Tichys Einblick
"Bitte froh sein"

Wenn es an Impfdosen und Narrativen fehlt

Über Bescheidwissenschaftler, eine Kanzlerin, die auspacken könnte, und den neuen Gruß von Berlin-Mitte: "Bitte froh sein"

picture alliance/dpa/dpa-pool | Michael Kappeler

Erinnern Sie sich noch an Nikolaus Blome? Der frühere Bild-Vize-Chefredakteur und heutige Spiegel-Kommentator machte sich im Dezember seine Gedanken, in diesem Fall über die Impfung gegen Covid-19 in Deutschland. Unter der Überschrift „Impfpflicht, was sonst?“ skizzierte er, wie die Immunisierung abzulaufen habe, nämlich systematisch, einheitlich und natürlich obligatorisch für alle; er teilte die Bevölkerung schon einmal vorsorglich in die helle Seite, die der Pflicht zur Spritze zustimmte, und die Verweigerer. Für diesen dunklen Teil malte er ein Bestrafungsregime aus, und das so lustvoll, dass niemand ein Psychologe sein musste, um darin den Kern seines Textes zu erkennen: „Ich […] möchte an dieser Stelle ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“

Bedenken wegen der kurzen Entwicklungszeit des Vakzins und ungeklärten Nebenwirkungen etwa für Allergiker wischte er beiseite: „Der Staat hat schon umstrittenere Sachen durchgepaukt.“

Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sinnierte über eine Impfpflicht und CSU-Generalsekretär Markus Blume erklärte fast zeitgleich die Entgegennahme der Corona-Spritze zur „patriotischen Selbstverständlichkeit“. Der Verteidigungsstaatssekretär und CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Tauber twitterte am 27. Dezember 2020: „Das Impfen abzulehnen oder gar zu verteufeln ist menschenfeindlich. Es wird Zeit, die Fackel der Aufklärung wieder höher zu halten, um das Licht so hell strahlen zu lassen, dass die dunklen Gestalten wieder in die Löcher verschwinden aus den sie gekrochen kamen.“

Eine Frage stellten sich die Hellstrahler Blome, Blume, Söder und Tauber in den letzten Tagen des Jahres 2020 offenbar nicht: Gibt es überhaupt genügend Impfstoff, um ihn flächendeckend zu verabreichen, und alle, die nicht wollen, einer Pflicht beziehungsweise der gesellschaftlichen Ächtung zu unterwerfen?

Mittlerweile ist die Antwort bekannt. Die Zuständigen in Deutschland können bis weit ins Jahr 2021 noch nicht einmal so viele Dosen des Pfizer-Biontech-Vakzins bereitstellen, dass es für alle reicht, die sich impfen lassen möchten. Der Autor kennt den Fall eines süddeutschen Unternehmers in fortgeschrittenem Alter, der sich das Mittel unbedingt spritzen lassen will und nach etlichen Telefonaten erfuhr: Sein Alter reicht nicht, sein Gesundheitszustand ist noch zu gut. Auch sein Status als Milliardär nutzte ihm vorerst nichts. Bis Ende Januar sollen in Deutschland drei bis vier Millionen Impfdosen zur Verfügung stehen – ungefähr so viele wie Israel auch, das allerdings neun Millionen Einwohner zählt und nicht 83 wie Deutschland. Von dem auch in Deutschland entwickelten Stoff verimpfte israelisches Gesundheitspersonal bis jetzt gut eine Million Dosen. Das deutsche etwa 270 000. Pro Person sind nach Herstellerangaben zwei Impfungen im Abstand von 21 Tagen nötig, um die versprochene Wirkung zu erreichen. Das bedeutet: Bei dem aktuellen Tempo und der Verfügbarkeit des Stoffs dauert es noch Wochen, bis auch nur unter den etwa 900 000 Menschen in Alten- und Pflegeheimen und im Gesundheitspersonal alle, die es wollen, das Vakzin tatsächlich erhalten. Die Jüngeren und Gesunden kommen voraussichtlich erst Ende 2021 an die Reihe. Also dann, wenn die Immunisierung (von der noch nicht bekannt ist, wie umfassend sie funktioniert, aber der Punkt sollte erwähnt werden) bei ersten Geimpften voraussichtlich schon wieder endet.

