Tichys Einblick
Die seit Jahren geführte Migrationsdiskussion

Vor dem Gipfel (und danach): Sorge um das Parteiensystem

Der Streit um Zurückweisungen an der Grenze geht in seinen „High Noon“. Die Union hat sich in eine fast unlösbare Situation gebracht. Markus Söder nutzt das Feld keck, um sich als Kanzlerkandidat zu empfehlen. In dieser Situation ordnet Nancy Faeser plötzlich Kontrollen an.

picture alliance/dpa | Patrick Pleul

Kommt der Migrations-Deal zwischen Union und Ampelparteien oder kommt er nicht? Das ist die politische Frage dieser Tage. Und viel spricht derzeit nicht dafür, auch der mögliche Nutzen scheint vernachlässigbar. Interessant sind aber doch die manchmal karnevalesken Verrenkungen, die die Spitzendarsteller in dieser Angelegenheit machen.

Zum Überraschungsschlag hat Nancy Faeser (SPD) ausgeholt. Die Bundesinnenministerin ordnete heute Kontrollen an allen deutschen Grenzen an. Dadurch bestehe an allen deutschen Landgrenzen „das gesamte Bündel an stationären und mobilen grenzpolizeilichen Maßnahmen“ einschließlich der Möglichkeit von „Zurückweisungen nach Maßgabe des europäischen und nationalen Rechts“ – so teilte das Bundesinnenministerium mit. Grund dafür sei die Erforderlichkeit, die irreguläre Migration weiter zu begrenzen und der Schutz der inneren Sicherheit aufgrund der Gefährdung durch islamistischen Terrorismus und schwerer grenzüberschreitender Kriminalität. „Wir stärken die innere Sicherheit und setzen unseren harten Kurs gegen die irreguläre Migration fort“, sagte Faeser.

Die Kontrollen sollen am 16. September in Kraft treten. Etwas, das seit fast zehn Jahren als ausgeschlossen galt, kann die Innenministerin plötzlich von heute auf morgen bestimmen. Die Frage, wer den größeren Bären aufgebunden hat – Faeser, Scholz oder doch die ganzen angeblichen Rechtsexperten in ihrem Schlepptau, die behauptet hatten, dies sei gar nicht möglich – geht dabei völlig unter. Eine ganz besondere Rolle spielt auch Angela Merkel, die einmal behauptet hatte, die 3.000 Kilometer Grenze Deutschlands könne man gar nicht schützen. Stattdessen hatte man anschließend Erdogan bezahlt, damit dieser seine 7.000 Kilometer lange Grenze schützen sollte.

Einen ebenso unterhaltsamen Beitrag zur Diskussion liefert das Interview, das der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) dem „Bericht aus Berlin“ am Sonntagabend gab. Ganz plötzlich sei es „uns über den Kopf gewachsen“, sagte Söder da, jenes Problem mit einer Unzahl von Asylanträgen, die jedes Jahr aufs Neue an deutschen Grenzen gestellt werden. „Über den Kopf gewachsen“ – das gilt sonst für Aufgaben und Aufträge, die man eingegangen ist, mit denen man aber technisch nicht zu Rande kommt, weil sie zu groß oder zu kompliziert, in Politiksprache „zu komplex“ sind. Das ist also fast ein Problem von Kanzlerausmaßen.

Das Land sei inzwischen auch „kulturell überfordert“, nicht nur organisatorisch. „In vielen deutschen Städten“ fühlen sich „die deutschen Einwohner“ gar nicht mehr zuhause, so Söder. Und auch nicht mehr sicher, muss man hinzusetzen. Nun will Söder von 300.000 Asylanträgen runter auf „weit unter 100.000 auf Dauer“. Das ist noch nicht die dänische Null-Ankünfte-Politik, die im Norden durch Wildschweinzäune und kluge Gesetze gesichert wird. Auch FDP-Chef Christian Lindner will laut dem ARD-Bericht „eine Form der Zurückweisungen“ praktizieren – neben anderen Instrumenten. Aber es geht bei beiden Parteichefs immer um gebändigte Opposition nahe an den Trögen der Macht, und die werden derzeit noch von Linken kontrolliert.

