Tichys Einblick
Ziel EU-Superstaat?

Vom Kampf der Gerichte zum Kampf um die Souveränität

EZB-Chefin Christine Lagarde fordert die Bundesbank auf, sich weiter an den Anleihekäufen zu beteiligen - auch wenn das Bundesverfassungsgericht darin einen Verstoß gegen das Grundgesetz feststellt. Der Konflikt zwischen EU und deutschem Recht spitzt sich zu. Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek über die Grundlagen.

imago Images/Steinach

Der Kampf zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof um die Deutungshoheit über die Grenzen des EU-Rechts ist mit dem Karlsruher Urteil über die Staatsanleihenkäufe der EZB noch nicht zu Ende. Er mündet in einen Kampf um die Reste nationalstaatlicher Souveränität. Hat – wie EU-begeisterte Europarechtler und Journalisten der Mainstreammedien behaupten – das EU-Recht absoluten Vorrang vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten? Hat der Europäische Gerichtshof die alleinige Kompetenz zur Auslegung der EU-Verträge? Hat das Bundesverfassungsgericht gegen die Unionsverträge verstoßen, als es sich einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs entgegenstellte?

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai zum Staatsanleihenankaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB), dem Public Sector Purchase Programme (PSPP), hat zu einem empörten Aufschrei von Europarechtlern, Politikern und Journalisten geführt. Seit Jahren hat es keine so heftige Kritik an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben. Im Spiegel wird das Urteil als „Attentat auf Europa“ angeprangert. In der Süddeutschen Zeitung stuft Heribert Prantl die Karlsruher Richter als „Staatsgefährder“ ein, nämlich als Gefährder des seiner Meinung nach bestehenden Staates namens EU. Ein Europaabgeordneter der CSU meint, das Bundesverfassungsgericht habe „eine rote Linie überschritten“. Und eifrige Stimmen aus der deutschen Rechtswissenschaft, Politik und Publizistik rufen die EU-Kommission auf, wegen des Urteils ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland anzustrengen. Genau dies prüft jetzt die Kommission, deren Präsidentin Ursula von der Leyen geäußert hat, das Urteil berühre den „Kern der europäischen Souveränität“.

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Was ist der Grund der Empörungswelle, die dem Bundesverfassungsgericht entgegenschlägt? Er kann nicht daran liegen, dass das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, die EZB habe es unterlassen, bei ihren Beschlüssen über das PSPP die negativen Folgewirkungen der Staatsanleihenkäufe zu berücksichtigen und sie gegen die angestrebten positiven Effekte des Programms abzuwägen. Mit dieser Feststellung und mit der Anordnung, die Bundesbank dürfe an der Durchführung der Anleihenkäufe nicht mehr mitwirken, wenn die EZB nicht innerhalb von drei Monaten die Verhältnismäßigkeitsprüfung nachgeholt habe und das Ergebnis das Programm rechtfertige, wird die EZB in ihrer Tätigkeit nur marginal berührt. Denn wenn sie die Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführt und zum Ergebnis kommt, die Staatsanleihenkäufe seien in Relation zu den Milliardeneinbußen der Sparer, zu den ruinösen Beschädigungen der Alterssicherungssysteme und zu den vielfältigen übrigen Kollateralschäden nicht unverhältnismäßig, wird das Bundesverfassungsgericht dies wohl akzeptieren, wenn die Kosten-Nutzen-Analyse nicht evident eine Fake-Konstruktion ist. Denn nicht nur der Europäische Gerichtshof (EuGH), sondern auch das Bundesverfassungsgericht räumen der EZB bei ökonomischen Einschätzungen einen sehr großen Einschätzungsspielraum ein.

Warum also die Aufregung der EU-Enthusiasten? Ganz einfach deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht sich erdreistet hat, der EZB vorzuwerfen, rechtswidrig gehandelt zu haben, und weil es Bundesregierung und Bundestag dazu aufgefordert hat, gegen die Kompetenzüberschreitung der EZB vorzugehen. Und vor allem deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht so entschieden hat, obwohl zuvor der EuGH geurteilt hatte, die EZB habe rechtmäßig gehandelt. Jetzt werfen die Kritiker dem Bundesverfassungsgericht vor, es verletze erstens die Unabhängigkeit der EZB und der Bundesbank und es missachte zweitens den Vorrang des EU-Rechts sowie drittens die Letztentscheidungskompetenz des EuGH.