Dafür, dass es im Herstellerland selbst an dem Pfizer-Biontech-Mittel noch auf Monate mangelt, während in den USA, Israel, Singapur und anderen Ländern mit genau diesem Stoff schon einem nennenswerten Teil der Bevölkerung gespritzt wurde, tragen nur zwei Personen die politische Verantwortung: Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Erst eine Schnedderedäng-Moralkampagne über das Impfen als erste Pflicht jedes Bundesbürgers anzuzetteln, dann aber selbst Millionen Impfwillige wegen Nachschubmangels auf irgendwann zu vertrösten – nichts bringt den Zustand in Merkels Deutschland besser auf den Punkt, in dem der gerade angesagte propagandistische Dreh mittlerweile über allem steht, vor allem über der Realität. Man kann Erich Honecker vieles vorwerfen. Aber eine Bananenverzehrpflicht für alle DDR-Bürger hatte er nicht ins Spiel gebracht.

An dieser Stelle muss schnell ein Absatz über Risiken und Nebenwirkungen eingerückt werden: Der Autor ist offen für das Impfen, gegen einige Infektionskrankheiten geimpft, würde sich wohl das Mittel spritzen lassen, ist aber noch längst nicht an der Reihe; in seinem Umfeld gibt es Menschen, die sich trotz der kurzen Entwicklungszeit gegen Covid-19 impfen lassen würden, andere bewerten die ungeklärten Fragen zu Nutzen und Nebenwirkungen höher. Die Debatte darüber, ob die Stoffe von Pfizer/Biontech, Moderna, AstraZeneca, Sanofi und andere die Pandemie wie erhofft eindämmen, ist noch einmal ein eigener Strang. Hier geht es um den offenkundigen Widerspruch, in den sich eine politisch-mediale Elite verwickelt, die erst die ganze Gesellschaft dem obersten Ziel der Virusbekämpfung unterstellen will, zu der für sie auch das Impfen gehört, dann die Impfstoff-Bevorratung der EU-Bürokratie überlässt, und drittens alles tut, um deren Versagen zu vertuschen und kleinzureden.

Ursprünglich gab es durchaus die Vorstellung, dass die EU-Länder sich in eigener Verantwortung kümmern – so, wie es die USA, Israel und andere ja auch tun. Im Sommer 2020 schrieben dann die Gesundheitsminister Deutschlands, Frankreichs, Italien und der Niederlande einen Brief an die EU-Kommission, in dem es hieß:
„Wir sind uns einig, das Geschwindigkeit von entscheidender Bedeutung ist. Deswegen halten wir es für sinnvoll, dass die EU-Kommission die Führung in diesem Prozess übernimmt.“

Jens Spahn lässt zurzeit mit Hilfe von Journalisten durchblicken, das sei nicht sein Wunsch gewesen, sondern der von Merkel – und auch der anderen Regierungschefs. Vermutlich stimmt das auch. Offenbar übernahmen dann vor allem französische Beamte die Führung, die große Mengen bei dem französischen Konzern Sanofi bestellten. Insgesamt orderte die Kommission bei sechs Herstellern zwei Milliarden Dosen, beschäftigte sich aber kaum damit, wer von ihnen in der Impfstoffentwicklung wo stand. Von Biontech, das sein Mittel sehr früh durch die Tests brachte, bestellte die EU nur 200 Millionen Stück, und optierte auf weitere 100 Millionen – obwohl das Unternehmen 500 Millionen angeboten hatte. Als Ende 2020 das Biontech-Pfizer-Vakzin einsatzbereit war, stand von der Leyens Truppe also vor der Situation, dass sie zwar viel bestellt hatte, aber eben überwiegend nicht lieferbaren Stoff. Der französische Favorit Sanofi steckte noch mitten in der Arbeit. Das, was auf den Markt kam, ging nun zu hunderten Millionen in die USA, nach Israel und in andere Länder, für die EU mit ihren 450 Millionen Einwohnern blieb nur ein knappes Kontingent. Warum sie sich nicht wenigsten die weiteren 200 Millionen, die Biontech auf dem Silbertablett angeboten hatte, als Option sicherte, bleibt im Dunkeln der französischen Eigeninteressen und der bizarren Brüsseler Gedankengänge.

Auf einmal gibt es eine sparsame EU

Ein Argument, das die Spin-Doktoren von dort zurzeit in mediale Kanäle speisen, klingt so irrsinnig, dass man geneigt ist, es sofort zu glauben. Es lautet: Das Biontech-Mittel kostet zu viel, 12 Euro pro Dosis. Sanofi wäre billiger gewesen, wenn es hätte liefern können. Dringend benötigte lieferbare Dinge sind übrigens fast überall in der Welt etwas teurer als gerade nicht lieferbare.

