Alles andere wäre Heuchelei: Kohl war nicht mein Idol. Er ließ mich feuern, weil ich seine Politik kritisch begleitete. Ich folgte ihm in jenen historischen Jahren nahezu auf Schritt und Tritt. Am Tag, als die Mauer fiel in Warschau, und er sich sofort laut Gedanken darüber machte, ob man ihm einst Denkmäler errichten würde. In Moskau im Frühjahr darauf, als Gorbatschow grünes Licht zum Ende der DDR gab und Kohl in blauer Strickjacke auf dem Rückflug Krim-Sekt kredenzen ließ: „Auf Deutschland“. An Jausentischen rund um St. Gilgen. Wo er mich im Sommer 1990 morgens um sechs persönlich aus dem Bett klingelte, weil er gehört hatte, De Maiziere, der letzte Ministerpräsident der DDR, wolle die Volkskammer den sofortigen Beitritt zur BRD beschließen lassen; er wollte sofort im Fernsehen den Unsinn beenden.
Seine größte Leistung waren die zehn Punkte Ende November 1989. Die Vereinigung wurde als Ziel definiert, der Prozess sollte jedoch über „konföderative Strukturen“ über Jahre gestreckt, das Wünschbare solide vorbereitet werden. Ich bleibe berechenbar, lautete die Botschaft an die Verbündeten und an Moskau. An die Westdeutschen: Ich handle in eurem Interesse. An die Ostdeutschen: Wenn euch einer heimholt, dann ich. Um seinen eigenen Plan hat er sich spätestens im Wahlkampf um die DDR-Volkskammer nicht mehr geschert und die Währungsunion zum absurden Kurs von 1:1 gegen den Rat fast aller Ökonomen versprochen.
Das Modell machte später auch dank Kohl Schule auf EU-Ebene. Dem kleineren Desaster folgte das größere, das bis heute Europas Einheit gefährdet. Der große Europäer hat Europa nicht bloß gestärkt. Die Verkörperung der Bonner Republik hat die Bonner Republik beendet. Dass er sechzehn Jahre lang Kanzler bleiben konnte, ist nicht sein Verdienst. Nach acht Jahren hatte er seine Zukunft hinter sich, als der Mantel der Geschichte vorbei rauschte, Kohl zupackte und ihn zu zwei weiteren Legislaturperioden trug. Dann war auch seine Partei am Ende. So sehr, dass Angela Merkel als Retterin erschien. Auch sie ist eine Folge der Kohlschen Regentschaft. Für sie war er ein persönlicher Glücksfall. „Ich verneige mich vor seinem Angedenken“: Dieser absurde Schlusssatz ihres Nachrufs enthält vermutlich unbedacht eine tiefere Wahrheit. Sie verneigt sich nicht vor Helmut Kohl, sondern vor seiner historischen Wirkung. Die allein bleibt ihr in Erinnerung.
Man wandert nicht als Charakterriese in die Geschichtsbücher. Auch nicht der Riese Kohl. Er zahlte seinen Preis. Genauer: Andere zahlen ihn.