Maulkorb vom SPD-Vize zu vergeben

„Mehr als 20 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund sind integraler Bestandteil unserer Gesellschaft“, ermahnte denn auch der SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese die beiden Chefs über das Partei-Organ Redaktionsnetzwerk Deutschland und will damit offenbar eine Fingerklemme ansetzen, bald schon einen Maulkorb verteilen. Die Union müsse „auf ihren Ton in der Migrationsdebatte achten“ – warum genau, sagt Wiese nicht. Um den 20 Millionen nicht zu missfallen? Aber denen missfällt die Ampelpolitik heute wohl deutlich mehr, wie neueste Umfragen von null (in Zahlen: 0) Prozent Zustimmung zeigen.

Zugleich lobt Wiese, dass „Regierung und Opposition gemeinsam nach Lösungen suchen“. Ein starkes Zeichen sei das. Aber zu stark soll es auch nicht ausfallen. Denn dann würde man ja verhindern, dass aus den 20 Millionen mehr werden, die nicht allein Migrationshintergrund haben, sondern eigene Migrationserfahrung, also ein ganzes System von Werten und Unwerten mit sich nach Deutschland führen, das zum Teil sicher schon da ist: Großfamilien, Stammes- und Clanstrukturen berichten davon. Und eine Verstärkung dürfte die Unzufriedenheit mit der Ampel noch einmal erhöhen.

Wird die Union am Konferenztisch weich?

Es scheint da wenig Einigkeit zu geben und insofern wären die Chancen gut, dass die Union unverrichteter Dinge wieder vom Konferenztisch zieht und sich nicht auf einen Deal mit den Ampelparteien einlässt. Aber das sind ja auch nur die Flaggenträger oder Majoretten (vor allem Söder), die dem großen Spielmannszug voranziehen. Die Nachhut spricht zum Teil schon gemäßigter.

Die CSU-Innenexpertin Andrea Lindholz will die neueren Unionsvorschläge als „klare Wende in der Migrationspolitik“ verstanden wissen, spricht dann aber doch lediglich von der „Lage angepassten, flexiblen Grenzkontrollen“ und „Zurückweisungen auch für diejenigen, die über sichere europäische Länder zu uns kommen“. Das klingt schon halb-windelweich, als wollte man doch nicht alle konsequent zurückweisen, die über die sicheren EU-Länder kommen. Dirk Wiese freut sich bereits auf die „konstruktive Rolle“ der Union bei einer „gut organisierten Zuwanderungspolitik“. CDU und CSU könnten nach den flotten Merz-Sprüchen gezwungen sein, einen Kompromiss auf dieser Grundlage zu akzeptieren.

Die Union scheint zum Tigersprung angesetzt zu haben, aber als Bettvorleger enden zu wollen. Oder sie geht erhobenen Hauptes wieder aus diesen von ihr selbst angezettelten Gesprächen, was aber wenig wahrscheinlich klingt. Die Wortführer Merz und Frei, die sich mit Ultimaten hervortun, blenden dabei vollkommen aus, dass Verhandlungen ihrem Wesen nach ergebnisoffen sind. Sie funktionieren nicht so, dass man noch vor dem Beginn die Ergebnisse diktiert. Die Union wäre besser beraten, sich passende Mehrheiten zu suchen, anstatt sich quasi pädagogisch an Rot-Grün und Gelb zu versuchen.

Gemeinden fordern „Taskforce Abschiebungen“ vom Bund

Die Gelben und konkret der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai laut Rheinischer Post wollen dem Dublin-System der EU wieder zu voller Geltung an deutschen Grenzen verhelfen und also „Flüchtlinge, die kein Recht haben, in Deutschland Asyl zu beantragen“, nicht ins Land lassen, sie also, lange bevor sie Sozialleistungen erhalten, zurückweisen. Obwohl, das sagt Djir-Sarai nicht so deutlich, man eigentlich nur EU-Regeln anwenden will und sich also zu deren dauerhaftem Knecht macht. Da war Hans-Jürgen Papier schon weiter. Dennoch geht auch der FDP-General wie die CSU-Innenexpertin davon aus, dass das Endergebnis einer „Neuordnung der Migrationspolitik“ entspreche, und das wolle man „schnell und entschlossen vorantreiben“, weil sonst die „politischen Ränder“ gestärkt würden. Schon wieder das Parteiinteresse vor den Interessen des Landes.

