1983 verkündete Ralf Dahrendorf „das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“. Die SPD versteht das bis heute als unheilvolle Prognose für sozialdemokratische Parteien. 1997 widersprach er George Soros, dass nach dem Ende des Kommunismus der Kapitalismus der größte Feind sei.
Als Ralf Dahrendorf als Sohn des prominenten sozialdemokratischen Reichstagsabgeordenten Gustav Dahrendorf geboren wurde, war der 1. Mai noch kein Staatsfeiertag. Dazu machten ihn erst die Nazis, um nicht zuletzt die Gewerkschaften zu ködern wie die Kirchen mit der Kirchensteuer. Erinnere ich mich an Ralf Dahrendorf fast sechs Jahre nach seinem Tod, fällt mir seine Selbsteinschätzung als „unverbesserlicher Liberaler des 18. Jahrhunderts“ ein. Sie hat er in einem Büchlein abgegeben, das auf dem europäischen Kontinent nur wenige kennen, weil sein klassisches Englisch das hier Übliche einfach zu weit übersteigt. Warum es keine deutsche Fassung geben würde, sagte er mir bei der Übergabe eines druckfrischen Exemplars 1986: Sie würden alle schreiben, das ist das rechteste Buch, das Dahrendorf je geschrieben hat.In „Law and Order“ erklärt er Sozialliberale und Kommunitaristen zu einer der Gefahren für die Zukunft der Freiheit.
In einem seiner Bücher sagt er: „Manchmal kommt es mir vor, als ob jeder von uns ein bestimmtes Alter zeitlebens mit sich herumträgt.“ Damit meinte er bei sich selbst das Alter von 28 Jahren. 1957 arbeitete er an der Universität Saarbrücken an seiner Habilitation und forschte im kalifornischen Palo Alto zusammen mit anderen akademischen Stars. Dissertiert hatte er schon mit 23. Das Saarland war damals noch kein Teil der Bundesrepublik. Dahrendorf warb für ein europäisiertes Saarland mit einer mehrsprachigen Universität als Keimzelle eines künftigen Vereinten Europas. Werner Maihofer, der spätere Bundesinnenminister, lehrte zu dieser Zeit auch im Saarland: er trat für den nationalen Weg des Saarlandes ein. Dahrendorfs Europa-Vision eilte allen voraus.
„Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“
1983 verkündete Ralf Dahrendorf „das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“. Die SPD versteht das bis heute als unheilvolle Prognose für sozialdemokratische Parteien. Dabei hätte sie nur lesen müssen, wie er seine These begründete: „In seinen besten Möglichkeiten war das Jahrhundert sozial und demokratisch. An seinem Ende sind wir (fast) alle Sozialdemokraten geworden“. Der Sozialdemokratie ergehe es zum Ausgang des 20. Jahrhunderts wie den Liberalen zu Beginn desselben: Sie verlieren ihre Identität, ihre Unverwechselbarkeit, weil der Kern ihrer Idee Allgemeingut wird. Aus dieser Sicht hätten sich beide politischen Ideen zu Tode gesiegt. Ralf Dahrendorf hatte zugleich Recht und doch nicht, als er konstatierte, „das (sozialdemokratische) Thema (habe) seine Möglichkeiten erschöpft“. Mit welcher Selbstverständlichkeit die Christdemokraten sozialdemokratische Politik machen und praktisch alle anderen Parteien mit, bestätigt Dahrendorfs Befund. Dass aber alle den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat nicht nur akzeptieren, sondern seine Ausweitung ständig fortsetzen, hatte er wohl nicht erwartet. Und von dem, was er 2004 in Berlin als Perspektive für notwendig hielt, sind wir weit entfernt:
„Eine Neue Soziale Marktwirtschaft wird in Rechnung stellen, dass es Varianten des Kapitalismus gibt, und sie wird einem verantwortlichen, nämlich auf mittlere Sicht operierenden Kapitalismus den Vorzug geben. Darüber hinaus wird sie ausloten, in welchem Maße die Bürger bereit sind, ein soziales Netz zu finanzieren. In Deutschland wird man – zum Unterschied auch von manchen anderen europäischen Ländern – eine relativ hohe Bereitschaft annehmen können. Dann ist das Thema der politischen Diskussion die Art des Sozialstaates, die wir wollen. Meine Präferenz ist die für ein hohes Maß an individueller Wahl- und Entscheidungsfreiheit, daher auch an Selbstbeteiligung, aber zugleich eine langfristig garantierbare Grundausstattung für alle.“
„An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert“