Es handelt sich um die gleiche EU, die gerade erst eine neue Umverteilungskasse mit 750 Milliarden Euro aufmachte, angeblich, um die wirtschaftlichen Corona-Folgen in den Mitgliedsländern zu mildern. Zufällig entspricht die neue Geldpipeline ziemlich genau Emmanuel Macrons Prä-Corona-Idee eines EU-Haushalts. In diesem Milliardenpaket, an dem Deutschland einen ziemlich großen Teil trägt, wären die wenigen Euro mehr für den Biontech-Stoff ein kaum noch erkennbarer Spiegelstrich gewesen. Der Lockdown für große Teile der Wirtschaft in Deutschland, der ja bekanntlich durch das Impfen je schneller desto besser wieder aufgehoben werden soll, kostet nach vorsichtigen Schätzungen allein an direkten staatlichen Geldern alle vier Wochen 10 Milliarden Euro – das allerdings als Untergrenze. Viele kleine Unternehmen kostet er die Existenz.

Aber ganz abgesehen davon: Alle bisherigen Corona-Maßnahmen wurden damit begründet, es ginge darum, Menschenleben zu retten. Dieses Ziel könne und dürfe nicht mit materiellen Gütern aufgewogen werden. Wie sich jetzt herausstellt, sind Güter die höchsten Güter nicht, das Leben aber irgendwie auch nicht. Sondern, darum wird es in diesem Text noch gehen, die Verhinderung des so genannten Impfnationalismus und die strikte Bewahrung des EU-Gleichschritts unter besonderer Beachtung der Sparsamkeit an einer völlig absurden Stelle. Ganz nebenbei, um noch eine Vermutung (heute: Verschwörungstheorie) zu liefern: Wäre der Impfstoff von Sanofi etwas teurer als der von Biontech-Pfizer, dann hätte jeder, der in Brüssel mit der Bestellung befasst war, das Kostenargument empört zurückgewiesen.

Erinnern Sie sich noch an die Affäre CureVac? Im März 2020 schrieben deutsche Medien reihenweise, die USA wolle die deutsche Impfstoff-Firma kaufen und das Vakzin „nur für Amerikaner“ sichern. Belege dafür gab es keine, nicht einmal vage. Das Unternehmen selbst dementierte ein Übernahmeangebot.

Das Gerücht nährte zum einen der Mehrheitsaktionär Dietmar Hopp, zum anderen auch Horst Seehofer, der am 15. März auf einer Pressekonferenz in München sagte, das Gerücht, die USA wolle sich das Unternehmen greifen, habe er „von Kabinettskollegen“ gehört. Die Falschmeldung lief trotz des Unternehmensdementis durch die Nachrichtenkanäle. Kommentatoren feierten Hopp als Retter des künftigen deutschen Impfstoffs. Später gab es dann noch eine Beteiligung des Bundes an CureVac, passenderweise kurz vor dessen Börsengang. Jetzt geschieht in groben Zügen das, was damals kurz als Ente herumflatterte: Ein überwiegend in Deutschland entwickelter Impfstoff, zwar nicht von CureVac, aber von Biontech, kommt in den USA schneller und in deutlich größeren Mengen zum Einsatz als in Deutschland und Europa. Und zwar nicht durch die Ränke des Orange Man, sondern das grandiose Missmanagement von Merkel und den EU-Planungsbevollmächtigten.

In der geschlossenen Twitterkreis-Anstalt

Unter diesen Umständen müssen jetzt Mitglieder des Kommentariats und Politiker alle Kunst aufbieten, um in fliegender Hast das passende Haben-trotzdem-alles-richtig-gemacht-Narrativ zu drechseln. Immerhin geht das schneller als eine Impfkampagne. „Nicht alles ist optimal gelaufen, aber die Alternativen waren schlechter“, unterrichtet der Brüsseler ZDF-Korrespondent Stefan Leifert die Öffentlichkeit.

Leifert findet, die EU habe „eher zu viele“ Impfdosen bestellt. Gut, überwiegend von Unternehmen, die keinen Stoff liefern können. Aber bestellt ist bestellt. Das Vakzin des britisch-schwedischen Herstellers AstraZeneca ist auch schon einsatzbereit, genutzt wird es allerdings in Großbritannien, nicht in der EU. Dort gab es bis jetzt keine Zulassung. Bei seiner weiteren Argumentation wirkt der ZDF-Mann in seiner Rolle als Aushilfssprecher von EU und Kanzleramt wie ein Mann, der ein Bild gerade rücken will, und dabei das ganze Zimmer demoliert.

