Tichys Einblick
Ukraine-Krieg

Was dürfen Mitgliedsstaaten laut Nato-Vertrag im Kriegsfall?

Der Nato-Vertrag verbietet keineswegs das Eingreifen des Bündnisses oder einzelner Mitgliedsstaaten in einen Krieg. Antworten auf einige naheliegende Fragen von Annette Heinisch und Gunter Weißgerber

Kampfpanzer Leopard 2A7v der Bundeswehr auf dem Truppenübungsplatz Munster

IMAGO / Björn Trotzki

Abseits politischer Schuldzuweisungen und nachträglicher, historisierender Konstruktionen möchten wir häufig gestellte Fragen im Zusammenhang mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, hinsichtlich des ukrainischen Wunsches nach Mitgliedschaft in Nato/EU und möglicher Konflikte zwischen der Nato, ihren einzelnen Mitgliedsstaaten und Russlands auf eine sachlichere Ebene rücken. Was mögliche Entwicklungen angeht, sind wir naturgemäß stärker auf unsere Einschätzungen angewiesen.

1) „Darf“ die Nato in der Ukraine eingreifen?

Einfache Antwort: Ja. Die Beistandsverpflichtung nach Art. 5 Nato-Vertrag lautet:

„Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ 

Kurz gesagt: Die Frage, ob im Angriffsfall Beistand zu leisten ist, stellt sich nicht. Diese Pflicht besteht. Das Bestehen einer unbedingten Pflicht bedeutet nicht, dass darüber hinaus nicht auch in anderen Fällen Aktionen möglich sind. Das „Müssen“ schließt ein darüberhinausgehendes „Können“ auf freiwilliger Basis in anderen Fällen nicht aus. Die teils geäußerte Ansicht, die Nato dürfe nicht eingreifen, dies sei ein Regelbruch, ist mithin falsch. Tatsächlich ist die Nato auch bereits außerhalb von Art. 5 sowohl im Jugoslawien-Krieg wie auch zur Umsetzung der UNO-Resolution 1973 zum Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen tätig geworden.

Das Recht eines Staates auf Notwehr ist anerkannt. Art. 51 der UN-Charta besagt:

„Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.“

Selbstverteidigung ist stets legitim, auch im Strafrecht. Dort wird diese als Notwehr bezeichnet und in § 32 StGB (ähnlich in nahezu allen Strafgesetzbüchern) wie folgt definiert:

„Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.“

Legale und legitime Notwehr/Selbstverteidigung ist also auch die Verteidigung eines Dritten (Nothilfe), wenn dieser einem rechtswidrigen Angriff ausgesetzt ist. Die Grenzen liegen in der Erforderlichkeit (Übermaßverbot). Die Nato darf also der Ukraine Nothilfe leisten. Ob sie es soll, ist eine andere Frage.

2) Können einzelne Nato-Mitgliedsstaaten unabhängig von der Nato eingreifen?

Auch hier lautet die Antwort ja. Nato-Mitgliedsstaaten sind nicht gehindert, auch außerhalb des Nato-Rahmens tätig zu werden. Der französische Anti-Terror-Einsatz in Mali ist ein Beispiel dafür, auch der Irak-Krieg der USA und ihrer Verbündeten.

Im vorliegenden Fall könnte sogar eine Pflicht zum Eingreifen vorliegen. Im Budapester Memorandum von 1994 haben die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China der Ukraine die Unverletzlichkeit der territorialen Integrität garantiert als Gegenleistung für die Übergabe der Atomwaffen. Dieser gegenseitige Vertrag wurde von der Ukraine eingehalten, Russland – obgleich Garantiemacht – wurde zum Aggressor. Die anderen schreiten pflichtwidrig nicht ein und verletzen damit ihre Schutzpflicht.

Nach einer Rechtsansicht handelte es sich beim Budapester Memorandum allerdings nur um eine nicht rechtsverbindliche Erklärung, andere Rechtsexperten halten es für völkerrechtlich verbindlich.