1997 schrieb Ralf Dahrendorf für den Sammelband „Perspektiven der Weltgesellschaft“ von Ulrich Beck einen Beitrag zur Globalisierung und ihren sozialen Folgen als nächste Herausforderung der Freiheit. Die Deregulierungswelle, die mit den Namen Ronald Reagan und Maggie Thatcher verbunden wird, sagt Dahrendorf, legte den Schluss nahe, dass die wirtschaftliche Entwicklung sich global vollzieht, dass „der Weltmarkt nicht mehr ein europäischer gemeinsamer Markt ist, nicht einmal mehr ein OECD-Markt, sondern ein beinahe die ganze Welt umfassender Markt.“
Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt verlangt, „dass alle Leistungen zum günstigsten möglichen Preis erbracht werden. Damit werden Kosten zu dem Kernthema für Unternehmen. Da Arbeitskosten vielfach der wichtigste Kostenpunkt sind, werden sie verringert … Ein wichtiger Kostenfaktor sind die Lohnnebenkosten, aus denen – neben anderen Steuern und Abgaben – der Wohlfahrtsstaat finanziert wird. Viele Entwicklungen zwingen zu einer Reform des Wohlfahrtsstaates, aber eine davon hat es mit der Globalisierung zu tun.“
Dahrendorf nimmt das Wort Neoliberalismus nicht in den Mund, beschreibt aber vieles, was andere in diesen Topf werfen würden. Dabei hält er fest, was Globalisierungsgegner in ihrem Schwarz-Weiss gern unter den Tisch fallen lassen:
„Die notwendigen Reformen des Wohlfahrtsstaates werden mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem neuen Gleichgewicht von Eigenbeteiligung und Gemeinschaftsverpflichtung führen. Das muss indes den Sozialstaat als soziales Bindemittel nicht zerstören. Manche Sozialleistungen fördern ohnehin nur Einzelinteressen, nicht den sozialen Zusammenhalt; sie sind die ersten Kandidaten für Reformen. Andere Elemente des Sozialstaates, wie zum Beispiel der Generationenvertrag, sind indes für den sozialen Zusammenhalt unentbehrlich. Ihre Reform darf nicht ihr Prinzip verletzen.“
Die tiefgreifenden Veränderungen der Arbeitswelt, die für Dahrendorf unabdingbar sind, weisen in die Gegenrichtung der Politik der sogenannten großen Koalition: Vieles wird „anders getan werden müssen … durch Portefeuilles von Tätigkeiten statt traditioneller Berufe, durch eine Mischung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, durch die zunehmende Legitimierung im klassischen Sinn nichtproduktiver Tätigkeiten (für die der Computer ein weites Feld eröffnet). Politische Eingriffe, die über Symptombehandlung hinausgehen, werden bei der Struktur der Arbeit in globalisierten Wirtschaften beginnen müssen.“
Globalismus versus Integrismus
Die Bewertung des Nationalstaats war eines der Themen, wo Ralf Dahrendorf und ich uns nicht einig waren. Bei ihm überwog da stets das Positive. Aber in seinem Text von 1997 kommen wir uns näher. Er spricht von einer „Gegentendenz … in der entschiedenen Wendung hin zu kleineren Räumen als den Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts. Ihre Protagonisten wollen nicht Kanada, sondern Quebec, nicht Großbritannien, sondern Schottland, nicht Italien, sondern Padanien.“ Mit Integrismus übernimmt er den französischen Ausdruck statt Lokalismus. Lezteren beschreibt er als „neue Suche nach Gemeinschaft in allen möglichen Formen, eine neue Religiosität und vor allem einen neuen Fundamentalismus“ und Integrismus als „die Suche nach der Aufhebung der großen Dichotomien, vor allem der von Sphären des Glaubens und Sphären der Vernunft.“ Er spitzt zu: „Es gibt eine wilde und erbarmungslose Globalisierung und einen gewaltsamen Integrismus.“
Globalisierung geschieht in Räumen ohne Strukturen der Kontrolle und Rechenschaft: „Globalisierung entzieht dem einzigen Domizil der repräsentativen Demokratie, das bisher funktioniert hat, dem Nationalstaat, die ökonomische Grundlage. Globalisierung beeinträchtigt den Zusammenhalt von Bürgergesellschaften, auf denen der demokratische Diskurs gedeiht. Globalisierung ersetzt die Institutionen der Demokratie durch konsequenzlose Kommunikation zwischen atomisierten Individuen.“ Die EU, füge ich hinzu, ist hier ein zahnloser Tiger, die internationalen Organisationen auch. Und das ist gut so. Stellen wir uns nur vor, eine Weltregierung würde das Werk der großen Koalition fortsetzen. Das Ende aller Freiheiten wäre nahe.