Gottfried Curio, innenpolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, hält die Gespräche für ein „Medien-Event“, das „inszeniert werden soll“. Mehr als PR für ein etwa kommendes schwarz-rotes Bündnis kann Curio darin nicht erkennen. Nötig wäre nach ihm der Wille zu wirklich umfassenden Zurückweisungen an der Grenze: „Dass die Ampel das nicht will, hat sie mit ihrer gesamten bisherigen Politik bekundet.“

Die Linkspartei will derweil deutsche Gemeinden zu „Orten der Integration“ machen und sie daher mit an den Tisch der Gespräche zwischen Ampel und Union holen. Wenn einer für die deutschen Gemeinden sprechen kann, dann ist es der Deutsche Städte- und Gemeindebund. Der fordert aber etwas ganz anderes: eine „Taskforce Abschiebungen“, die der Bund einrichten und führen soll. Man hört überdeutlich die Forderung heraus, endlich das Behörden-Pingpong und bürokratische Wirrsal in der Abschiebungspraxis zu beenden, indem der Bund Verantwortung für die von ihm geschaffenen Probleme übernimmt und selbst Abschiebungen durchführt, statt sie an Länder und kleinere Behörden zu delegieren.

Seehofer sorgt sich um das Parteiensystem

Nun kommen auch all die Stimmen, die es angeblich schon immer besser zu machen gewünscht haben wollen – aber das nur im Geheimen. Zwar hatte Horst Seehofer (CSU) als Vorgänger von Markus Söder und Nancy Faeser auch zwischen 2015 und 2018 öfter die Stimme erhoben, um Merkel ihr „enttäuschendes“ Verhalten in Fragen der Grenzöffnung vorzuwerfen, aber es geht ihm auch heute noch erkennbar zuerst um seine Partei, wenn er sagt: „Sie hat aber nicht verstanden, dass durch ihr Verhalten die politischen Ränder, vor allem der rechte, enorm gestärkt werden.“ Die „Entscheidung von 2015“ habe die AfD „in die Parlamente gespült“.

Es ist das innere Berliner Zirkelspiel und keineswegs die schärfste Kritik an Merkels Politik. Seehofer zeigt damit: Das Hemd ist ihm näher als der Rock. Die Interessen des Landes stehen allenfalls an zweiter Stelle hinter den Bedürfnissen des Parteienstaats. Daneben findet Seehofer auch noch, dass Merkel die meisten anderen Krisen (einschließlich Euro-Rettung und Corona-Zeit) „nicht schlecht“ gemanagt habe.

Noch jämmerlicher ist freilich nur Volker Bouffier (CDU), damals hessischer Ministerpräsident, der Merkel im persönlichen Gespräch dazu aufgefordert haben will, öffentlich zu „sagen, dass es so nicht weitergeht“. Das „hat sie aber nicht gemacht“. Ja, zu wenig, zu spät, zu leise, zu verdruckst, Herr Bouffier! Einer in dieser Position kann nicht so tun, als hätte er keine öffentliche Stimme gehabt, als wäre er nicht dazu in sein Amt gewählt worden. „Das Bild, dass alle ‚welcome‘ riefen, als die Flüchtlinge ankamen, verschwand relativ schnell“, meint Bouffier dann auch noch, was zumindest medial bis weit nach Silvester 2015 nicht so war. Medial rufen noch heute fast alle „welcome“.

Diese Zitate entstammen einem neuen Buch des FAZ-Redakteurs Eckart Lohse darüber, was in 16 Jahren Merkel-Kanzlerschaft „schiefging“. Darin trägt auch kein anderer als Roland Koch den Poesiealbumseintrag bei: „Angela Merkel hat Grundsätze, hat sich aber dafür entschieden, pragmatische Politik zu machen, statt Überzeugungen durchzusetzen.“ Das scheint etwas Positives zu sein, wenn man seine Überzeugungen quasi an der Kanzleramtsgarderobe abgibt, wahlweise in Brüssel oder Davos. Und das könnte auch auf ihre neueren Nachfolger an der Spitze von CDU und CSU zutreffen.

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