24 Prozent der Thüringer Bevölkerung sind „rechtsextrem eingestellt“. 45 Prozent offenbaren ethnozentrische (also nationalistische) Einstellungen, 12 Prozent eine „neo-nationalsozialistische Ideologie“. Diese Behauptung stellt der im Dezember 2019 veröffentlichte Thüringen-Monitor „Politische Kultur im Freistaat Thüringen“ auf, eine Studie, die im Auftrag der Erfurter Staatskanzlei von Forschern der Friedrich-Schiller-Universität Jena/FSU unter Federführung von Prof. Marion Reiser erarbeitet wurde. Der seit 2000 jährlich erstellte Monitor bescheinigt den Mitbürgern wortstark eine „weitere Enttabuisierung menschenfeindlicher und rassistischer Einstellungen“. Grundgesamtheit der Umfrage vom Sommer 2019 sind wahlberechtigte Thüringer. Die Stichprobe umfasst 1.100 Personen. Zwischen der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund und mit wird hier nicht unterschieden.
Wo „rechts“ draufsteht, kann auch „links“ drin sein
Leider erhebt die Studie die parteipolitische Präferenz der Befragten nicht mit. Dies hat zur Folge, dass alle als extrem eingeordneten Haltungen explizit, zumindest implizit bei Einwohnern mit „rechter“ Gesinnung verortet werden. Spätestens die Untersuchung „Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft“ der Universität Leipzig, die politische Präferenzen der Befragten einbezog, hat jedoch eindrucksvoll belegt, dass sich Elemente des „autoritären Syndroms“ und kritische Haltungen gegenüber Zuwanderern – die eher als „typisch“ für rechte Wähler gelten – sehr wohl auch bei sich nicht rechts verortenden Personen finden: 44 Prozent der Unions-, 39 Prozent der SPD-, ein Drittel der FDP- und Linken- sowie ein Viertel der Grünen-Sympathisanten fanden, Muslimen solle „die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“.
Charme und Gefahren standarisierter Umfragen
Immer mehr Umfragen zu Rechtsextremismus, Autoritarismus und politischer Kultur bzw. Bundesländer-Monitore (Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg, Berlin) setzen als Konsens der Forschergemeinschaft zum Teil die gleichen oder zumindest sich ähnelnde Statements ein bzw. bauen auf dem berühmten Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ auf. Die bundesweite Verständigung auf Standardmethoden bzw. -fragestellungen hat den Charme, eine gewisse räumliche und zeitliche Vergleichbarkeit sicherzustellen, ignoriert aber, dass es von außen immer wieder deutliche Kritik am Forschungskonzept gegeben hat (siehe Klaus Schroeder oder Jasper von Altenbockum oder Alexander Wallasch).
Potenziell unpassenden oder zumindest verbesserungsbedürftigen Statements wird auf diese Weise in der Sozialforscher-Community ein ewiges Leben eingehaucht. Gleichzeitig sind aktuelle Politikbereiche unterbelichtet, so konkrete Facetten der Zuwanderung, Umweltbewusstsein, Ideen von Verstaatlichung. Dies bleibt nicht ohne Folgen, weil die wissenschaftlichen Analysen des Meinungsklimas ihrerseits den politischen Diskurs beeinflussen und sehr gern zitiert werden.
Trotz mancher Überschneidungen setzen die einzelnen Bundesländer-Monitore durchaus individuelle thematische Akzente, sind mehr oder weniger ausführlich, fragen dieselben Phänomene teilweise mit differierenden Formulierungen sowie einer jeweils unterschiedlichen Anzahl von Items ab und beziehen weitere Phänomene ein. Unter anderem thematisiert der Berlin-Monitor 2019 „Anti-Schwarzen Rassismus“ („Schwarze Menschen können in Deutschland nicht zurechtkommen“/„Es gibt eine natürliche Hierarchie zwischen Schwarzen und Weißen Menschen“) sowie „subjektive Erfahrungen von Diskriminierungen“ zum Beispiel im Hinblick auf „einen beschränkten Zugang zu Ressourcen oder die Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit“. Der Monitor von Sachsen-Anhalt identifiziert auch ein „betont linkes“ Einstellungsspektrum, das „rechten und menschenfeindlichen Haltungen“ gegenübergestellt wird. Zum Betont-Linkssein gehören demnach Antikapitalismus, „Demokratiefeindlichkeit“ und die Idee der „Zuwanderung für Alle“.
