extreme Gewalt anzuwenden.“
Mischung, das stimmt so weit. Bunt wie ein Quilt wirkt der Demonstrantenpulk noch mit seinen Regenbogenfahnen und ein paar vereinzelten Deutschlandflaggen. Auf der Spreebrücke hält jemand ein Sternenbanner über die Brüstung. Anders als bei der Demonstration am 29. August weht zumindest hier am Ufer keine Kaiserreichsfahne.
Wo stehen an diesem Nachmittag am Spreeufer also die Verfassungsfeinde? Vorn auf der Rednertribüne zitiert jemand gerade den Absatz 4 des Grundgesetzartikels 20: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Die Menge skandiert: „Widerstand, Widerstand.“ Nein, das Bevölkerungsschutzgesetz ist nicht das Ermächtigungsgesetz von 1933, und auch die Möglichkeit zur Abhilfe gibt es, gewaltsam muss also niemand die Grundrechte verteidigen. Allerdings tut das hier auch niemand. Das Gewaltpotential der ältere Dame mit Fahrrad und Trillerpfeife dürfte sich generell in Grenzen halten.
Wer demonstriert hier? Ein grauhaariger Mann mit buntem Wollschal trägt ein Transparent mit der Aufschrift: „Hände weg vom Grundgesetz“ und drei Ausrufezeichnen.
„Sie sehen aus wie ein Extremist und Verfassungsfeind.“
„Genau“, sagt der Mann, „ich bin Nazi, Rechtspopulist und Impfgegner.“ Impfgegner, sagt er, sei er tatsächlich. „Sagen wir so: Impfkritiker.“ Es gibt hier Staatsskeptiker, Impfskeptiker, Leute, bei denen historische Vergleiche mit dem Ermächtigungsgesetz locker sitzen.
Die gesundheitspolitische Sprecherin der Berliner Grünen Catherina Pieroth empfahl vor einiger Zeit Knoblauch als „Virenkiller“ gegen SARS-CoV-2
(zumindest unterstützt er das Abstandhalten); die FFF-Aktivistin Luisa Neubauer erklärte kürzlich, wenn die Klimaerwärmung anhalte, würden sich Kinder auf dem Schulhof demnächst die Fußsohlen verbrennen. Es gibt ganz augenscheinlich keinen Graben, der diese Demonstration wirklich von dem Rest der Gesellschaft trennen würde.
Einer der Demonstranten kommt aus Offenburg, Hubert Kraus, 59, Elektrotechniker und Vorsitzender einer kleinen Genossenschaft. Auf seinem Sweatshirt steht: „Zeig dein Gesicht für die Grundrechte“.
Warum er heute hier ist? „Ich will nicht, dass die Grundrechte eingeschränkt werden. Dafür gibt es überhaupt keinen Grund.“ In Offenburg und anderen Orten im Südwesten, erzählt er, habe er schon lokale Demonstrationen organisiert. Lokale Zeitungen hätten über ihn geschrieben, er sei Rechtspopulist, sie hätten ihm Antisemitismus unterstellt. „Das ist völliger Unsinn.“ Warum gibt es im Südwesten eigentlich so auffallend viele Corona-Maßnahmenkritiker? Kraus überlegt kurz. „Bei uns gibt es viele Unternehmer, von hier stammt Carl Benz. Für die Region sind Menschen typisch, die die Dinge selbst in die Hand nehmen wollen.“ Offenburg, das fällt ihm noch ein, war 1848 das Zentrum der badischen Revolution. „Zu unseren Demonstrationen treffen wir uns auf dem ‚Platz der Verfassungsfreunde’. Das passt doch gut.“ Seine Genossenschaft dichtet Fenster ab, im ersten Lockdown, erzählt er, seien die Aufträge eingebrochen. Jetzt wieder. Er bekomme zwar staatliche Hilfsmittel. Aber in die Genossenschaft habe er privates Geld nachschießen müssen, um eine Schieflage zu verhindern. Bei Kraus kommen zwei Dinge zusammen: Das Gefühl, dass der Staat in der Pandemiebekämpfung zu brachialen Mitteln greift und damit Grenzen überschreitet. Und die Frage des Kleinunternehmers: wie geht es weiter? An seiner Perspektive lässt sich auch gut studieren, wie etliche Politiker gerade alles tun, um den Argwohn gegen sie zu bestätigen. Zwangseinweisung von renitenten Bürgern in ein Spezialkrankenhaus – das klang bis vor zwei Wochen noch wie eine düstere Verschwörungstheorie. Bis Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl genau diesen Vorschlag machte. Von dem Prinzip der „erfüllten Prophezeiung“ spricht auch Paul Brandenburg, Vorsitzender des Vereins „1bis19“, einer Bürgerinitiative zur Verteidigung der Grundrechte. Die martialische Kulisse mit Wasserwerfern gegen Demonstranten, meint er, bestätige genau die Leute, die dem Staat im Streit um das Bevölkerungsschutzgesetz grundsätzlich Grenzüberschreitungen zutrauen.
