Der deutsche Bundestag zählt im Verhältnis zur Bevölkerungsstärke zu den größten Parlamenten weltweit. Eigentlich sollten ihm 598 Abgeordnete angehören, zur Hälfte gewählt in 299 Wahlkreisen, zur Hälfte über Parteilisten. Seit 2017 sitzen tatsächlich 709 Volksvertreter im Reichstag. Die hohe Zahl der Überhangs- und Ausgleichsmandate bläht das Gesetzgebungsorgan auf. Im Jahr 2019 überschritten die jährlichen Kosten des Bundestagsbetriebs erstmals eine Milliarde Euro.
Zu einer Sitzungswoche kommen mit den 709 Abgeordneten, Mitarbeitern und Hauspersonal gut 6.000 Personen in Berlin zusammen. Nach der nächsten Bundestagswahl könnten sogar über 800 Abgeordnete im Plenarsaal sitzen – falls sich das Parlament nicht auf eine Wahlrechtsreform einigt. Die scheint jetzt tatsächlich im Schatten der Corona-Krise zu kommen: allerdings so, dass die Bürgerferne des Bundestages weiter wächst.
Die Folge: Das Gewicht im Bundestag verschiebt sich mit diesem Modell noch stärker zu den Parteilisten-Abgeordneten.
Wolfgang Schäuble mahnte die Fraktionsvorsitzenden, „dass ich eine Entscheidung des Parlaments erwarte – wenigstens eine Notlösung für die nächste Wahl, damit es am Ende nicht doch 800 Abgeordnete werden“. Wegen Corona findet die Debatte über die Gesetzesänderung bisher ohne große öffentliche Aufmerksamkeit statt.
Die eigentlich in der Verfassung nicht vorgesehene Drift hin zu Listenabgeordneten läuft schon seit 30 Jahren. Nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 waren von 662 Abgeordneten noch 328 direkt gewählt, also 49,55 Prozent. In dem 2017 gewählten Parlament finden sich unter den 709 Volksvertretern nur noch 299 direkt gewählte ( 42,17 Prozent). Mit der Reform, wie sie Schäuble und offenbar der Abgeordnetenmehrheit vorschwebt, könnten Bürger die Zusammensetzung des Bundestages in Zukunft zu weniger als 40 Prozent mit ihrer Erststimme beeinflussen. Partei-Außenseiter hätten drastisch geringere Chancen auf den Einzug in den Reichstag. Denn gegen den Willen der Parteiführung lässt sich ein aussichtsreicher Listenplatz kaum ergattern.
Grünen-Fraktions-Chefin Katrin Göring-Eckardt attackierte die Christsozialen für diese Haltung: „Es ist unverantwortlich, dass innerhalb der Union die CSU jede Lösung blockiert“, sagte sie der Süddeutschen Zeitung.
Aber auch der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Gunter Weißgerber, mittlerweile parteilos, mehrfach direkt gewählt, 2005 sogar mit dem besten SPD-Ergebnis in Sachsen, kritisiert die geplante Wahlreform: „Diese Republik würde eine andere. Eine hässlichere. Galt bisher das Primat des direkt erworbenen Mandats, soll nach Schäuble zukünftig das Primat der Parteifunktionärslisten gelten. Die Bundesrepublik auf dem Weg in eine Funktionärsrepublik?“