Jargon rechtsextremer Parteien und Verallgemeinerungen
Ein Teil der – wohl bemerkt von Forschern formulierten – Standard-Statements in der Thüringer Studie ist abstrakt und mit Absicht ruppig. Die Vokabel „überfremdet“ wurde „dem Propaganda-Jargon rechtsextremer Parteien entnommen“. Gefragt wird, ob „meine Wohnumgebung/Thü¬ringen/die Bundesrepublik durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet ist“. Dem stimmen bezogen auf die Bundesrepublik 56 Prozent der Thüringer zu, bezogen auf die Wohnumgebung 11 Prozent. Gearbeitet wird mit Signalbegriffe wie „Ausnutzung des Sozialstaats“, „Ausländer“. Das Wort „Migrant“ wird zum Teil, unpräzise, als Synonym für „Ausländer“ verwendet.
Grundsätzlich besteht ein psychologisches Problem darin, dass abstrakte Thesen bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Assoziationen und Gefühle freisetzen können. So prangert die Forscher-Community den Satz „Wer schon immer hier lebt, sollte mehr Rechte haben als die, die später zugezogen sind“ als unanständige Beanspruchung von „Etabliertenvorrechten“ an. Befragte könnten hier aber auch schlicht die Idee unbehaglich finden, dass alle Personen, die über die Grenze kommen, automatisch ein Anrecht auf umkämpfte gesellschaftliche Ressourcen wie Wohnraum erwerben. Und was alles schließt der vom „Lebensstil der Deutschen“ unterscheidbare „Lebensstil“ von Zuwanderern, den diese im Idealfall „behalten können“ sollen, überhaupt ein?
Zur Pauschalisierung motiviert
Einen verzerrenden Einfluss auf die Antworten hat, dass sich das erbetene Ja oder Nein zum Verhalten ausgewählter Gruppen, wenn schon, denn schon, gleich um die Gesamtgruppe („Die Ausländer …“) oder das Gros der Gruppenmitglieder dreht („Die meisten Flüchtlinge und Asylsuchenden …“). So zwingt man Umfrageteilnehmer geradezu zur Pauschalisierung – und wirft ihnen genau die hinterher als Menschenfeindlichkeit vor.
Ganz konkret: Wie soll sich ein Befragter, der den Verdacht hat, dass eine kleinere oder größere Minderheit der Zuwanderer es primär, salopp ausgedrückt, auf Sozialleistungen abgesehen hat, stimmig zur Vorgabe „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ äußern? Stimme völlig zu? Stimme überwiegend zu? Lehne überwiegend ab? Lehne völlig ab?
Kampf gegen „Ungleichwertigkeitsvorstellungen“
Letztlich halten die gängigen Politik-Studien das Idealbild einer multikulturellen Gesellschaft hoch. Dabei werden die kritisierten „Ungleichwertigkeitsvorstellungen“ in der Thüringer Studie explizit mit „gruppenbezogenen Vorurteilen und negativen Einstellungen“ gleichgesetzt, deren „Abbau“ angezeigt sei. Die Menschenfeindlichkeit wird nun allerdings arg weit gefasst, wenn kritische Meinungen zu Gruppen – nicht etwa nur nachweislich falsche Aussagen – bereits als unverschämt gelten. Zudem wäre jeweils zu klären, was Vorurteile sind. Auch für die FSU ist wie für Forscherkollegen andernorts die Einschätzung „Die meisten Asylbewerber befürchten nicht wirklich, in ihrem Heimatland verfolgt zu werden“ quasi ein Beweis für die „Ablehnung von Asylbewerbern“ bzw. nicht nettes „generelles Misstrauen“.
Als „Antisemitismus“ gilt die von jedem dritten Befragten bejahte Aussage „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“. Die Aussage wird gern in Studien verwendet, das ändert aber nichts daran, dass hier die Haltung zu Juden und die Beurteilung einer konkreten Regierungspolitik vermengt werden. Das ist so, als würde Kritik an Donald Trump mit Anti-Amerikanismus gleichgesetzt.
Bejahung der Demokratie, dennoch Politikverdrossenheit
Unter dem Strich attestiert der Thüringen-Monitor der Bevölkerung eine bemerkenswert hohe Demokratieunterstützung. 90 Prozent der Befragten stimmen der Aussage „Die Demokratie ist die beste aller Staatsideen“ zu. Dabei sehen sich vier Fünftel der Thüringer in einer guten finanziellen Situation.