Um eine reine Absichtserklärung handelt es sich objektiv nicht, denn über die verbale Ebene hinaus übergab die Ukraine ihre Nuklearwaffen an Russland, gab damit ein elementares Faustpfand ihrer eigenen Sicherheit ab. Wäre sie noch nuklear bewaffnet, wäre der derzeitige Krieg eher unwahrscheinlich. Es dürfte daher ein gegenseitig bindender Vertrag vorliegen, dessen Verletzung seitens der Garantiemächte einen schweren Verstoß gegen die regelbasierte Weltordnung darstellt. Falls die Garantiemächte nie die Absicht hatten, für die Sicherheit der Ukraine zu garantieren, dann läge eine Täuschungshandlung vor, was zur Anfechtung und Rückabwicklung führen müsste. In der Folge würde dann die Ukraine ihre Nuklearwaffen wiedererhalten. 

Der häufig gehörte Einwand, Schutz sei praktisch nicht zu gewährleisten, dürfte in dieser Form wenig Substanz haben. Selbstverständlich ließe sich die territoriale Integrität der Ukraine durch Truppenstationierung der Garantiemächte sicherstellen, zumindest hätten diese Mächte dann vertragsgemäß gehandelt, wenn und soweit sie mit Zustimmung der Ukraine dort wären. Würde man behaupten, Schutzpflichten seien nicht einzuhalten, dann wäre überdies der Nato-Vertrag gegenstandslos.

Dass derartige Schutzverpflichtungen neben und unbeschadet der Verpflichtungen aus dem Nato-Vertrag bestehen können, ergibt sich aus dessen Art. 8:

„Jede Partei erklärt, daß keine der internationalen Verpflichtungen, die gegenwärtig zwischen ihr und einer anderen Partei oder einem dritten Staat bestehen, den Bestimmungen dieses Vertrags widerspricht und verpflichtet sich, keine diesem Vertrag widersprechende internationale Verpflichtung einzugehen.“

Es ist also klar, dass es daneben andere Verpflichtungen geben kann, die allerdings nicht den Zweck des Nato-Vertrages konterkarieren dürfen. Auch einzelne Mitgliedsstaaten der Nato können also Hilfe leisten. Insoweit sei erneut auf die UNO-Resolution 1973 verwiesen, an deren Umsetzung nicht alle Nato-Staaten gleichermaßen beteiligt waren. 

3) Wenn einzelne Nato-Staaten der Ukraine Nothilfe leisten, gilt für diese dann noch Art. 5?

Die Antwort lautet ja. Die Beistandspflicht des Art. 5 greift nur im Verteidigungsfall, also nicht, wenn ein Staat selbst der Aggressor ist und einen Angriffskrieg startet. Wer einem anderen Staat bei dessen Verteidigung hilft, greift jedoch nicht an (siehe oben).

Diese Notwehr/Nothilfe ist gemäß Art. 51 UN-Charta das naturgegebene Recht und völlig legitim. Da es sich also um die Ausübung des Nothilferechts handelt, würde die Beistandspflicht des Art. 5 gelten, wenn der helfende Staat angegriffen wird.

4) Wer ist Partei des Krieges Russland – Ukraine?

Häufig hört man die Behauptung, der Dritte Weltkrieg würde ausbrechen, wenn die Nato oder ein Nato-Staat der Ukraine bei der Selbstverteidigung militärisch helfen würden. Daher möchte man keine Konfliktpartei sein. Also ist man bereit, aus Eigeninteresse die Ukraine zu opfern.

Zunächst einmal handelt es sich dabei lediglich um eine Einschätzung, nicht um eine Tatsache. Mit der gleichen Berechtigung kann behauptet werden, dass ein dritter Weltkrieg durch ein Eingreifen auf Seiten der Ukraine verhindert werden würde. Die Frage ist, ob die Nato-Staaten nicht bereits Konfliktparteien sind.

Wladimir Putin sieht bekanntlich alle Staaten, die Sanktionen gegen ihn ausgesprochen haben, als Aggressor an. Bei ökonomischen Sanktionen handelt es sich in der Tat um sogenannte „hard power“ (Definition nach Joseph Nye), die von der Eingriffsintensität als gleichwertig zu militärischen Mitteln angesehen wird. Dies ist der Grund, weshalb sie als Reaktionen auf die Invasion der Ukraine eingesetzt werden. Daher ist die Ausgangsfrage eigentlich beantwortet, denn mit Verhängung von Sanktionen ist man laut Putin Konfliktpartei geworden. 

