Eine öffentliche Debatte mit Ursula von der Leyen hat es kaum je gegeben, und vermutlich bleibt es dabei auch in diesem EU-Wahlkampf. Denn obwohl von der Leyen zur Kandidatin der EVP für den Sessel der Kommissionspräsidentin gemacht wurde – für einen Parlamentssitz kandidiert sie nicht –, hat die CDU-Politikerin eine Debatte der Spitzenkandidaten, die eine große europäische Zeitung geplant hatte, zerschlagen. Durch ihre simple Absage. Ob sie zu einer anderen Debatte erscheinen wird, ist noch offen. Generell ergibt sich bei UvdL eher der Eindruck einer Flüchtenden – auf der Flucht vor zu nah rückenden Kameras und direkten Fragen.
Sein Schuss gegen von der Leyen ließ aufhorchen, denn in solch einem Fall muss man immer die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Breton für seinen Puppenspieler Macron spricht. Insofern überrascht auch der Sieg Bretons in der Sache nicht: Der CDU-Abgeordnete Markus Pieper konnte nicht an einem ordentlichen Berufungsverfahren vorbei zum Mittelstandsbeauftragten der Kommission gemacht werden.
EU-Spitzenkräfte sprechen von der „Arroganz der Macht“ und einer Reihe von kleinen (und größeren) Fehlern, die inzwischen gegen von der Leyen in Stellung gebracht werden. So wird ihr auch der klar außenpolitische Auftritt in Israel zur Last gelegt – damit hätte sie ihre Kompetenzen zulasten des Spaniers Borrell überschritten. Josep Borrell und Pedro Sánchez sehen die EU-Nahostpolitik tatsächlich ganz anders als von der Leyen. Ungarn und die Slowakei folgen ihr nicht in Sachen Ukraine. Aber das muss beides noch nicht zur Kernschmelze des Systems führen, denn die Macht in der EU ist ein kompliziertes Ding.
Doch nun hört man eben doch, die Wahl von der Leyens sei nicht mehr „alternativlos“. Andere Namen kommen wieder ins Spiel, wieder mal jener der Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, die aber kaum weniger hölzern als die Deutsche auftritt und noch am Katar-Skandal laboriert. Der kroatische Premier Andrej Plenković (auch EVP), der gerade die Wahlen gewann und nun eine Mehrheit (vielleicht mit der verfemten Heimatbewegung?) suchen muss, kommt vielleicht auch in Frage. Aber das ist alles eher noch Theorie.
Linke verpasst vor lauter Rechts-Dämonisierung den Wahlkampf
Noch hat auch Emmanuel Macron seine Unterstützung der zweiten Bestimmung von der Leyens zur Kommissionspräsidentin nicht bestätigt, das wohl aber nur, um bei den anstehenden Verhandlungen möglichst viele Zugeständnisse herauszuschlagen. Ärger könnte es geben, wenn sich von der Leyen von Giorgia Meloni und ihren Fratelli d’Italia wählen lassen will. Denn dann könnte sie die Unterstützung der S&D-Fraktion verlieren. Der nächste Spanier Iratxe García gibt sich unnachgiebig, wo es um eine Zusammenarbeit mit der „extremen Rechten“ geht. García bekundete dazu kurz und praktisch: „Der Kandidat für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission sollte sich zu unseren Prioritäten bekennen.“
Von Wahlkampf ist ohnehin weit und breit nichts zu sehen, und UvdL scheut die Scheinwerfer und unbequeme Fragen zu ihren diversen Skandalen. Denn da war ja noch etwas: die Affäre um den Pfizer-EU-mRNA-Deal, den die Kommissionschefin per Anruf und SMS handverhandelte, ohne Dokumente darüber aufzubewahren oder auszuhändigen. Nun ermittelt bekanntlich die EU-Staatsanwaltschaft (EuStA, auch EPPO) gegen sie wegen genau jener verschwundenen SMS-Nachrichten und geschwärzten Verträge, wegen geheimer Verhandlungen zu einem Milliardendeal, für den alle EU-Steuerzahler aufzukommen haben (vielleicht mit Ausnahme der polnischen und ungarischen, deren Regierungen sich weigern, weitere Chargen der mRNA-Stoffe zu kaufen).
Auch die Bundesregierung war mit Pfizer-Deal befasst
Die Ermittlungen bestätigten nun auch die Bundesregierung in einer Antwort an den Abgeordneten Christian Leye (BSW), aus welcher die Berliner Zeitung zitiert. Und dabei könnten am Ende auch deutsche Behörden eingebunden werden, die etwas zu UvdLs Geschäftsgebaren in der Pfizer-Sache beizutragen haben. Noch sind der Bundesregierung keine Rechtshilfeersuchen an deutsche Stellen bekannt. Die EuStA agiere „als unabhängige Ermittlungsbehörde“, heißt es erklärend.
Aber werden nun zumindest die EU-Staatsanwälte Einblick in die streng geheimen Verträge und Verhandlungen mit den mRNA-Produzenten erhalten? Das ist unsicher. Bisher scheiterte die EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly an einer Offenlegung ebenso wie der EU-Rechnungshof. „Die Verhandlungen und die Verträge unterliegen strenger Geheimhaltung“, wie die Berliner Zeitung schon etwas raunend hinzusetzt. Man mag es sich also auf der Zunge zergehen lassen: Die EU besitzt Kontroll-Instanzen im halben Dutzend, von der Antikorruptionsbehörde OLAF über die Ombudsfrau bis zum Rechnungshof. Doch wenn diese Instanzen Rügen und kritische Fragen an EU-Regierende richten, werden sie ignoriert. Und eine selbst bestellte „Transparenzkommissarin“ kann dann vielleicht noch die Unbedenklichkeit aller erhobenen Vorwürfe feststellen.