Der erste Vorwurf ist schnell erledigt: Dem Lamento, das Bundesverfassungsgericht habe die Unabhängigkeit der EZB verletzt, liegt ein Missverständnis dieser Unabhängigkeit zugrunde, wie es größer nicht sein könnte. Die Unabhängigkeit der EZB ist zwar rechtlich garantiert, aber sie besteht selbstverständlich nur im Rahmen der Kompetenzen, die die EU-Verträge der EZB zuweisen. Überschreitet die EZB ihr geldpolitisches Mandat und betreibt Wirtschafts- oder Fiskalpolitik, dann kann sie sich dafür nicht auf ihre Unabhängigkeit stützen.

Was ist von dem zweiten Vorwurf zu halten? Hat das Bundesverfassungsgericht den Vorrang des Unionsrechts verletzt? Durfte es nicht entscheiden, wie es entschieden hat, weil das EU-Recht (= Unionsrecht = Europarecht) dem nationalen Recht vorgeht und weil deshalb – wie die Kritiker meinen – nationales Verfassungsrecht nicht gegen Unionsrecht in Stellung gebracht werden könne?

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Richtig ist, dass das Unionsrecht grundsätzlich Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht hat, sogar vor den nationalen Verfassungen. Aber der Vorrang gilt nicht absolut. Er hat eine Grenze in dem, was man die „Verfassungsidentität“ der Mitgliedstaaten nennt. Die EU darf keine Rechtsakte erlassen oder Maßnahmen treffen, welche die fundamentalen Verfassungsprinzipien der Mitgliedstaaten verletzen. Und der Vorrang kann logischerweise nicht gelten, wenn die EU-Organe die ihnen von den Mitgliedstaaten durch die Unionsverträge (Vertrag über die Europäische Union – EUV und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV) übertragenen Kompetenzen überschreiten und somit auf einem Gebiet handeln, für das nicht sie, sondern die Mitgliedstaaten zuständig sind.

Handeln sie jenseits ihrer Kompetenzen („ultra vires“), dann können ihre Maßnahmen keinerlei Rechtswirkungen in den und für die Mitgliedstaaten entfalten.
Diese beiden Einschränkungen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon (2009) hervorgehoben. Und es hat für sich selbst die Kompetenz in Anspruch genommen, Handlungen von EU-Organen darauf zu überprüfen, ob sie durch die vertraglich zugewiesenen Kompetenzen gedeckt sind und ob sie die deutsche Verfassungsidentität unberührt lassen („Ultra-vires-Kontrolle“ und „Identitätskontrolle“). Nach dem Lissabon-Urteil ist das Bundesverfassungsgericht befugt, „ersichtliche“ Kompetenz-überschreitungen von EU-Organen festzustellen, mit der Folge, dass kompetenzüberschreitende EU-Rechtsakte in Deutschland keine Geltung beanspruchen können.

Und das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil ausdrücklich betont, dass der Vertrag von Lissabon nur in der vom Bundesverfassungsgericht in diesem Urteil vorgenommenen Interpretation mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Gäbe es die beiden genannten Einschränkungen des Vorrangs des EU-Rechts nicht und hätte das Bundesverfassungsgericht nicht die Kompetenz für die Ultra-vires-Kontrolle und die Identitätskontrolle, dann hätte Deutschland den Vertrag von Lissabon erst gar nicht ratifizieren dürfen.