Die andere Seite der Medaille: Von der Ausgestaltung der Demokratie ist man weniger überzeugt. Nur 63 Prozent der Befragten sind mit der „Demokratie, so wie sie in Deutschland in der Praxis funktioniert“, „ziemlich“ oder „sehr zufrieden“. Während 73 Prozent der Thüringer Wahlberechtigten der Polizei voll oder zumindest weitgehend vertrauen, sagen dies nur 53 Prozent über Gerichte, 43 Prozent über die Landesregierung und bescheidene 29 Prozent über die Bundesregierung.
Generell ist ein Großteil der Bevölkerung mit seinen eigenen politischen Einflussmöglichkeiten unzufrieden. „Die Parteien wollen nur die Stimmen der Wähler, ihre Ansichten interessieren sie nicht“, meinen drei Viertel der Befragten, „Leute wie ich haben so oder so keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut“, 2 von 3 Befragten, „In unserer Demokratie werden die Anliegen der Menschen nicht mehr wirksam vertreten“, über 70 Prozent. Jeder zweite Thüringer hat zudem den Eindruck, heutzutage könne man „seine Meinung nicht frei äußern, weil man sonst Nachteile haben könnte.“ Und immerhin 1 von 11 Thüringern hält es für tolerierbar, „für Ziele auch mit Gewalt zu kämpfen“.
Gerade das große Unbehagen am alltäglichen Erscheinungsbild der Demokratie könnte der Nährboden sein, auf dem eine gewisse (in der Studie mit abgefragte, allerdings eher abstrakte) Offenheit für andere alternative Gesellschaftsentwürfe – DDR, sozialistische Ordnung, Nationalsozialismus, Diktatur – gedeiht.
Hinweise auf „Rechtsextremismus “/ Ethnozentrismus und Neo-Nationalsozialismus als Erkennungsmerkmale
Zur Erfassung rechtsextremer Einstellungen werden zehn Aussagen aufgelistet, die unterschiedlich viel Zustimmung erfahren. [Zahlen in Klammern: stimme völlig zu/überwiegend zu]
Nationalismus und Chauvinismus: „Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland.“ (61 %) / „Andere Völker mögen Wichtiges vollbracht haben, an deutsche Leistungen reicht das aber nicht heran.“ (34 %)
Fremdenfeindlichkeit: „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet.“ (56 %) / „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen.“ (45 %) / „Ausländer sollten grundsätzlich ihre Ehepartner unter den eigenen Landsleuten auswählen.“ (23 %)
Sozialdarwinismus: „Es gibt wertvolles und unwertes Leben.“ (25 %) / „Wie in der Natur sollte sich auch in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen.“ (22 %)
Verharmlosung des Nationalsozialismus: „Der Nationalsozialismus hatte auch seine guten Seiten.“ (26 %)
Primärer Antisemitismus: „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns.“ (16 %)
Unterstützung einer rechten Diktatur [warum eigentlich nicht ggf. auch link(sgrün)en?]: „Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform.“ (21 %)
Die Indikatoren sind mal härter („unwertes Leben“ !?), mal weicher (Juden sind „eigentümlich“) formuliert, einige eröffnen Interpretationsspielraum. Was sollen bitte konkret die „bestimmten Umstände“ sein, unter denen eine Diktatur sinnvoll erscheint?
Als rechtsextrem, erläutern die Studienautoren, gelten Befragte (nur) dann, wenn sie den Aussagen auf jeder der beiden Dimensionen Ethnozentrismus und Neo-Nationalsozialismus „durchschnittlich überwiegend zustimmen“ bzw. wenn sie im Durchschnitt von den Vorgaben mehr Aussagen befürworten als ablehnen. Das unterstellt, dass diese Aussagen als Lackmustest für Extremismus taugen. Marion Reiser und ihre Kollegen weisen aber selbst darauf hin, der Wunsch nach „Durchsetzung deutscher Interessen“ könne auch Unzufriedenheit mit außenpolitischen Entscheidungsprozessen und der Europäischen Union signalisieren. Überhaupt wäre in Zeiten, in denen seriöse Politiker Deutschland und anderen EU-Staaten eine Führungs- und Vorbildrolle in Sachen Migration und Klima zuweisen möchten, zu unterscheiden, was aggressiv übersteigerter Nationalismus ist, was die, maximal von Eitelkeit und „Nationalmoralismus“ („Die Welt“) geprägte, Wertschätzung der Kompetenzen des eigenen Landes.