„Hätte eine größere Bestellung zu schnelleren Impfungen geführt?“, fragt er faktencheckerisch, um festzustellen: „Nein. Der Flaschenhals ist nicht die niedrige Bestellmenge, sondern die niedrige Produktionskapazität der Hersteller.“ Eben deshalb kommt es ja auf den Zeitpunkt der Bestellung an. Wenn, wie Leifert meldet, Jens Spahn jetzt mit Biontech über eine größere Liefermenge verhandelt, dann kann sich jeder ausrechnen, wann die Lieferung tatsächlich stattfindet. Und warum geht in anderen Ländern das Impfen schneller voran? Auch das kann der Bescheidwissenschaftler des ZDF erklären: Die „Organisation von Impfungen ganzer Bevölkerungen in kleinen Ländern wie Israel (9 Millionen Einwohner) leichter als in der EU (450 Millionen Einwohner).“ Pardauz. Nun hat die USA mit 330 Millionen Einwohnern gar nicht so viel weniger als die EU, und für die Impfverabreichung selbst sind lokale Behörden und Impfzentren zuständig, nicht die EU. Aber grundsätzlich ist die Erkenntnis nicht falsch, dass kleinere Einheiten oft schneller handeln können als zentral gesteuerte große. Und exakt das spricht eben nicht dafür, den wesentlichen Teil des Managements – die Beschaffung – in die Hand einer Plankommission zu legen, die den Raum zwischen Lappland und Palermo administrieren will. Ohne die Weisheit dieser Behörde, so Leifert, hätte etwas viel Schlimmeres gedroht als Impfstoffmangel: nämlich ein „EU-Impf-Flickenteppich“ und ein „unwürdiger Kampf um Impfstoff“. Stattdessen herrscht jetzt eine würdige Mangelverwaltung.

Anne Will versah Leiferts Tweets mit einem Klatsch-Emoji (weshalb an dieser Stelle der Fachbegriff Klatschmedien eingeführt werden soll).

Birthe Sönnichsen, Redakteurin im ARD-Hauptstadtstudio, empfahl Leiferts Werk mit dem Kommentar: „Bitte lesen. Bitte abregen. Bitte froh sein, dass sich Deutschland für den europäischen Weg entschieden hat.“ Bitte froh sein – mit dieser Aufforderung könnte eigentlich auch jede Tagesschau anfangen. Ach ja: Sönnichsen fordert auch dazu auf: „Bitte nicht mehr blame game spielen.“ Das macht nämlich nur Spaß, wenn man Trump falschbeschuldigt, eine deutsche Impffirma wegzukaufen, der AfD beziehungsweise Sachsen die Verantwortung für steigende Infektionszahlen zuschiebt oder Winterausflügler anklagen kann. Aber keinesfalls, wenn es um die Verantwortung der Regierungschefin geht.

Die Bescheinigung des ZDF-Manns Leifert, die EU und deutsche Politiker hätten alles richtig gemacht, lobt wiederum ein deutscher Politiker, nämlich Armin Laschet:

— Armin Laschet (@ArminLaschet) January 2, 2021

In seinem Tweet tut der Politiker, der demnächst CDU-Vorsitzender werden möchte, erstens so, als hätte er selbst ein bisschen an dem Impfstoff mitgeforscht, und zweitens, als würde irgendjemand Biontech für die Entwicklung des Mittels kritisieren und nicht die EU für das Bestellmanagement. In der Kunst, schon die Ausgangslage der Diskussion mutwillig zu verdrehen, schließt er mittlerweile zur Kanzlerin auf.

Warum unterhalten öffentlich-rechtliche Sender überhaupt ihre aufwendigen Sendeanstalten? Es genügt doch offensichtlich, dass ein ZDF-Mitarbeiter die Obrigkeit per Twitter lobt, zwei ARD-Frauen dessen Tweet empfehlen und ein Obrigkeitsvertreter wiederum den ZDF-Mann belobigt. In dieser geschlossenen Zwitscherkreisanstalt stören die sonstigen Zuschauer eigentlich nur. Müssen ARD und ZDF nicht sowieso sparen?