Dass nationale Verfassungsgerichte das Handeln der EU darauf überprüfen können, ob die EU innerhalb ihrer Kompetenzen handelt oder sie überschreitet, dass sie also eine Ultra-vires-Kontrolle vornehmen dürfen, ist eine Konsequenz daraus, dass die Mitgliedstaaten der EU nur „begrenzte Einzelkompetenzen“ übertragen haben und dass sie selbst noch immer die „Herren der Verträge“ sind. Dieser Umstand unterscheidet die EU – jedenfalls aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts und wohl auch aus Sicht der Mitgliedstaaten – immer noch von einem Staat, obwohl sie sich nach Funktionen und Kompetenzumfang einem Staat schon sehr angenähert hat.

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Aber entgegen der Annahme der Kommissionspräsidentin ist die EU nicht souverän. Zur Souveränität im völkerrechtlichen Sinne gehört die Kompetenz zur unabgeleiteten – das heißt nicht auf Ermächtigung durch ein anderes Völkerrechtssubjekt beruhenden – Rechtsetzung. Souverän in diesem Sinne sind die Mitgliedstaaten, nicht die EU. Indem EU-Organe immer wieder Kompetenzen in Anspruch nehmen, die ihnen nach den Verträgen nicht zustehen, und indem der EuGH dies regelmäßig billigt, maßt sich die EU die Kompetenz zur eigenständigen Kompetenzerweiterung an. Die EU hat aber nach den Verträgen nicht die Kompetenz, über den Umfang der eigenen Kompetenzen zu bestimmen; sie hat keine Kompetenz-Kompetenz. Wenn die EU „Souveränität“ für sich beansprucht, nimmt sie auch die Kompetenz-Kompetenz für sich in Anspruch. Sie erklärt sich damit zu einem Staat, der den Mitgliedstaaten übergeordnet ist.

Mit dem Grundgesetz ist dies absolut unvereinbar. Deutschland hat der EU keine Kompetenz-Kompetenz übertragen und dürfte es auch gar nicht. Dem steht der unabänderliche Verfassungskern des Grundgesetzes entgegen. Nur auf der Basis einer Entscheidung des Volkes über eine neue Verfassung wäre die Übertragung der Souveränität auf die EU und die Eingliederung Deutschlands in einen europäischen Bundesstaat möglich.

Allerdings gibt es ein Problem, das nicht so leicht zu lösen ist: Ob die EU ihre Kompetenzen überschritten hat, wird meist umstritten sein. Natürlich behaupten die EU-Organe stets, dass sie im Rahmen ihren Kompetenzen handeln. Als Draghi sagte, die EZB werde alles tun, was nötig ist, den Euro zu retten, fügte er hinzu „within our mandate“. Dabei war ganz klar, dass die „Euro-Rettung“, nämlich die Rettung vor dem Bankrott stehender Eurostaaten, nicht zum währungspolitischen Mandat der EZB gehört.

Die Frage lautet also: Wer ist zuständig, darüber zu entscheiden, ob die EU ihre Kompetenzen überschritten hat? Die Kritiker des Bundesverfassungsgerichts behaupten, dafür sei allein der EuGH Zuständig. Richtig ist zwar, dass die Verträge dem EuGH die Zuständigkeit für die Auslegung des Unionsrechts geben, und dazu gehören auch die Kompetenznormen. Soweit es um die Auslegung derjenigen Vertragsnormen geht, die die Kompetenzen zwischen EU und Mitgliedstaaten abgrenzen, ist aber folgendes zu bedenken: Wenn die EU außerhalb der Kompetenzen handelt, die ihr von den Mitgliedstaaten in den Verträgen übertragen worden sind, handelt sie außerhalb des Unionsrechts. Und außerhalb des Unionsrechts hat der EuGH überhaupt keine Zuständigkeit.