Die Frage bezieht sich allerdings vor allem auf Waffenlieferungen und das Problem, ob konkret diese den Lieferanten zur Konfliktpartei machen. Wenn noch mehr Staaten in den Konflikt verwickelt würden, so lautet die Argumentation, hätten wir einen Weltkrieg, wobei „Europa“ mit „Welt“ gleichgesetzt wird.

Im Verfassungsblog legt Kai Ambos, Professor für Straf- und Völkerrecht an der Universität Göttingen und Richter am Kosovo Sondertribunal in Den Haag sowie amicus curiae JEP, Bogota, die Rechtslage zu der Definition von Konfliktparteien wie folgt dar:

„Und insoweit stellt sich die Frage, welche Art von Maßnahmen zugunsten einer Konfliktpartei (z.B. Ukraine) den betreffenden Staat selbst zu einer Konfliktpartei machen und – als weitere Konsequenz – die andere Konfliktpartei (z.B. Russland) zu Gegenmaßnahmen ermächtigen. 

Für Michael Bothe, einen der führenden Experten auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts, stellt jede Unterstützung einer Konfliktpartei eine Verletzung des Neutralitätsrechts dar, die zu Gegenmaßnahmen berechtigt. An anderer Stelle nennt Bothe insbesondere Waffenlieferungen als unzulässige Unterstützung. Dabei komme es nicht darauf an, ob der unterstützte Staat das Opfer eines (völkerrechtswidrigen) Angriffs geworden sei, denn nach dem Grundsatz der Gleichheit der Konfliktparteien spiele die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtfertigung des Angriffs keine Rolle, vielmehr sei strikt zwischen dem ius ad bellum und dem ius in bello zu trennen.

Wenn man dieser Ansicht folgt, stellen deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine zumindest eine Neutralitätsverletzung dar, die Russland zu Gegenmaßnahmen berechtigt, z.B. zu einem Angriff auf ein deutsches Schiff, welches Waffen für die Ukraine transportiert. Bothe erkennt immerhin an, dass das Neutralitätsrecht durch die UN-Satzung und insbesondere durch Sicherheitsratsbeschlüsse modifiziert werden kann. Doch selbst ohne einen solchen Beschluss oder eine GV-Empfehlung kann das Neutralitätsrecht es Drittstaaten nicht verwehren, zugunsten eines völkerrechtswidrig angegriffenen Staates einzuschreiten. Dies folgt zunächst aus dem kollektiven Selbstverteidigungsrecht i.S.v. Art. 51 UNS, das UN-Mitgliedsstaaten, einschließlich Drittstaaten, sogar militärische Gegenmaßnahmen erlaubt und insoweit das Neutralitätsrecht verdrängt.

Die UN Völkerrechtskommission hat in ihrem Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit (Artikel. 21) in diesem Sinne anerkannt, dass eine „lawful measure of self-defence“ im Sinne des UNS die Rechtswidrigkeit des entsprechenden Handelns ausschließt. Auch wenn die Kommentierung offen lässt, ob sich Art. 21 auch auf die Nothilfe durch Drittstaaten bezieht, so spricht dafür doch der Bezug auf die UNS. Aus dem Recht der Staatenverantwortlichkeit (Art. 41 II) lässt sich weiter entnehmen, dass Staaten den Bruch zwingenden Völkerrechts nicht in irgendeiner Weise anerkennen oder zu ihm beitragen sollten; vielmehr sind sie berechtigt, wenn nicht gar verpflichtet, gegen die Völkerrechtsverletzung und den daraus folgenden rechtswidrigen Zustand vorzugehen.

