„Das ist die harte Lektion der Flüchtlingstragödie: Herz und Verstand lassen sich nicht mehr in Einklang bringen.“ So das Fazit von Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung. An der Grenze zwischen Österreich und Ungarn spitzt sich die Lage nach Aufnahme von Grenzkontrollen durch Deutschland zu. 20.000 Flüchtlinge und Zuwanderer aus anderen Gründen stehen an Österreichs Grenze. Ungarn macht heute den Zaun zu Serbien dicht. Von Ausweichrouten über Kroatien, Slowenien und Slowakei geht die Rede.
Die österreichische Polizei warnt vor Eskalation. Die deutsche Kursänderung pflanzt sich als Domino-Effekt die Balkan-Route entlang bis Griechenland fort – so wie sich die Merkelsche Botschaft, wir schicken keine syrischen Flüchtlinge zurück, vor zwei Wochen von den türkischen und afrikanischen Mittelmeerküsten nach Norden verbreitete. Selbst wenn die neue deutsche Abschreckung bei noch nicht Aufgebrochenen in den Herkunftsländern wirkt, halte ich es nicht für möglich, die 20.000 an der Grenze zu Österreich, die 60.000, welche aus dem ungarischen Lager Röszke auch schon unterwegs sein sollen, und alle anderen auf dem Weg aus Griechenland aufzuhalten. Die „Hotspots“, in denen sie nicht nur registriert, sondern wo auch ihre Verfahren abgeschlossen werden sollen, gibt es nicht nur noch gar nicht. Die EU-Innenminister streiten heute darüber, ob und wann es sie geben soll.
Da ich nicht glaube, dass den Handelnden jeglicher Verstand fehlt, schließe ich daraus, dass die Grenzkontrollen das Druckmittel sind, mit dem die Widerstrebenden in der EU – und wohl auch in den eigenen Regierungen und Parlamenten zuhause – gefügig gemacht werden sollen. Ob das der politischen Willensbildung in der Demokratie angemessen ist, verdient eine eigene gründliche Debatte. Wundern dürfen wir uns nicht, wo beide Seiten gleichermaßen für politischen Zwang als Mittel sind: Jene, die sagen, kommt alle, die ihr mühselig und beladen seid, und jene, die sagen, bleibt, wo der Pfeffer wächst. Mir geht es hier darum, dass viel zu viele Politiker wie Kritiker nicht zu sehen scheinen oder nicht sehen wollen, mit welchen Zeitbomben sie hantieren.
Die unmittelbar sichtbare Gefahr: Ab einer Größenordnung X kann weder Polizei noch Militär die Ankommenden aufhalten, ohne Gewalt in einem Ausmaß anzuwenden, das wir in unseren Breiten für überwunden und nicht akzeptabel halten.
Unmittelbar noch unsichtbare Gefahren
In Migranten-Unterkünften kommt es zu Vergewaltigungen von Frauen und Kindern durch Migranten und zu Zwangsprostitution. Nach der Gießener Allgemeinen berichtete auch die Huffington Post: Ein gemeinsames Schreiben an die frauenpolitischen Sprecherinnen der Fraktionen des hessischen Landtags von Paritätische, Pro Familia, Hessischer Frauenrat und Landesarbeitsgemeinschaft hessischer Frauenbüros sagt, es handle sich um keine Einzelfälle und verlangt getrennte Unterbringung und andere Schutzmaßnahmen gegen diejenigen Männer, „die Frauen ohnehin eine untergeordnete Rolle zuweisen und allein reisende Frauen als ‚Freiwild‘ behandeln.“
Wir müssen leider davon ausgehen, dass die Lage in anderen Migranten-Unterkünften und Lagern nicht anders aussieht. Für die Konzentration von Migranten in „Hotspots“ in Griechenland und Italien mit vermutlich noch viel mehr Leuten an einem einzigen Ort müssen die EU-Verantwortlichen von vornherein so umsichtig planen, dass solche Zustände nicht eintreten. Sie müssen auch mit organisierter Kriminalität seitens der Menschenhändler und ihrer Netze rechnen, die nichts scheuen werden, um die Migranten für alle Zweige ihrer kriminellen Industrie zu istrumentalisieren: Drogenschmuggel, Waffenhandel, Prostitution, professioneller Diebstahl und Raub – die Palette ist sicher noch viel breiter. Die EU braucht nicht nur ein einheitliches Asylrecht und eine einheitliche Zuwanderungspolitik, sie braucht auch eine einheitliche Praxis. Dafür wird sehr viel Personal benötigt, um das alles und noch viel mehr sicherzustellen – Personal, das wir noch nicht haben, das erst gefunden und ausgebildet werden muss.