Hatte der Nationalsozialismus auch „gute Seiten“? Und der Sozialismus? Und die DDR?
Die mediale Berichterstattung über die „rechtsextremen Thüringer“ hat sich stark daran aufgehängt, dass 26 Prozent der Wahlberechtigten dem Nationalsozialismus, auf den ersten Blick: erschreckender Weise, „auch gute Seiten“ bescheinigen. Offen bleibt allerdings bei weiterem Nachdenken, was genau den Befürwortern vorschwebt. Zu vermuten ist, dass hier die Mythen von Hitlers Bau von Reichsautobahnen oder der „Förderung von Familien“ wirken. Dies legte unter anderem eine bundesweite Forsa-Umfrage des „stern“ von 2007 nahe, bei der – allerdings suggestiv –, gefragt worden war: „Hatte der Nationalsozialismus auch seine guten Seiten (Bau der Autobahnen, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, niedrige Kriminalität, Förderung der Familie)?“. Nun wäre zu diskutieren, ob Befragte, die 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs den Bau von Autobahnen positiv einschätzen, zwangsläufig Rassismus, Krieg, den Holocaust entschuldigen? Ulrich Dovermann (Bundeszentrale für politische Bildung) hatte 2007 bereits eingestanden, man könne „aus den Ergebnissen nicht schließen: Das sind alles Nazis“. Zu einem verdichteten rechtsextremen Weltbild gehörten mehrere Versatzstücke.
Es wäre parallel auch interessant, die Gründe dafür zu erfahren, dass über ein Viertel der befragten Ostdeutschen „die Rückkehr zur sozialistischen Ordnung“ befürwortet, wiewohl realexistierende sozialistische/kommunistische Systeme ja durchaus keine menschenfreundlichen Erfolgsmodelle waren und sind. Stattliche 45 Prozent der befragten Thüringer schreiben der DDR überdies ausdrücklich „mehr gute als schlechte Seiten“ zu.
Frage nach dem Demokratie-Konzept
Zum Nachdenken regen dabei die von den Forschern ins Spiel gebrachten möglichen Einflussfaktoren für „rechtsextreme“ Einstellungen an. Am wichtigsten sind demnach die Persönlichkeitsmerkmale Autoritarismus und „Soziale Dominanzorientierung“. Letztere begünstigt laut Studie das Gefühl, „sich durch Abwertung und Ausgrenzung gegen andere Gruppen durchsetzen zu müssen“. Einzubeziehen seien auch die Rolle der ärmeren Thüringer als „Modernisierungsverlierer“ im Kontext der Europäisierung und Globalisierung sowie Gefühle relativer Deprivation bzw. einer kollektiven (Ost-)Deprivation, daneben eine „Statusverlustangst“. Relevant sei ferner eine kritische Haltung zur bestehenden Demokratie. Als „kultureller Erklärungsansatz“ wird angeboten, dass Personen den „Verlust sozialer Homogenität, traditionaler Lebensführungsmodelle und Zusammengehörigkeit befürchten, [sogar] ohne selbst ökonomisch benachteiligt zu sein“, verbunden mit dem „Wunsch nach der Aufrechterhaltung traditional fundierter kollektiver Identität“.
Aus diesem Bündel an Einflussfaktoren darf geschlossen werden, dass als „rechtslastig“ eingestufte Einstellungen nicht nur die dumpfe Abwehr des und der Fremden reflektieren, sondern ebenso die (durchaus nachvollziehbare) banale Furcht vor dem Verlust der traditionellen politisch-kulturellen Identität und eigenen sozialökonomischen Sicherheit.
„Ressentiment-geleitete Negativbeurteilung“ von Gruppen
Spürbar irritiert sind Marion Reiser und Kollegen davon, dass trotz der von ihnen identifizierten „rechtsextremen Einstellungen“ und Offenheit der Bürger für alternative Gesellschaftsentwürfe die Demokratie an sich sehr positiv bewertet wird – auf den ersten Blick ein Widerspruch. Es stelle sich, bauen sich die Wissenschaftler selbst eine Brücke, „die Frage, ob in Teilen der Bevölkerung ‚ethnokratische‘ Demokratiekonzeptionen existieren, in denen die gleichen Chancen auf politische Teilhabe als zentrale Leitidee der Demokratie nicht auf universaler, sondern auf ethnisch begrenzter Gleichheit basiert“.