Zu berücksichtigen ist insoweit auch, dass nicht jede Art einer Neutralitätsrechtsverletzung den betreffenden Staat zu einer Konfliktpartei im humanitärvölkerrechtlichen Sinne machen kann; vielmehr wird man davon nur ausgehen können, wenn die Unterstützungsmaßnahme als unmittelbare Teilnahme an den Feindseligkeiten i.S.v. Art. 51 III ZP I und Art. 13 III ZP II zu deuten ist. Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass der russische Angriffskrieg gegen die militärisch weit unterlegene Ukraine die strikte Trennung von ius ad bellum und ius in bello und die daraus folgende Gleichstellung und -behandlung der Kombattanten von Verletzer-/Angreifer- und Opferstaat im Rahmen des bewaffneten Konflikts auf eine harte Bewährungsprobe stellt. Zumindest in solchen Situationen extremer Asymmetrie verdienen die moralphilosophischen Argumente der Befürworter einer Berücksichtigung des Kriegsgrundes verstärkte Beachtung.“

Putin kann sich mithin auf eine vorhandene Rechtsansicht stützen, wonach Waffenlieferungen den liefernden Staat zur Konfliktpartei machen. Dann wäre die Zurückhaltung der Nato oder anderer Staaten überflüssig, weil Waffen bereits umfangreich geliefert wurden. Dies setzt voraus, dass Putin auf der Basis des Rechts agierte.

Im Übrigen teilt Ambos die hier vertretene Auffassung bezüglich des Rechts auf Selbstverteidigung und sieht darüber hinaus die Pflicht von Drittstaaten, gegen die Völkerrechtsverletzung und den daraus folgenden rechtswidrigen Zustand vorzugehen.

5) Wieso wurde der Ukraine 2008 die Nato-Mitgliedschaft verweigert?

Historische Fenster wie historische Fehler können seriös nur rückblickend festgestellt werden. Zum Zeitpunkt der Entscheidung beruhen solche Einschätzungen stark auf Hoffnungen wie auf Vorahnungen.

Anders Fogh Rasmussen, Stoltenbergs Vorgänger als Nato-Generalsekretär, ist sich heute sicherer denn je, dass 2008 das historische Fenster für die präventive Vermeidung des heutigen russischen Ukraine-Krieges noch offen stand. Eine seit 2008 zu Nato und EU gehörige freie Ukraine mit hoher Wehrfähigkeit wäre 2014 nicht von Russland teilannektiert und langfristig destabilisiert worden. Der russische Präsident hätte keinen Appetit entwickelt. Die Nato als Defensivbündnis inklusive der demokratischen Ukraine war 2008 für Russland kein Feind, sie wäre es heute ebenso wenig. Sowohl der Ukraine als auch Russland würde es heute besser gehen. Menschen müssten durch den Bruderkrieg Russland–Ukraine nicht sterben. Daher sieht Rasmussen das Veto Deutschlands gegen den Nato-Beitritt der Ukraine unter Merkel als gravierenden historischen Fehler an.

Das Veto beruhte auf dem „Appeasement-Gedanken“, das heißt auf dem Wunsch, dass als aggressiv empfundene Russland zu besänftigen und ihm keine Vorwände für eine bewaffnete Auseinandersetzung zu liefern. Putins Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 hatte die Furcht vor Putins dort geäußerten expansiven und aggressiven Plänen geweckt.

Dieser wollte man mit Nachgiebigkeit und Deeskalation begegnen. Die Politik des Appeasements, die weiterhin verfolgt wird, war nicht erfolgreich. Tatsächlich änderte sich die Zielsetzung, ein großrussisches Reich zu gründen, dadurch nicht. Das russische Narrativ der vermeintlichen Bedrohung durch die Nato blieb erhalten und stieß im Westen, besonders in Deutschland, sogar auf großes Verständnis. Zudem wurden flexibel andere Gründe als Legitimation für einen völkerrechtswidrigen Einmarsch nachgeschoben. 

Die Politik Angela Merkels war mithin nicht zielführend. Vielmehr war sie das genaue Gegenteil von dem, was Europa und Russland hätte helfen können. Ob die Ansicht, dass Angela Merkel wieder gebraucht wird, unter diesen Umständen sinnvoll ist, muss angesichts der Faktenlage bezweifelt werden.

