Tichys Einblick
Koalitionswechsel in Berlin?

Die SPD steckt in der selbstgebauten AfD-Falle

Bisher galt immer: Wenn die Partei mit dem blauen Logo eine Position unterstützt, muss sie falsch sein. In der Waffenlieferungs-Frage steht die SPD plötzlich Weidels Truppe näher als den eigenen Ampel-Partnern – verkehrte Welt in Berlin.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit der SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken und dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich im Deutschen Bundestag, Berlin, 23. November 2022

IMAGO / photothek

Es passiert nicht oft, dass der Vorsitzende der AfD dem Bundeskanzler beispringt. Die Position von Olaf Scholz, mit immer neuen Begründungen keine Leopard-Panzer an die Ukraine zu liefern, teilt Tino Chrupalla jedenfalls voll und ganz. „Bleiben Sie standhaft, Herr Bundeskanzler“, erklärte der AfD-Chef vor wenigen Tagen. Statt Panzer zu liefern, sollte er sich für eine „diplomatische Lösung“ einsetzen. Bisher galt bei den Berliner Regierungsparteien, besonders bei SPD und Grünen: Wenn die AfD etwas politisch unterstützt, dann bedeutet das den Tod der entsprechenden Position oder Forderung – egal, worum es sich handelt. Gegen die Union setzten die beiden linken Parteien dieses Mittel immer wieder ein. Zuletzt sehr lautstark, nachdem die CDU im Berliner Abgeordnetenhaus nach den Vornamen der Beteiligten an den Silvester-Ausschreitungen fragte. Das, so SPD, Grüne und Linke empört, hätte auch von der AfD kommen können.

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In diesen Tagen gibt es bei der Frage der Panzer-Lieferung ein interessantes Schauspiel im politischen Berlin: In ihrer Forderung, auf keinen Fall das schwere Gerät zu liefern, sondern stattdessen auf Verhandlungen der Kriegsparteien zu drängen, stehen die AfD Chrupallas und die SPD-Fraktion von Rolf Mützenich einander so nahe wie Koalitionspartner – während Mützenich verbal auf die Vertreter der anderen Ampel-Parteien einschlägt, als handle es sich um den politischen Gegner. Umgekehrt erklärte die FDP-Wehrexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Kommunikation des Kanzlers in der Panzer-Frage sei „eine Katastrophe“. So attackieren normalerweise Oppositionspolitiker den Regierungschef. Angesichts dieser paradoxen Frontenbildung sitzt die SPD in der selbstgebastelten Falle: Dass die AfD die Position von Scholz und Mützenich unterstützt, soll nun argumentativ plötzlich keine Rolle mehr spielen.

Die AfD fordert nach TE-Informationen, die Bundesregierung solle sich für Waffenstillstandsverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland einsetzen. Einen entsprechenden Antrag wird sie demnächst in den Bundestag einbringen. Auch dieser Vorschlag könnte exakt so von Mützenich und dessen Unterstützern stammen. Der AfD-Antrag sieht die „Entsendung einer internationalen Friedensdelegation“ unter Leitung der Vereinten Nationen oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vor, um „eine Feuerpause von mindestens 90 Tagen“ sowie die „zeitnahe Entflechtung der beteiligten Truppen um mindestens 30 Kilometer“ auszuhandeln.

Für ein späteres Friedensabkommen schlägt die Partei vor: Rückzug der russischen Streitkräfte aus dem ukrainischen Staatsgebiet auf den Stand vom 24. Februar, außerdem die Schaffung von UN-Protektoraten in den vier von Russland beanspruchten Gebieten, deren Bevölkerung über ihre staatliche Zugehörigkeit abstimmen soll. Zudem müsse Russland eine „privilegierte EU-Partnerschaft der Ukraine“ akzeptieren. Auf der anderen Seite müsste die Ukraine militärisch bündnisfrei bleiben, und die Krim als russisch anerkennen.

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Nach derzeitigem Stand hätte dieser Vorstoß – egal, von wem er käme – keine realistischen Chancen auf Verwirklichung. Innenpolitisch spielt er in Deutschland durchaus eine Rolle. Denn er deckt sich weitgehend mit der Position von Fraktionschef Mützenich, die SPD sei vor allem „Friedenspartei“ – und widerspricht der Haltung der meisten Abgeordneten in den Fraktionen von Grünen und FDP.

Die BILD und andere Medien berichten, es gebe bereits hinter den Kulissen Gespräche über einen Wechsel von Grünen und FDP in ein Bündnis mit der Union. Unionsfraktions-Vize Thorsten Frei und Außenpolitiker Norbert Röttgen signalisierten, sie seien für Gespräche offen. Auf der anderen Seite zeigt SPD-Chef Lars Klingbeil Nerven: Er forderte öffentlich von FDP-Chef Christian Lindner, auf Abgeordnete wie Strack-Zimmermann einzuwirken: „Ich würde mit den entsprechenden Leuten mal reden. Das wirft ja auch kein gutes Licht auf die eigene Parteiführung, wenn da Leute andauernd so unterwegs sind.“

Wie stark sich die Verhältnisse in Berlin gerade verschieben, zeigt das – bis jetzt noch unwahrscheinliche – Gedankenexperiment einer freien, nicht der Koalitionsdisziplin unterworfenen Abstimmung im Bundestag über die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine. In diesem Fall gäbe es wahrscheinlich eine Mehrheit von Union, Grünen und FDP. Der SPD blieben zwei Unterstützer: die AfD und die Linkspartei.

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