Immer wieder ist zu hören, dass die Politik im März 2020 “so wenig wusste” und die Gefahrenlage kaum einschätzen konnte. Deswegen sei es richtig gewesen, das öffentliche Leben herunterzufahren. Dieser Ansicht widerspricht nun ein kaum wahrgenommenes Urteil des Amtsgerichts Weimar.
Hätte der Verordnungsgeber die verfügbaren Erkenntnisse ermittelt und sachgerecht ausgewertet, dann wäre “der Schluss unabweisbar [gewesen], dass eine Überlastung des Gesundheitssystems aktuell und in nächster Zukunft nicht drohte und somit keine weiteren Maßnahmen ergriffen werden mussten, um eine solche Überlastung zu verhindern”, heißt es in dem Urteil mit dem Aktenzeichen 583 Js 200030/21. Die Anordnung eines Kontaktverbots, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, “kann daher nicht als im Rahmen der Einschätzungsprärogative des Verordnungsgebers (noch) vertretbare Entscheidung bewertet werden”, heißt es weiter.
Das Urteil dürfte wohl eines von wenigen – wenn nicht das einzige – sein, das sich dermaßen intensiv mit den Entscheidungsgrundlagen befasst, die zum Lockdown führten. Der Richter, der bereits im Januar mit einer Entscheidung für Aufsehen sorgte (TE berichtete), bespricht auf den 32 Seiten viele wissenschaftliche Daten, die bereits vor dem ersten Lockdown am 23. März massive Zweifel hätten aufwerfen und der Politik bekannt sein können.
Etwa heißt es in dem Urteil: “Es gab empirische Daten aus den etablierten Surveillance-Systemen des Robert-Koch-Instituts, wonach […] die Zahl der Influenza-ähnlichen Erkrankungen (ILI-Rate), zu denen auch COVID-19 zählt, in der 12. Kalenderwoche jeweils gegenüber der Vorwoche gesunken war und der Anteil von SARS-CoV-2 in den Sentinelproben der Arbeitsgemeinschaft Influenza des RKI in der 12. Kalenderwoche bei nur 1,6 Prozent lag.” Auch Daten aus den täglichen Lageberichten des RKI hätten “sehr stark” dafür gesprochen, dass die Zahl der Neuerkrankungen bereits seit dem 20. März 2020 im Sinken begriffen war.
Die Rechtfertigung, dass die regierenden Politiker unter enormem Mediendruck standen, lässt der Richter nicht gelten. “Vom Verordnungsgeber muss insoweit erwartet werden, dass er auch hohem medialem Druck standhält und auch angesichts dezidierter Äußerungen von Experten nicht auf die eigene, kritische und vernunftgeleitete Prüfung der verfügbaren Erkenntnisquellen verzichtet.”
Auch die Bilder aus Bergamo seien keine Entschuldigung. Gerade in Krisensituationen müsse der Verordnungsgeber besonnen und rational handeln.
Das Verhalten des RKI kann das Urteil nicht nachvollziehen. Die Behörde habe im März 2020 gewusst, dass die Zahl der Neuinfektionen auch wegen der zunehmenden Testungen steige. Es sei “vollkommen unerklärlich”, warum Wieler am 18. März vor einem exponentiellen Anstieg gewarnt habe. Schließlich hätten damals noch keine Daten zu der Gesamtzahl der Tests vorgelegen. Zwei Tage später habe der RKI-Chef gar von einer “Krise” gesprochen, deren Ausmaße er sich nie hätte vorstellen können. “Diese Äußerungen hatten keine empirische Grundlage”, schreibt der Richter. Die Bundeskanzlerin und die Länderchefs hätten wohl kaum den Lockdown verhängt, wenn sich Wieler zuvor nicht derart geäußert hätte.
Der Richter zweifelt deshalb an der Zuverlässigkeit des RKI. “Da diese durch empirische Daten nicht gedeckten Äußerungen Wielers auch in der Folge vom RKI nie korrigiert wurden, stellen sich bereits an dieser Stelle Fragen nach der Verlässlichkeit der fortlaufenden Risikoeinschätzungen des RKI. Wenn von den Verwaltungs- und Verfassungsgerichten wiederholt in Verfahren betreffend Corona-Verordnungen festgestellt wurde, es bestünden keine Anhaltspunkte, dass die Einschätzungen des RKI fehlerhaft seien, weshalb auch nicht zu beanstanden sei, dass die Verordnungsgeber sich auf die Risikoeinschätzung des Robert Koch-Instituts stützten, ist daher darauf hinzuweisen, dass der RKI-Präsident schon am 18. und 20.03.2020 mit seinen Äußerungen diese Anhaltspunkte geliefert hat.”
Auch die Modell-Untersuchungen, die mit Szenarien von bis zu mehreren Hunderttausend Toten in Deutschland rechneten, seien zumindest fragwürdig gewesen. Zwar könne man weder vom Gericht noch vom Verordnungsgeber erwarten, dass er die Qualität der Modellierungen prüfe. Aber gäbe etwa eine Studie keine Wahrscheinlichkeiten für die verschieden schweren Szenarien an. Umso erstaunlicher seien die Schlussfolgerungen, die “maximale Anstrengungen” forderten, um die Ausbreitung zu verlangsamen. “Diese Schlussfolgerungen werden von den Ergebnissen der Studie nicht getragen”, schreibt der Richter. Das alles hätten die Regierungspolitiker wissen können und müssen, wenn sie die verfügbaren Erkenntnisquellen sorgfältig ermittelt und ausgewertet hätten, unterstreicht der Richter und schreibt: “Der Frage, ob ein allgemeines Kontaktverbot ein geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel zur Verfolgung des in der amtlichen Begründung angegebenen Zieles wäre, hätte sich der Verordnungsgeber danach gar nicht erst zuwenden müssen.”
Das Urteil fiel bereits am 15. März 2021. In dem Bußgeldverfahren sprach der Amtsrichter einen Mann frei, der sich am 4. April 2020 mit seiner Lebensgefährtin, seinem Sohn und seinem Stiefsohn in einem Garten getroffen hatte. Die vier Personen wohnten in vier verschiedenen Haushalten, heißt es im Urteil.