Bisher hatten die meisten Meinungsschaffenden das vermaledeite blame game in Richtung Regierungsriege schon vorbildlich vermieden. Etwa bei der Frage, warum den gesamten Sommer kaum etwas passierte, um Alten- und Pflegeheime zu schützen, die Einrichtungen, auf die jetzt die Hälfte bis zu zwei Drittel der Toten mit und an Corona entfallen. Oder warum die Grenze zu Tschechien bis zum 16. November 2020 offen blieb, obwohl dort die höchsten Infektionsraten in Europa gemessen wurden. An allen Altersheimen sollten jetzt Transparente angebracht werden: Bitte froh sein. Hätte noch schlimmer kommen können.

Was die Impfung und ihre Wirksamkeit betriff – da gibt es eine schwache Stelle. Wer darüber etwas erfahren will, ist bei ehrenamtlichen Regierungssprechern und ARD-Klatschemojiverteilern schlecht aufgehoben. Erstens: Was trägt die Impfung, wenn sie in Gang kommt, zur Eindämmung der Covid-19-Infektionen bei?
„Eine Impfung gegen COVID-19 trägt sowohl zum individuellen Schutz als auch zur Eindämmung der Pandemie bei“, erklärt das RKI auf seiner Website.

Interessanterweise beantwortet Biontech-Chef Ugur Sahin die entsprechende Frage des Spiegel, ob bei Geimpften nicht nur der Ausbruch der Krankheit unterdrückt wird, sondern auch die Weitergabe der Infektion: Das wisse er nicht. Die Daten dazu würden ihm Ende Januar vorliegen. Möglicherweise stellt sich also heraus, dass die Impfung den 7-Tages-Inzidenzwert von 50 gar nicht beeinflusst, den Merkel und die Ministerpräsidenten zum Fixpunkt aller Maßnahmen gemacht haben.

Und zweitens laden Politiker und Medien die Impfkampagne derzeit mit einer Erwartung auf, die sie selbst dann nicht erfüllen könnte, wenn sie besser liefe. Eine 7-Tages-Inzidenz von 50 bedeutet eine Positiven-Testrate von 0,05 Prozent der Bevölkerung. Selbst bei einer Inzidenz von 500 und den Infizierten der Vorwoche liegt die Zahl der tatsächlichen Virusträger fast nirgends über einem Prozent. Für ganz Deutschland lautet die Zahl des RKI vom 5. Januar: 327 200 aktive Covid-Fälle. Von den positiv Getesteten wiederum zeigen 80 Prozent keine oder nur leichte Symptome. Eine Impfung mit einem Vakzin einer Wirksamkeit von 95 Prozent (die 95 Prozent beziehen sich auf die Placebo-Gruppe in den Tests, sie bedeuten nicht, dass 95 von 100 Geimpften gegen die Erkrankung geschützt sind, sondern, dass die Impfung die Erkrankungsrate im Vergleich zur Kontrollgruppe um 95 Prozent senkt) kann die Virenverbreitung im günstigen Fall bremsen – aber nicht schlagartig beenden. Der Unterschied zwischen einer durchgeimpften und einer ungeimpften Bevölkerung ist also geringer als angenommen. Jedenfalls dann, wenn alles um den Inzidenzwert kreisen soll. Inzwischen gestehen viele Politiker in Berlin im Vieraugengespräch ein, dass der Wert von 50 unrealistisch niedrig liegt.

Möglicherweise hofften sie, die Impfkampagne als Exitstrategie zu nutzen, um damit erst von der Zahl 50 weg- und dann aus dem Lockdown herauszukommen. Jetzt funktioniert auch dieser Weg wegen des Impfstoffmangels und der langsamen Impfung nicht, jedenfalls nicht so bald.

Darin liegt der entscheidende Punkt: Egal, wie jemand privat zur Impfung steht – die Zahl der Dosen, die zur Verfügung stehen, bestimmt indirekt, wie es mit der Wirtschaft des gesamten Landes weitergeht. Unter diesen Umständen kommt es nicht ganz überraschend, dass die SPD in Berlin gern aus der Mithaftung herausmöchte. Dass die Kanzlerin der SPD wiederum droht, sie könnte über den Partner auspacken.

Und dass die hilfreichen Mediengeister Nerven zeigen.

In Deutschland sind nicht nur die Impfdosen knapp, sondern inzwischen auch die Narrative.

Zum Glück gibt es noch genügend Leute, die den Laden in Gang halten, Steuern und Demokratieabgabe zahlen und sogar noch Leuten zuhören, die ihre vornehmste Aufgabe darin sehen, sich gegenseitig zu beklatschen.

Bitte froh sein. Das könnte auch noch anders kommen.

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