Hier landet man dann unmittelbar beim Thema Diversität. Dazu kommentieren die Jenaer Forscher: „Die ressentiment-geleitete Negativbeurteilung ethnischer, kultureller und sozialer Gruppen sowie das ihm zugrundeliegende Ungleichwertigkeitsdenken bleiben ein wichtiges Problem für Politik und Zivilgesellschaft im Freistaat Thüringen“.
„Klassisches Beispiel dafür ist ethnozentrisches Denken, das die ethnische oder nationale Gemeinschaft nicht nur zum zentralen Beurteilungsmaßstab erhebt, sondern zu generalisiertem Misstrauen und der Abwehr gegenüber ‚Fremden‘ führt. Die Konstruktion dessen, was das ‚Eigene‘ und was das ‚Fremde‘ ist, wird kulturell tradiert; sie hängt vom Kontext ab, ist interessengeleitet und kann völlig willkürlich sein. Dies zeigt sich beispielsweise auch, wenn populistische Propaganda versucht, die angeblichen Interessen einer ‚Mehrheit‘ gegenüber wie auch immer definierten ‚Minderheiten‘ auszuspielen: Abhängig davon, welches Kriterium als relevant gilt, gehören wir einerseits alle irgendwelchen Minderheiten an … und bilden andererseits zusammen verschiedene Mehrheiten oder ‚die‘ Mehrheit … Das deutsche Grundgesetz und die Landesverfassung des Freistaats Thüringen schreiben indessen universelle Grundprinzipien wie die Menschenwürde, die Freiheit und die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz fest …“
… wenn Erwartungen der Bevölkerung mit Zielen der Eliten in Konflikt geraten …
Eingeklagt wird offenkundig ein nicht auf Abstammungs- oder Sprachgemeinschaften aufbauender Werte-„Verfassungspatriotismus“. Die Wissenschaftler betonen ferner, man weise, wie die „Mitte-Studien“, keinen Prozentsatz für „gruppenbezogen menschenfeindlich eingestellte“ Befragte in der Stichprobe aus: „Vielmehr findet die Untersuchung in erster Linie statt, um solche Entwicklungstendenzen der politischen Kultur zu identifizieren, die sich insbesondere dann als problematisch erweisen können, wenn in der Bevölkerung kollektiv geteilte Erwartungen, Wahrnehmungen und Bewertungen mit politischem Handeln und den von den politischen Eliten formulierten politischen Zielen in Konflikt geraten“. Das klingt nach möglichen grundlegenden Differenzen zwischen den „politischen Eliten“ und der „Bevölkerung“.
Das flüssige Gesellschaftskonzept als Geflecht aus Mehr- und Minderheiten kollidiert jedenfalls offenbar mit dem Weltbild der befragten Wähler, die durchaus ein Zuviel an Aufmerksamkeit für Minderheiten meinen auszumachen. Sie bejahen nämlich zu stattlichen 66 Prozent, dass „wieder mehr für die Mehrheit der Leute in unserem Land getan werden (sollte) als sich um Minderheiten zu kümmern“.
Dies sei aber womöglich, wenden die Studienautoren selbst ein, eher „Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der Bearbeitung konkreter gesellschaftlicher Problemlagen … , weniger als Symptom der Abwertung und Diskriminierung von Minderheiten an sich“ zu deuten. Allerdings solle auch diskutiert werden, „inwiefern Vorstellungen von Mehrheitsinteressen oder gar der Homogenität eines Volkes … so weit verbreitet sind, dass zu wenig Sensibilität für Abwertung und Diskriminierung besteht ….“.
Kritische Aussagen über ethnische, kulturelle und soziale Gruppen
Die behauptete negative Einstellung größerer Anteile der Befragten gegenüber ausgewählten Gruppen wird im Thüringen-Monitor mit Hilfe von 27 bewerteten Aussagen (2013–2019) dokumentiert. Einzelne Aussagen sind auf den ersten Blick rigoros, so „Die Weißen sind zu Recht führend in der Welt.“ (Zustimmung 19 %) „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden.“ (27 %) „Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Wohngegend aufhalten.“ (40 %) „Die meisten Langzeitarbeitslosen machen sich auf Kosten der Anderen ein schönes Leben.“ (55 %) Im Katalog der Meinungs-Sünden verzeichnet sind allerdings auch „Homosexuelle sollten aufhören, so einen Wirbel um ihre Sexualität zu machen“ (43 %), „Bei der Prüfung von Asylanträgen sollte der Staat nicht großzügig sein“ (81 %)“, „Die meisten Asylbewerber befürchten nicht wirklich, in ihrem Heimatland verfolgt zu werden“ (57 %) oder der Wunsch „Frauen sollen sich wieder mehr auf die Rolle der Ehefrau und Mutter besinnen“ (11 %).