An diesem Tag gibt es auch eine so genannte Gegendemonstration. Ihre Teilnehmer stehen auf einem privilegierten Platz, direkt vor dem Brandenburger Tor. Der ist schön, psychologisch allerdings nicht günstig. Denn auf dem weiten Plan verlieren sich die etwa 30 Leute eher, als dass sie auffallen.
Merkwürdigerweise muss der Reporter eine Polizeisperre passieren und seinen Presseausweis zeigen, um zu ihnen zu gelangen. Die erste Kontaktaufnahme scheitert. Mit einem rechten Medium würde er nicht reden, meint ein junger Mann. Anders als auf der Demonstration am Spreeufer liegt das Durchschnittsalter hier um die zwanzig. „Impfen ist Liebe“, heißt es auf einem Transparent. Auf einem anderen: „Kein Platz für rechte Propaganda“. Weiter hinten zwischen den jungen Leuten steht ein Fähnchen des Linkspartei-Blatts „Neues Deutschland“.
„Welche rechte Propaganda meinen Sie genau?“
„Dort“, ein Mädchen hinter dem Transparent meint die Demonstration drüben, „sind massenweise Nazis und Rassisten unterwegs.“
„Ich war gerade zwei Stunden dort. Leute, für die diese Beschreibung passt, sind mir nicht aufgefallen.“
„Man sieht es ja nicht unbedingt von außen.“
„Das ist richtig. Aber woher wissen Sie es dann?“
An der Stelle mischt sich ein Mädchen mit langen Haaren ein: „Ja, lesen Sie denn keine Medien?“
„Ich war gerade selbst auf der Demonstration. Ich muss nichts darüber lesen, um mir einen Eindruck zu verschaffen.“
An der Stelle wechselt ihre Tonlage in den Diskant: „Sie lesen also keine Medien.“
„Ich lese sie, aber als Journalist bin ich gewohnt, mir selbst ein Bild zu machen, wenn es möglich ist.“
„Sie sind studierter Journalist? Und da haben Sie solche Ansichten?“
Das Mädchen („ich komme aus einem Journalistenhaushalt“) setzt zu einem längeren Vortrag an. In der Demonstration gebe es jede Menge Reichskriegsflaggen. Ich sage, dass ich keine einzige gesehen hatte (auf der Straße des 17. Juni gab es Augenzeugen zufolge eine, aber nur eine einsame Kaiserfahne). Während ich das sage, zeige ich auf meinem IPhone eine Reihe von Fotos der Demonstration, den grauhaarigen Mann, Hubert Kraus mit dem Grundgesetz-Sweatshirt, die ältere Dame mit dem Fahrrad, einen jungen Mann mit Rastalocken. Ich solle das Bilderzeigen unterlassen und ihr zuhören, sagt sie, ohne auf das Display zu schauen. Eine Gesellschaft, sie redet sehr hoch und laut, müsse sich einig sein über die Grundlagen, sonst gebe es keine Diskussionsmöglichkeit.
„Es gibt doch eine Diskussionsgrundlage: das Gesetz, das heute beschlossen wurde, und das Grundgesetz. Darüber kann man doch streiten.“
Das Mädchen sagt, es gehe um Corona, um ein gefährliches Virus, die Gefährlichkeit sei – jede Silbe wird betont – wis-sen-schaft-lich be-wie-sen. Das müsse jeder ak-zep-tie-ren.
„Es geht um die Frage von Grundrechten und ihrer Einschränkung. Dazu, wie man das beurteilt, sagt die Wissenschaft nichts.“
Die Gegendemonstrantin will nicht mehr reden, sie setzt sich zu zwei anderen Mädchen auf den Boden hinter das Transparent.
Es wird nicht ganz deutlich, ob sie das Gesetz, um das es geht, überhaupt kennt. Sie scheint es für eine Art virologische Abhandlung in Paragraphenform zu halten.
Zwischen den Leuten am Spreeufer und den Gegendemonstranten liegen fünf Gehminuten, ein Polizeikordon und ein Gitter. Ein Gespräch zwischen beiden Gruppen dürfte ungefähr den Schwierigkeitsgrad einer Nahostverhandlung haben.
Ein schmaler Junge hinter dem Transparent mit der rechten Propaganda sagt: „Und auf der Demo dort tragen die Leute keine Masken.“
„Stimmt. Aber hier trägt auch nicht jeder welche.“
Hinter ihm stehen zwei schwarz gekleidete maskenlose Gegenrechtsdemonstranten, die sich unterhalten. Der Junge dreht sich nach ihnen um, dann schaut er wieder geradeaus.
Unübersichtlichkeit allenthalben.