2014 bestand für den US-Präsidenten Barack Obama mittels seiner „Roten Linie“ in Syrien die Chance, Russland die Grenzen aufzuzeigen. Obama versagte völlig. Seit 2015 ist Russland in Syrien aktiv und konnte seine Armee für weitere kommende Kriege trainieren. 

6) Kommt dann der Atomkrieg?

Die Antwort: Ein Atomkrieg unter Einsatz strategischer Atomwaffen ist höchst unwahrscheinlich. Nicht auszuschließen ist der Einsatz taktischer Kernwaffen. 

Die weit verbreitete und wieder angeheizte Angst, die bereits die Debatte um den Nato-Doppelbeschluss bestimmte, ist die vor der totalen Vernichtung durch eine Atombombe. Unterstellt, Putin würde dieses Instrument nutzen wollen, um Europa zu unterwerfen, stellen sich logisch zwei Fragen:

  1. Sollte ein solcher Mann die Gewalt über derartige Waffen haben? Sind wir dann je sicher?
  2. Wie weit unterwerfen wir uns solch einer Drohung? Denn wenn wir uns unterwerfen, dann kann lediglich mit Hilfe dieser Drohung ganz Europa besetzt werden.

Letzteres kann man für gut und richtig halten, es folgt der altbekannten Einstellung „lieber rot als tot“. Dies gilt vor allem, weil der Westen die Werte, für die er steht, ohnehin in weiten Teilen nicht mehr lebt, sodass sich viele die Frage stellen, wofür sie kämpfen sollen.

Demgegenüber kann man überzeugt sein, dass es sich für Freiheit und Selbstbestimmung und gegen einen totalitären Staat zu kämpfen lohnt, wobei Freiheit nie ein Geschenk ist, sondern stets erkämpft werden muss. Daher lohne sich der Kampf selbst dann, wenn der Westen aufgrund der modernen, ebenfalls totalitären Ideologien seine Werte in weiten Teilen verraten hat.

Eine realistische Einschätzung zeigt, dass der Einsatz einer alles vernichtenden Atombombe eher unwahrscheinlich ist, denn dann bliebe der Nato nur ein ähnlich starker Vergeltungsschlag, was keinem nützen würde. Die westliche Panik wird gezielt von Putin angeheizt und instrumentalisiert. Er hat sie zur Grundlage seiner Strategie gemacht. Die Betonung hier liegt auf Androhung: Nicht die Atombombe ist die Waffe, sondern die Angst vor der Atombombe.“

Diese Schwäche des Westens, das heißt, dass die Androhung von alles vernichtender Gewalt unter anderem durch Nuklearwaffen im Westen zu blinder Panik und Fluchtreaktionen führt, ist die Stärke Putins. Der Westen scheut – wie von ihm kalkuliert – die offene (militärische) Konfrontation. Diese befürchtet Putin, denn Russland wäre ihr nicht gewachsen. Der Krieg könnte so beendet werden.

Offen bleibt, ob Putin, wenn er in die Enge getrieben wird, zu taktischen Atomwaffen greift. Diese nuklearen Gefechtsfeldwaffen werden ähnlich wie konventionelle Waffen eingesetzt und sind in ihrem Wirkungskreis und ihrer Sprengkraft deutlich schwächer als strategische.

Der Einsatz solcher Waffen ist umso wahrscheinlicher, je weniger Abschreckung erfolgt. Die Ukraine hat keine Atomwaffen mehr, kann Putin also nicht abschrecken. Ob und unter welchen Umständen Atommächte wie die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich ihrerseits bereit wären, ihre Waffen zu einer glaubhaften Abschreckung in Stellung zu bringen, ist völlig offen. Es steht zu vermuten, dass Putin diese Gefahr geringschätzt, weil diese Staaten ihrer Garantenpflicht auch bisher nicht nachkamen. 

Dies bedeutet, dass Putin einerseits durch die Sanktionen und die Unterstützung für die Ukraine in die Ecke gedrängt wird, andererseits nichts aus seiner Sicht Erhebliches (klare Abschreckung, massiver Militäreinsatz des Westens) fürchtet. Damit ist das derzeitige Verhalten des Westens geeignet, eine weitere Eskalation zu befördern.