Das Tabu Flüchtlinge, sagen Polizisten, Mitarbeiter in Sozialbehörden und Journalisten, lässt viele wegschauen und nicht berichten, wenn es zu Übergriffen von Migranten gegen Migranten, aber auch von Migranten gegen Ansässige und umgekehrt kommt: Einerseits, um nicht in den Geruch der Fremdenfeindlichkeit zu kommen, und andererseits, um sich keinen Repressalien von Zuwanderungsgegnern auszusetzen. Im Zusammenhang mit den Berichten über das Schreiben der vier Verbände fällt auf, dass von einer Strafverfolgung der Täter keine Rede ist. Der Landesfrauenrat Hessen hat das gemeinsame Schreiben ursprünglich im Netz veröffentlicht, dann aber „aufgrund der mißbräuchlichen Verwendung“ entfernt.
Ungenannte gesellschaftliche Konfliktfelder
Über Ausschreitungen von Migranten gegen Homosexuelle und gegen Frauen in Deutschland, die sich nicht kleiden und benehmen wie in den Herkunftsländern von Migranten, berichten Beamte, Journalisten und Polizisten untereinander, aber nicht öffentlich und in keinen amtlichen Protokollen. Anzeigen werden nur selten erstattet.
Es ist leider nur eine Frage der Zeit, bis Konflikte zwischen den verschiedenen einheimischen und zugewanderten Minderheiten und Lebensstilen nicht nur zunehmen, sondern auch zum öffentlichen Schlagabtausch führen – und zum Gegenstand des Streites in der Politik und zwischen den Parteien, wenn nicht zwischen den Parteien, die es schon gibt, dann mit neuen, die entstehen. Die absehbaren Wahlerfolge der Schwedendemokraten, der dänischen Volkspartei, des Front National, der FPÖ, von UKIP und ihrer Pendants in den anderen EU-Ländern werden an Deutschlands Parteienlandschaft auf Dauer nicht vorübergehen.
Äußerst schwierig wird die heraufkommende neue Konfliktlage für alle Teile unseres politischen Spektrums. Die sich selbst als politisch links verstehen, werden Wege suchen müssen, wie sie mit Situationen umgehen, wenn sich die verschiedenen Minderheiten und Gruppen, denen gerade sie sich besonders verpflichtet fühlen, gegeneinander wenden – mit oft unvereinbaren Positionen. Und jene, die sich selbst als Mitte und/oder Konservative verstehen, werden es noch schwerer haben, sich gegen die abzugrenzen, die „Deutschland den Deutschen“ skandieren, weil sie nicht in der Gegenwart angekommen sind.
Von Hosiannah zu Kreuziget ihn vergeht oft weniger Zeit als in der biblischen Geschichte. Bevor die Stimmung in Deutschland kippt, müssen die Verantwortlichen vorausschauend und klug handeln statt Stimmungen nachzulaufen. Mit Stimmungen ist kein klarer Kurs zu setzen. Wie wir in den letzten zwei Wochen vom GO der Kanzlerin zum STOP des Innenministers demonstriert bekamen.