Tichys Einblick
Ostfildern ist überall

„Waffengebrauch“ gegen Spaziergänger? – Rote Linien gelten nicht mehr

Die Anzahl der Corona-Spaziergänger nimmt weiter zu. Die Demonstranten werden jünger – und linker. Der Staat reagiert hilflos und versucht, die Proteste zu delegitimieren.

Auf den flachen Feldern um Stuttgart herum werden Krautköpfe und Gemüse angebaut, und dazwischen bauten die Stuttgarter ihre Reihenhäuser, solange dies wirtschaftlich noch möglich war. Die Kehrwoche streng eingehalten. In der Stadt Ostfildern mit ihren 39.000 Einwohnern will Oberbürgermeister Christof Bolay jetzt besonders durchgreifen – nicht nur mit dem Kaercher, wie einst Nicolas Sarkozy, sondern gleich mit der Androhung von „Waffengebrauch“. Denn in Ostfildern droht der Volksaufstand gegen Corona, und da kann keine Maßnahme zu scharf sein. Vermutlich fühlt er sich von seinem Parteifreund und Bundeskanzler gedeckt, der erklärt hat: Für seine Regierung „gelten keine roten Linien mehr“. Die Staatsgewalt hat ihren Auftrag verstanden.

Waffengebrauch, weil die Fußgängerampel missachtet wird

„Um sicherzustellen, dass das Versammlungsverbot eingehalten wird, wird die Anwendung unmittelbaren Zwangs, also die Einwirkung auf Personen durch einfache körperliche Gewalt, Hilfsmittel der körperlichen Gewalt oder Waffengebrauch angedroht“, hat er verfügt. 

Tatsächlich ist der Zulauf zu Spaziergängen in Ostfildern gewaltig: „Am 3. Januar 2022 nahmen etwa 20 Personen daran teil, am 10. Januar 2022 ungefähr 30 und am 17. Januar 2022 rund 100 Personen. 24. Januar 2022 versammelten sich ungefähr 140 Personen “, so der Polizeibericht. Und es kam zu erheblichen Störungen der öffentlichen Ordnung: So wurden kaum Masken getragen, rund 20 Radfahrer mussten wegen der Demonstration absteigen. Vor allem aber:

„Beim Überqueren der Fahrbahn bei der Fußgängersignalanlage Rinnenbachstraße/Parkstraße betraten mehrere Versammlungsteilnehmer die Fahrbahn, als das Signal für Fußgänger „rot“ anzeigte und gefährdeten durch ihr Überqueren der als Landesstraße klassifizierten, stark befahrenen Rinnenbachstraße sich selbst und die anderen Verkehrsteilnehmer.“ Weil sich die Demonstranten selbst an Leib und Leben gefährden, hilft nur Gewalt?  

Man könnte über den Oberbürgermeister lachen, ihn als einen geistig schlichten „Dorfschulzen“ verhöhnen. Tatsächlich aber drückt er nur etwas plump und brutal aus, was zunehmend zur eigentlichen Gefährdung dieses Staatswesens führt: die Außerkraftsetzung des Grundgesetzes mit immer dümmeren Begründungen. Jetzt reicht also schon das Überqueren einer Fußgängerampel bei Rot, um Waffengewalt anzudrohen und das früher grundgesetzlich garantierte Recht auf Protest auszuhebeln? Was sind Grundrechte noch wert bei solchen „Allgemeinverfügungen“?

In größeren Städten macht man es sich ebenso einfach, nur die Begründungen sind komplizierter als die des Oberbürgermeisters von Ostfildern. In Hamburg erklärte der rotgrüne Landesverfassungsschutz laut Welt, die Verfassungsschutzbehörden bundesweit, so auch der Hamburger Verfassungsschutz, würden den neuen Phänomenbereich „Demokratiefeindliche und sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“ beobachten. Es gebe bei den extremistischen Delegitimierern Überschneidungen mit dem rechtsextremistischen Spektrum und auch mit der sehr heterogenen Reichsbürger-Szene; „insgesamt ist dies aber ein eigener extremistischer Phänomenbereich, der im nächsten Verfassungsschutzbericht auch so beschrieben wird.“