Wirklicher Preis für mRNA-Dosen bleibt „vertraulich“
Doch in der Tat, noch in einer öffentlichen Handreichung zu den BioNTech-Pfizer-Nachverhandlungen vom Mai 2023 heißt es: „Der Preis von COVID-19-Impfstoffen gilt als vertrauliche Geschäftsinformation, und die Unterzeichner des Kaufvertrags sind vertraglich zur Geheimhaltung verpflichtet.“ In diesem Fall wurden die Verhandlungen mit BioNTech und Pfizer angeblich „von einem gemeinsamen Verhandlungsteam“ geführt, dem „Vertreterinnen und Vertreter der Kommission und Sachverständige aus mehreren Mitgliedstaaten angehörten“.
Wie die Verhandlungen im ersten Deal, der im April 2021 abgeschlossen wurde, liefen, weiß man bis heute nicht so genau. Das hochgradig Informelle an einer so kostspieligen und mit weitreichenden Folgen behafteten Unterhandlung erstaunt dann doch sehr, ist der eigentliche Skandal. Und es könnten mehr Personen daran hängen, als auf den ersten Blick offensichtlich ist.
EU-Abgeordnete Christine Anderson (AfD, ID) wurde vor kurzem anscheinend das Mikrophon abgestellt, weil sie darauf bestand, dass eine der Korruption verdächtige Kommissionspräsidentin zumindest ein einziges Mal vor dem EU-Parlament erschiene, um Rede und Antwort zu stehen. Doch seit einer erneuten Niederstimmung eines Antrags zur Offenlegung der UvdL-SMS und der Pfizer-Verträge steht für Anderson fest: „Schlimm genug, dass die EU-Kommissionspräsidentin korrupt ist. Ein Parlament, was diese Korruption auch noch deckt, ist es ebenso.“ Bei der derzeitigen Besetzung handle es sich beim EU-Parlament nur um eine „Demokratie-Simulation“.
Nur das eine scheint klar: Ursula von der Leyen steht im Zentrum dieses undurchsichtigen Netzes von Interessen und Vorteilsgewährung. Die Preise für die „Impfdosen“ stiegen ja während ihrer Verhandlungführung laut Berichten an, anstatt zu sinken, obwohl von der Leyen gleichzeitig auch die Kaufmenge erhöht hatte, um nur die offensichtlichste Folge einer massiven Beschädigung der Marktmechanismen zu nennen. Auch das war eine Folge der Massenpanik namens Pandemie, die angeblich „kollektives Handeln“ an allen Fronten erforderte.
Unklar ist zudem, wie die so erfolgreichen Privatverhandlungen der Kommissionspräsidentin mit der Karriere ihres Ehemanns Heiko von der Leyen zusammenhängen, der seit 2020 medizinischer Direktor beim US-Biopharma-Unternehmen Orgenesis ist, das wiederum „auf Zell- und Gentherapien“ spezialisiert ist.
Das vergessene EU-Investment in ein Projekt Heiko von der Leyens
Orgenesis hat wohl nur Gerüchten zufolge auch direkt etwas mit Pfizer zu tun. Sicher ist aber, dass das Pharma-Unternehmen beträchtliche Fördergelder von Italien, Griechenland und der EU erhalten hat, insgesamt mindestens 356 Millionen Euro. Allerdings fand die EU-Transparenzkommissarin Věra Jourová nichts Beanstandenswertes an dem EU-Investment in ein Projekt, in das der Ehemann der EU-Kommissionschefin direkt involviert war. Heiko von der Leyen verabschiedete sich pflichtgemäß aus dem Projekt, nicht aber aus dem Unternehmen Orgenesis.
Mit dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis verbindet UvdL eine besondere Freundschaft: Letzten Sommer verbrachten sie und ihr Pharma-Ehemann drei Tage im Haus des Premierministers in Chania auf dessen Heimatinsel Kreta. Das rief Stirnrunzeln hervor, aber natürlich spricht nichts gegen „enge Arbeitsbeziehungen“ von der Leyens zu Staats- und Regierungschefs und „insbesondere zu den Mitgliedern des Europäischen Rates“, auf denen von der Leyen in einem Brief als sinnvoll für sich und ihr Amt bestand. Passenderweise gehörte Mitsotakis neben dem Polen Donald Tusk zu den wärmsten Befürwortern einer zweiten Amtszeit der Kommissionschefin.
Als deutsche Verteidigungsministerin stand von der Leyen schon einmal wegen verbaselter SMS-Nachrichten am Pressepranger: Bei den damals strittigen Beraterverträgen ging es um läppische 200 Millionen Euro. Die SMS wurden nicht gefunden. Nun geht es beim EU-Pfizer-Deal um ein Vielfaches jener Summe. Für EU-Kandidat Fabio De Masi (BSW) steht fest: „Alles was Frau von der Leyen anfasst – ob als Verteidigungsministerin bei der Rüstung, als EU-Kommissionschefin Impfstoffe oder die Vergabe des Postens des Mittelstandsbeauftragten klebt vor Filz.“ Und jetzt wolle von der Leyen den Waffeneinkauf der EU nach dem „erfolgreichen“ Vorbild der Impfstoffbeschaffung organisieren. Da kriegt es wohl nicht nur De Masi „mit der Angst zu tun“.