Dahrendorf drängt sich „der Schluss sich auf, dass die Entwicklungen zur Globalisierung und ihre sozialen Folgen eher autoritären als demokratischen Verfassungen Vorschub leisten. Autoritäre Verfassungen aber können dauern; sie sind weder so katastrophenträchtig noch so prekär wie totalitäre Diktaturen. Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert … Die Nebenwirkungen der Globalisierung schaffen Probleme, denen mit normalen demokratischen Methoden abzuhelfen schwierig ist. Schon die Erhaltung von Recht und Ordnung ruft beinahe unweigerlich autoritäre Maßnahmen auf den Plan.“
Wer denkt bei dieser Beschreibung nicht sofort an die Flüchtlingsströme? Und seinen Hinweis auf andere Wege halte ich für sehr real: „Vor allem die Attraktivität des ‚asiatischen‘ Kapitalismus-Modells ist anzuführen. Viele halten es für dem angelsächsischen wie dem rheinischen Modell überlegen. Wenn sie denn schon eine Wahl treffen müssen, dann haben sie lieber Wirtschaftswachstum und sozialen Zusammenhalt mit weniger Demokratie als Wirtschaftswachstum und Demokratie ohne Solidarität (angelsächsisches Modell) oder Solidarität und Demokratie ohne Wirtschaftswachstum (rheinisches Modell).“ Aber am Ende weist Ralf Dahrendorf uns einen Weg, den ich zumindest ein gutes Stück mitgehe. Er zitiert George Soros, der (auch 1997) schlagzeilenträchtig sagte, vor 1989 sei der größte Feind der Kommunismus gewesen, nun sei es der Kapitalismus. Vornehm formuliert Dahrendorf:
„Was für ein erstaunlicher Irrtum! Der Witz der offenen Gesellschaft liegt gerade darin, dass sie viele Wege erlaubt, auch viele Kapitalismen. Vom asiatischen, angelsächsischen und rheinischen Kapitalismus war schon die Rede; in Wirklichkeit gibt es noch viele andere Varianten. Italiens Kapitalismus ist nicht rheinisch, Irlands nicht angelsächsisch und Japans nicht asiatisch im Sinne von Singapur. Viele Wege führen nach Rom, wobei Rom für die größten Lebenschancen der größten Zahl steht … ‚Soziale Marktwirtschaft‘ bleibt ein sinnvoller Begriff, auch wenn er in Großbritannien, geschweige denn in den USA, keinen rechten Sinn ergibt. Und trotz aller offensichtlichen Veränderungen werden die Analysen der japanischen Unternehmenskultur nicht ihren Wert verlieren. ‚Kapitalismus pur‘ gibt es nur in den Lehrbüchern von Chicago. Noch eine globalisierte Welt von Wirtschaft und Politik bleibt voller Vielfalt. Es lohnt sich also, die Quadratur des Kreises mit den Mitteln zu verfolgen, die das jeweils eigene Land seinen Bürgern kraft Tradition und Erfahrung zur Verfügung stellt. Globalisierung tut vielen weh, aber existentielle Angst vor ihr ist nicht angesagt.“
Dezentralität brauchen die verschiedenen Wege als starke Gemeinsamkeit, damit sie selbstbestimmt zu allseits akzeptierten Ordnungen führen. Einheitswege führen fehl: Ralf Dahrendorf nannte es Anomie, einen Zustand, den er bei Kriegsende 1945 für ein paar Tage erlebte und nie vergaß.