7) Gibt es einen Dominoeffekt?

Antwort: Ja. Russlands Eroberungskrieg in der Ukraine wird Folgen haben. Für den Fall eines russischen Erfolges werden sich alle früheren Sowjetregionen auf ein gewaltsames Zurückführen ins Imperium vorbereiten müssen. Das gilt sowohl für die noch paktfreien als auch für Nato- und EU-Mitgliedsländer unter ihnen.

Bereits mit der völkerrechtwidrigen Invasion Russlands in die Ost-Ukraine und die Krim wurden diese Gefahren im Rahmen einer Risikoanalyse von der Nato als real eingeschätzt und führten zur Verstärkung der Truppenpräsenz im Baltikum und in Polen. Neu gegründet wurde die sogenannte Very High Readiness Joint Task Force, also ein schnell verlegbarer Eingreifverband der Nato im Rahmen der Nato Response Force (NRF) in Brigadestärke.

Daran ist auch die Bundeswehr beteiligt. Derzeit werden die bisherigen Kontingente verstärkt und weitere zum Schutze der gesamten Ostflanken der Nato (zum Beispiel in Rumänien) entsandt. Das Szenario eines Überschwappens auf Nato-Gebiet wird mithin als hinreichend realistisch eingeschätzt.

Neben der Destabilisierung europäischer Nachbarländer und der Bindung finanzieller Ressourcen aufgrund der Flüchtlingsströme werden weitere Destabilisierungsrisiken in anderen Ländern gesehen. Dabei werden Staaten wie Bosnien und Serbien dem russischen Einflussbereich zugerechnet wie auch Libyen, wo Russland seit Jahren engagiert ist. Dort könnte die Teilung des Landes vertieft werden. Fraglich ist, ob Putin die Verhandlungen mit dem Iran über einen Atomvertrag torpediert.

Offen ist auch, wie China sich langfristig positioniert. Dies wird davon abhängen, wie erfolgreich Russland agiert. Ein Erfolg dürfte kriegerische Auseinandersetzungen im Indopazifik wahrscheinlicher machen.

Kritisch wird die deutsche Politik betrachtet: “But for all the cheering of Berlin, Germany’s allies and especially its Central and European neighbours have a right to be frustrated. After all, they have been trying to make Germans understand their security concerns for years.

Sollte Russlands Rechnung nicht aufgehen, könnte mit diesen Entwicklungen gerechnet werden:

Epilog

Die Verfasser dieses Artikels haben versucht, die Lage objektiv und neutral darzulegen. Daneben aber blutet ihnen als Mensch und als Eltern das Herz für jedes Kind, dass diese Schrecken erlebt, für jeden Zivilisten und jeden Soldaten, der bei diesem Krieg sinnlos stirbt. Auch für die immer und immer wieder durch ihre Despoten geschundenen und sinnlos geopferten russischen Soldaten und für die Bevölkerung Russlands hoffen wir auf ein baldiges Ende dieser von Putin gemachten Hölle auf Erden! 

Dieser Text ruft zu Verständnis und Solidarität mit der Ukraine auf, nicht zuletzt in unserem eigenen Interesse. Unsere Anteilnahme und unser Hoffen gelten der ukrainischen Bevölkerung. Wir, die Verfasser dieses Artikels, sind überzeugt, die Ukraine kämpft nicht nur für ihre, sondern auch für unsere Freiheit. Möge ihr Erfolg beschieden sein!

Einem häufig vernommenen Vorwurf, die Ukraine eskaliere die Prozesse mit ihrer Hoffnung auf die Nato, entgegnen wir in aller Deutlichkeit: Dürfen vor der Entrechtung Stehende nicht auf die Hilfe Starker hoffen? Den Ostdeutschen und vielen Mittelosteuropäern nach ihnen gelang der Sprung unter den Schirm. Ein gleiches sei den Ukrainern für die vor uns allen liegende Zeit zu gönnen. Und Russland? Den Russen möge eine demokratische Modernisierung nach Putin gelingen.

Slava Ukraini! Слава Україні! ??


Von Annette Heinisch und Gunter Weißgerber

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