Proteste nehmen zu

Es ist ein kaum klügerer Versuch als in Ostfildern, die Inanspruchnahme des Grundrechts nach Artikel 8 zu verhindern. Da heißt es so schön und seltsam eindeutig, wie ein Gedicht aus alten Zeiten: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“

Kein Wunder, dass die Proteste eher zunehmen, aber auch ihren Charakter verändern. In Frankfurt meldete die Polizei rund 4.000 Teilnehmer. Die Zahl ist offenkundig weit nach unten revidiert; nach glaubwürdigen Schätzungen dürften es mindestens doppelt so viele Teilnehmer gewesen sein. Die Polizei stellte Hubschrauber und Wasserwerfer sowie ein riesiges Mannschaftsaufgebot im gesamten Stadtbereich bereit – und begleitete diesmal friedlich die Demonstranten, die sich dafür artig bedankten.

Aber die Veränderung ist auffällig: Um die Jahreswende waren es noch meist ältere Männer und Frauen, die durch die Einkaufsstraßen wie die Zeil huschten und sich vor der nahenden Staatsmacht in Nebenstraßen verkrümelten. Ältere Damen haben noch Respekt vor der Polizei, die ihnen trotzdem „Platzverweise“ erteilten.

Mittlerweile allerdings ist das Zahlenverhältnis so, dass sich das friedliche Verhalten der Polizei zwangsweise ergibt – und die Polizisten reagieren im Einzelfall trotzdem aggressiv und genervt. Vermutlich addieren sie ihre Überstunden und stellen sie geistig jedem einzelnen Demonstranten in Rechnung.

Die Demonstranten sind jünger geworden – und linker. So verteilt ein „Rhein-Main-Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne“ Flugblätter, die gegen die Pharmakonzerne wettern – das alte Motiv des Anti-Kapitalismus. Man erkennt die ordnende Hand der üblichen aufrührerischen und in vielen Schlachten gestählten Demo-Profis: Lautsprecher spielen die antifaschistischen Gassenhauer wie „Bella Ciao, bella Ciao“; das hebt das Herz, weil man sich im Kampf gegen den Faschismus vereint fühlt. Die Sprechchöre werden mit Megaphonen angeheizt.

Die Demonstranten sind deutlich jünger geworden, gemessenen Schrittes marschieren auch die Grauköpfe der Anti-AKW und Anti-Gen und Anti-Vielerlei mit. Neben den erfahrenen Demonstranten zu marschieren, wirkt beruhigend. Sie geben gerne Tipps für den Umgang mit der Polizei. Auch bei den älteren Damen im Zug sinkt damit die Angst vor den Polizisten in ihren galaktischen Kampfanzügen, die mehr an interstellare Raumkrieger erinnern denn an das, was der Vergangenheit angehört: einer Bürgerpolizei. Es ist absehbar, dass es früher oder später wirklich krachen wird, wenn die jugendlichen Demonstranten ihren Übermut abkühlen wollen. Aber rechts – sind sie nicht. Und die Plakate werden professioneller.

Der Demonstrationszug geht durch das Nordend. Hier haben sich in den vergangenen 30 Jahren die grünen und roten Akteure des Stadtgeschehens eingenistet; meist preisgünstig in städtischen Altbauwohnungen. Vor ihrem Edelitalliener mit dem Glas Rotwein in der Hand beschimpfen sie die Demonstranten als Nazis. „Querficken statt Querdenken“ empfehlen sie; wenigstens auf ihren Plakaten ist noch etwas vom alten Geist übrig geblieben.

„Es ist Unruhe im Viertel“, sagt Karin Guder (Grüne), Ortsvorsteherin im Nord­end, der lokalen FAZ. „Die Menschen fühlen eine aggressive Stimmung“, sagt sie.

Demonstrationen stören plötzlich die Samstags-Ruhe des rotgrünen Establishments. Die FAZ sorgt sich um Kindergeburtstag im stadtnahen Holzhausenpark, der vom Ordnungsamt zum Aufmarschgebiet der Spaziergänger bestimmt wurde. Sonst würden dort am Samstag bei Kälte und Finsternis doch so viele Kindergeburtstage stattfinden, jammert die Zeitung.

Ostfildern ist eben überall.

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