Stimmen aus dem wirklichen Leben einzuspielen, ist eine gute Methode, um Mitglieder der Parallelgesellschaft Politik, Industrie & Co. zu erden. Auch gut, dass Stimmen und Gesichter dabei waren, die sonst im Dunkeln bleiben. Lenkt Moderator Frank Plasberg aber wie gestern mit einer Bürgerstimme von der anderen ab, bleiben die wirklichen Fragen ungestellt und kommt keine Diskussion unter den Teilnehmern der Runde zustande. Das war weder hart noch fair.
Vertriebene kamen in ein Land im Wiederaufbau
Die junge Frau erinnert an die wenig freundliche Aufnahme der Vertriebenen nach 1945: Wo bleibt der Blick auf zwei gravierende Unterschiede?
- Die Vertriebenen kamen nicht ins Wirtschaftswunderland, sondern mitten in den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes. In diesem Wiederaufbau spielten sie eine wichtige Rolle, eine gute Basis für Integration. Die heutigen Migranten finden eine Wohlstandsgesellschaft vor: Die meisten von ihnen stammen nicht aus den sozial schwächsten Teilen ihrer Heimatgesellschaften, werden sich aber – zumindest in der ersten Generation – in den sozial schwächsten Teilen der deutschen Gesellschaft wiederfinden: In Verteilungskämpfen mit denen, die schon da waren, um ihre materielle Existenz kämpfen und noch mehr um ihren ideellen Platz in einer Gesellschaft, die von denen im Wohlstand beherrscht wird – solchen, die in den Talkshows sitzen, moderieren und applaudieren.
- Die Vertriebenen mussten ihre alte Heimat verlassen. Sie konnten nicht die Männer vorausschicken, um Frauen und Kinder später nachzuholen. Merkmal der Flucht ist, dass sie jetzt und gleich sein muss – dass man niemanden zurücklassen kann und darf. Dieses Merkmal trifft auf sehr wenige unter den hunderttausenden Migranten nach Europa von heute zu.
Wo bleiben die zwingenden Nachfragen? Kann es sich um Verfolgung und Bedrohung handeln, wenn der schwächere Teil der Familie in der Heimat leben bleiben kann – selbst unter Umständen, die unseren Maßstäben nicht gerecht werden?
Klassische Einwanderung
Der junge Mann aus Ghana, den eine deutsche Familie aufgenommen, in die deutsche Sprache eingeführt und ihm eine Lehrstelle besorgt hat, der aber von einer seelenlosen Bürokratie in die Migranten-Unterkunft zurückgezwungen wird: Wo bleiben Fragen, die sich aufdrängen?
- Der junge Ghanaer erzählt, warum er sich aus einem vergleichsweise friedlichen Land aufgemacht hat. Sein ältester Bruder tut sich schon schwer beim Unterhalt für die schwächeren Familienmitglieder. Das ist klassische Auswanderung: Aus dem damals noch agrarischen Deutschland wanderten die überzähligen Söhne der Bauern nach Amerika aus, weil nur auf Erstgeborene eine wirtschaftliche Zukunft wartete. Unser Ghanaer ist ein Einwanderer. Um das eindeutig zu erkennen, braucht es kein Asylverfahren.
- Der junge Mann ist von einer deutschen Familie sozusagen kooptiert worden, er kann eine Lehre beginnen. Seine Integrationschancen sind gut. Offene Lehrstellen gibt es weit mehr als Bewerber. Das Asylverfahren als einziger Eingang nach Deutschland wird zur Falle.
Wo ist die Flexibilität, von der die Kanzlerin spricht?
Jene Behörde, die Flexibilität, der Kanzlerin neue deutsche Tugend, nicht zuletzt verwirklichen soll, verbietet einem Migranten zu arbeiten, weil die Bäckerei nur den Mindestlohn statt des höheren ortsüblichen Entgelts zahlt.
- Betriebsratschef Uwe Hück von Porsche fragt, warum die Bäckerei nicht den ortsüblichen Lohn, also den Marktlohn zahlt. Einverstanden. (Obwohl Hück fairerweise darauf hätte hinweisen können, dass die deutsche Industrie den Arbeitskräfte-Nachschub durch Migranten nicht zuletzt der Hoffnungen auf Lohnsenkungen wegen begrüßt.)
- Eine flexible Behörde würde den Arbeitsvertrag des Migranten zum Mindestlohn genehmigen – und im zweiten Schritt, den Arbeitgeber dazu bringen, den ortsüblichen Lohn zu zahlen. Das wäre neue deutsche Flexibilität.
Flexibilität als Zwischenschritt ist gut, die Neuausrichtung der staatlichen Verwaltung auf den Dienst am Bürger ist besser: Heute ist der Bürger für die Vorschriften und ihre Verwalter da. Morgen sollte es umgekehrt sein – Chancen der Krise an jeder Ecke.
Dass der junge Mann aus Ghana in der christlichen deutschen Familie deutsche Worte mit einer Lernhilfe erfährt, die Merkels Gesicht trägt, erzählt eine Geschichte, die jeder selbst weiterspinnen kann. Wie das Gesicht der deutschen Gesellschaft sich verändert, kann noch niemand zuverlässig vorhersagen. Aber dass es schon in zehn Jahren ein anderes sein wird als heute, scheint mir unabweisbar. Ob sich dann noch jemand an Merkels „freundliches Gesicht zeigen“ als Bedingung für „ihr Land“ erinnern wird?