Tichys Einblick
Den globalen Ausnahmezustand nutzen

Die Grünen wollen das Land und seine Bürger mit einer Regulierungswelle überziehen

Im Ausnahmezustand der Corona-Krise sehen die Grünen eine Gelegenheit, so viele Wähler für ihre Vorstellungen von einer durchregulierten Gesellschaft zu gewinnen, dass sie nach sechzehn Jahren Opposition sogar das Kanzleramt erobern können.

picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Bei der Bundestagswahl 2017 erhielten Bündnis 90/Die Grünen 8,0 Prozent der Erst- und 8,9 Prozent der Zweitstimmen. Dass eine Partei eine Legislaturperiode später zur stärksten Fraktion wird und den Kanzler stellt, wäre in der Geschichte der Bundesrepublik ein Novum, das allenfalls in der von Krisen und Ausnahmezuständen geprägten Geschichte der Weimarer Republik gewisse Vorläufer hätte. Auf solche Zustände scheinen indes auch die Grünen zu setzen, um ab September nicht nur in die Regierung, sondern sogar ins Kanzleramt zu gelangen. Im Vorspann ihres 136 Seiten umfassenden Wahlprogramms laden sie die „lieben Wählerinnen und Wähler“ jedenfalls dazu ein, ein „inhaltliches Angebot“ anzunehmen, das die Partei ihnen in „einer Zeit des globalen Ausnahmezustands“ unterbreite. Gleichzeitig erklären sie, erstmals seit ihrer Gründung bei einer Bundestagswahl nicht mehr nur um eine Regierungsbeteiligung, sondern inhaltlich wie personell „um die politische Führung in diesem Land“ zu kämpfen.

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Gute Chancen, dies auch zu erreichen, leiten sie offenkundig keineswegs nur aus ihren letzten Wahlerfolgen bei Landtagswahlen, insbesondere in Baden-Württemberg, und den Stimmenzuwächsen in Umfragen, sondern auch aus der aktuellen Corona-Krise ab. Sie zeige, „dass wir Krisen in gemeinsamer Kraftanstrengung bewältigen können.“ Ob aufgrund der Begeisterung für eine Politik des Ausnahmezustands das dabei genutzte Instrument der Aussetzung von freiheitssichernden Grundrechten zukünftig auch für die Bewältigung anderer „Ausnahmezustände“, etwa auf den Gebieten der Klimapolitik oder der Migrationspolitik, zum Einsatz kommen soll, lassen die Grünen offen. Gleichwohl ist das Wahlprogramm, mit dem in Deutschland ein Zustand des „klimagerechten Wohlstands“ und der „Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen“ erreicht werden soll, aber erkennbar von einem Geist der Vorschriften und Verbote und damit der Unfreiheit durchzogen.

So soll nicht nur eine „CO2-Bremse“ für alle Gesetze, sondern zum Beispiel in der öffentlichen Haushaltsführung auch ein „Gender-Budgeting“ eingeführt werden, mit dem öffentliche Einnahmen und vor allem Ausgaben gendergerecht gestaltet werden sollen. Desweiteren soll die Besteuerung in Zukunft nicht mehr nur nach dem Wohnsitz, sondern auch nach der Nationalität erfolgen. Wer als deutscher Staatsbürger ins Ausland zieht, muss weiterhin in die Staatskasse einzahlen. Das Land würde von einer regelrechten Regulierungswelle in allen möglichen Lebensbereichen überzogen, sollten die grünen Pläne Wirklichkeit werden.

Gleichsam als Ausgleich wird den Wählern am Ende des Wahlprogramms versprochen, sie „etwa über Bürger*innenräte, die frühe Einbeziehung von Bürger*innen bei Planungsprozessen, die transparente Einbeziehung der demokratischen Zivilgesellschaft und wissenschaftlicher Fakten“ an der Regierungsarbeit zu beteiligen. Ein Ansatz, der stark an Konzepte des „partizipativen Managements“ erinnert, mit dem Unternehmen seit den 1990er Jahren ihre direktiven Führungsmodelle ergänzen und legitimatorisch stabilisieren, ohne sich dadurch selbst daran zu hindern, im Bedarfsfall per „Ordre de Mufti“ zu führen. Zurecht betrachten zum Beispiel Gewerkschaften und Betriebsräte diese Konzepte deswegen auch als einen Versuch, den weiteren Ausbau verbindlicher Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer über das Betriebsverfassungsgesetz zu verhindern.

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Denselben Weg beschreiten nun offenbar auch die Grünen. An die Stelle ihrer einstigen Forderung, die direkte Demokratie durch Volksabstimmungen auch auf Bundesebene verfassungsrechtlich zu stärken, sind inzwischen rechtlich unverbindliche Partizipationsansätze getreten. Dies dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass die Grünen fürchten, die Mehrheit der Bürger könnte mit vielen ihrer in ihrem Wahlprogramm beschriebenen Regulierungsmaßnahmen nicht einverstanden sein und, wie zum Beispiel in der Schweiz oder auch in Großbritannien, mittels Instrumenten der direkten Demokratie gegen ihre freiheitsfeindliche Politik in Stellung gebracht werden.

Was ihnen einst als gegen den politischen Mainstream gerichtete Protestpartei noch als geeignetes Mittel für eine Umsetzung ihrer politischen Ziele erschien, werten sie auf ihrem Weg zur Regierungspartei inzwischen als eine Gefahr für die künftige Durchsetzung dieser Ziele. Diesen Sinneswandel versuchen sie durch eine der organisationswissenschaftlichen Change Management-Lehre entlehnte Partizipations-Folklore zu kaschieren, die insbesondere diejenigen zivilgesellschaftlichen Gruppen politisch wie aber auch finanziell bedienen will, die die grüne Agenda vertreten und mitbetreiben.