Was man meint, was man meinen sollte
Als Fazit aus den als teilweise „besorgniserregend“ eingeschätzten Befunden plädiert das Autorenteam (erwartungsgemäß) dafür, „aktive Demokratieförderung“ und die politische Bildung zu stärken. Was wohl bedeutet, dass im Sinne des Monitors akzeptable Einstellungen erzeugt und verstärkt werden sollen. Das wirft nun unweigerlich die Frage – übrigens an alle einschlägigen Studien – auf: Was wären denn jeweils erstrebenswerte moderne Einstellungen?
Es läge nahe, die überwiegend als Negativfolie dienenden Statement-Kataloge (S. 52 und 63) in einem gedanklichen Experiment in ihr Gegenteil zu verkehren, um erwünschte Einstellungen zu generieren.
Aus „Andere Völker mögen Wichtiges vollbracht haben, an deutsche Leistungen reicht das aber nicht heran“ würde „Alle/Viele Staaten dieser Welt leisten gleichermaßen Wichtiges“. Aus „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich … “ würde „Juden passen gut zu uns“.
Aus „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ würde „Ausländer und Migranten sind uns unabhängig von deren Anzahl und Bevölkerungsanteil immer willkommen“. Aus „Die meisten in Deutschland lebenden Muslime akzeptieren nicht unsere Werte, so wie sie im Grundgesetz festgeschrieben sind“ würde „… akzeptieren unsere Werte“. Aus „Bei der Prüfung von Asylanträgen sollte der Staat nicht großzügig sein“ würde „… sollte das BAMF immer großzügig sein“. Aus „Sobald Krieg und Verfolgung beendet sind, sollten alle Flüchtlinge und Asylsuchenden wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren“ würde „Flüchtlinge und Asylsuchende sollen langfristig/dauerhaft in Deutschland bleiben können.“ – usw.
Gleichwertigkeit und Verfassungspatriotismus als Werte nicht griffig
Im Ergebnis zeigt das kleine Experiment mit den unfreundlicheren und alternativ freundlicheren Ansichten vor allem eines: Es ist nicht leicht ist, die viel beschworene „Gleichwertigkeit“ aller Bürger/Menschen und den eingeklagten Verfassungspatriotismus logisch und praktisch auf den gesellschaftlichen Alltag herunterzubrechen. Sie taugen als theoretische Ideale, sind aber nicht besonders „griffig“.
Bei einigen Grundsätzen, die das Menschenbild und das Staatswesen betreffen, lassen sich beide Leitfäden halbwegs leicht umsetzen. Bei anderen Fragestellungen, die nicht zuletzt auf die statistische Verteilung von Merkmalen (Einstellungen, Verhalten) in Gruppen abzielen, dürfte teilweise strittig sein, welche konkreten Aussagen als Lackmustest für demokratische oder undemokratische Gesinnungen taugen, dabei zugleich auch noch die Realität bzw. realistische Ziele der politischen Kultur spiegeln. Wenn der Bürger meint, dass die (aller-)„meisten Zuwanderer“ in Deutschland leicht integriert werden können: Was darf/sollte/muss er dann über die schlecht zu integrierenden Migranten denken, die es ja auch noch gibt?
Manche Aspekte der komplexen Wirklichkeit sind schlicht politisch, moralisch und weltanschaulich strittig und auch nicht mit hehrer Wissenschaft auf den Punkt zu bringen. Genau deswegen sehen Verfassung und Gerichte im Rahmen der Legalität ja Meinungsfreiheit und -vielfalt vor: Weil es die „einzig richtige Meinung“ oft nicht gibt. Gäbe es sie, hätten wir alle längst eine Gutes-Weltbild-Handreichung von Franziska Giffey im Briefkasten: „Demokratie leben! Was der wahre Demokrat in diesen Zeiten denkt und sagt“.