Zu ihrem Sinneswandel haben die Grünen angesichts ihres regulierungssüchtigen Wahlprogramms freilich auch alle Gründe. Viele der dort vorgestellten Ziele und Maßnahmen, sei es auf dem Gebiet der Umwelt- und Klimapolitik, der Wirtschafts- und Finanzpolitik, der Europapolitik oder der Asyl- und Migrationspolitik sind in der deutschen Bevölkerung alles andere als mehrheitsfähig und würden bei ihrer zielgenauen Umsetzung erhebliche Widerstände und Proteste hervorrufen, wie wir sie zum Beispiel beim radikalen Ausbau der Windkraft schon heute erleben. Das wissen auch die Grünen.

Sie setzen daher darauf, bei der Bundestagswahl ihren Stimmenanteil und damit ihre Sitze im Bundestag zumindest soweit zu erhöhen, dass ohne sie keine neue Regierung gebildet werden kann und mögliche Koalitionspartner deswegen gewillt sein werden, einen erheblichen Teil ihres Programms mit ihnen gemeinsam umzusetzen. Dafür sind sie bereit, mit allen derzeit im Bundestag vertretenen Parteien, außer der AfD, zu koalieren. Je nach Ausgang der Wahlen werden sie dies auch tun, es sei denn, die von den Grünen heftig umworbenen Parteien lehnen angesichts des grünen Wahlprogramms schon vor den Wahlen, spätestens aber danach eine Koalition mit dieser Partei ab.

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Bei der SPD und der Linken kann man dies ausschließen, so dass es also vor allem von CDU/CSU, möglicherweise aber auch von der FDP abhängen wird, ob die Grünen Gelegenheit bekommen, ihre Vorstellungen von einer „sozial-ökologischen Transformation“ des Landes umzusetzen. Folgt man den bisherigen Erklärungen der Führungsspitzen dieser Parteien, dann sind alle drei dazu bereit, den Grünen nach sechzehn Jahren Opposition wieder in Regierungsämter zu verhelfen, um von dort aus mit gewissen Abstrichen die grüne Agenda gemeinsam umzusetzen. Wohl noch nie ist es in der Geschichte der Bundesrepublik einer Partei gelungen, das Agenda-Setting möglicher Koalitionspartner vor einem Bundestagswahlkampf so stark mit den eigenen Zielen und Inhalten zu füllen wie den Grünen. Jenseits der AfD gibt es deswegen inzwischen keine Partei mehr, die sich den Grünen programmatisch entgegenstellt.

Insbesondere die beiden Unionsparteien CDU und CSU treiben so einen wachsenden Teil ihrer Wähler regelrecht in die Arme der Grünen. Diese müssen ihre ambitionierten Wachstumsziele inzwischen auch vorwiegend auf Kosten von CDU und CSU realisieren, nachdem das Wählerreservoir der SPD schon ziemlich abgeschöpft ist. Sollten die Grünen bei der Bundestagswahl die 20-Prozent-Marke mehr oder weniger deutlich überschreiten, dann wäre dies nur möglich, wenn die Unionsparteien zusammen die 30-Prozent-Marke ebenso deutlich unterschreiten.

Schon seit längerer Zeit tun sie so gut wie nichts dafür, dass dies unterbleibt, offenbar in der vagen Hoffnung, noch einmal die stärkste Fraktion zu stellen und so das Kanzleramt zu halten. Das ist inzwischen aber keineswegs mehr sicher, sollte sich das Corona-Debakel der Regierung bis September weiter fortsetzen oder gar noch verschärfen. Die Union könnte nach dem Wahlabend auch vor der Frage stehen, ob sie, wie in Baden-Württemberg, als Junior-Partner in eine grün-schwarze Regierung eintritt oder einer grün-rot-gelben Koalition den Vortritt lässt.

Angesichts solcher Perspektiven werden in der Union mittlerweile Stimmen lauter, die vor einer Fortsetzung des bisherigen Schmusekurses mit den Grünen warnen. So appelliert etwa der Wirtschaftsrat der CDU an die Parteiführung, endlich in die inhaltliche Auseinandersetzung mit den grünen „Öko-Populisten“ zu gehen. Deren Erfolge liegen laut seines Generalsekretärs, Wolfgang Steiger, „auch an der mangelnden Konfliktbereitschaft der Union“. Die von Angela Merkel praktizierte Strategie der „asymetrischen Demobilisierung“ der Wähler anderer Parteien durch die Übernahme ihrer politischen Ziele und Inhalte müsse zu den Akten gelegt werden, nachdem dadurch inzwischen Scharen von Unions-Wählern zu den Grünen abwanderten. Die Union müsse sich stattdessen „offensiv mit eigenen Zukunftskonzepten der politischen Auseinandersetzung stellen“.

Ob derlei Appelle in der Union fruchten, ist freilich eher zu bezweifeln. Zu sehr leben die Parteiführungen von CDU und mittlerweile auch der CSU in der Vorstellung, ein Konzept, das gegen die SPD und deren Ziele und Inhalte lange Zeit erfolgreich funktionierte, werde auch gegen die Grünen und deren Ziele und Inhalte ebenso wirken. Diese haben, zumindest in Baden-Württemberg, den Spieß inzwischen allerdings umgedreht und viele ehemalige Unionswähler dazu gebracht, grün oder gar nicht mehr zu wählen. In den Parteizentralen von CDU und CSU müssten deswegen mittlerweile sämtliche Alarmglocken klingeln. Zu hören ist bislang in der Öffentlichkeit aber allenfalls ein leises Bimmeln.

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