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Die Frage, ob die EU ihre Kompetenzen überschritten hat, kann also von einer Binnenperspektive und von einer Außenperspektive aus beantwortet werden. Für die Beantwortung aus der Binnenperspektive ist der EuGH zuständig, für die Beantwortung aus der Außenperspektive die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten. Somit gibt es hierfür eine Doppelzuständigkeit. Das wirft die weitere Frage auf, auf wessen Entscheidung es ankommt, wenn der EuGH und das nationale Verfassungsgericht unterschiedlicher Ansicht sind. Das ist die Frage nach der Letztentscheidungskompetenz. Während aus Sicht der EU-Kommission die Letztentscheidungskompetenz nur dem EuGH zustehen kann, hat das Bundesverfassungsgericht sie im Lissabon-Urteil für sich reklamiert. Es hat allerdings in den folgenden Jahren versucht, den Konflikt mit dem EuGH zu vermeiden, hat die „europarechtsfreundliche“ Anwendung der Ultra-vires-Kontrolle betont und von einem „Kooperationsverhältnis“ der beiden Gerichte gesprochen, und es hat die romantische Vorstellung eines ewigen Gesprächs mit dem EuGH gepflegt, das kein „letztes Wort“ kennt. Das konnte nur solange gut gehen, wie das Bundesverfassungsgericht bereit war, vor dem EuGH zurückzuweichen, also der Sache nach dem EuGH das letzte Wort zu überlassen. Und das Bundesverfassungsgericht ist sehr weit zurückgewichen. Im Honeywell-Beschluss (2010) hat es gesagt, aus Gründen der „Europarechtsfreundlichkeit“ wolle es dem EuGH nur widersprechen, wenn dieser „objektiv will-kürlich“ entschieden habe und sein Urteil „offensichtlich schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ sei. Damit hatte das Bundesverfassungsgericht seinen Kontrollanspruch fast vollständig zurückgenommen, und man stellte sich die Frage, ob es jemals zur Feststellung eines Ultra-vires-Akts kommen könne.

Im Urteil über das OMT-Programm der EZB – also über den Ankauf von Staatsanleihen der Krisenstaaten zum Zwecke der „Euro-Rettung“ – hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, obwohl es selbst der Ansicht war, die EZB habe ihr Mandat überschritten. Nur habe der EuGH nicht offensichtlich willkürlich entschieden, als er das EZB-Programm billigte, und deshalb habe das Bundesverfassungsgericht keine Kompetenzüberschreitung feststellen können.

Anders jetzt im PSPP-Urteil. Dieses ist in der Presse zu Recht als „historisch“ gewürdigt worden, weil das Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal dem EuGH widersprochen und einen Ultra-vires-Akt der EZB und des EuGH festgestellt hat. In der Presse ist beanstandet worden, dass das Bundesverfassungsgericht gegenüber dem EuGH so rüde Worte wie „willkürlich“ und „nicht mehr nachvollziehbar“ gebraucht habe. Das Gericht hätte sich doch freundlicher ausdrücken und mehr Respekt vor dem EuGH zeigen können. Aber diese unfreundliche Wortwahl war eine Konsequenz der „europarechtsfreundlich“ gemeinten Selbstbeschränkung des Bundesverfassungsgerichts, siehe oben.

In der Sache ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts insoweit richtig und notwendig. Anders als im nationalen Recht ist im EU-Recht die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme nicht nur Voraussetzung für Grundrechtseingriffe, sondern auch für die Inanspruchnahme von Kompetenzen. Dies hat der EuGH in bezug auf das PSPP selbst betont, ist dann jedoch auf die vielfältigen negativen Auswirkungen der Staatsanleihenkäufe überhaupt nicht eingegangen. Und obwohl das Bundesverfassungsgericht mehrmals nachdrücklich darauf hingewiesen hat, dass die EZB nicht demokratisch legitimiert sei und dass deshalb ihr Mandat eng ausgelegt werden müsse, ist der EuGH hierauf überhaupt nicht eingegangen. Hätte das Bundesverfassungsgericht dem EuGH dies durchgehen lassen, wäre es mit seinem Anspruch auf Ultra-vires-Kontrolle nicht mehr ernst genommen worden. – Bedauerlich ist, dass das Bundesverfassungsgericht daran festhält, die Ultra-vires-Kontrolle auf ein Minimum zu reduzieren und nur offensichtlich willkürlichen und nicht mehr nachvollziehbaren EuGH-Entscheidungen zu widersprechen. Im PSPP-Fall führte das dazu, dass, wie schon im OMT-Fall, die wichtigste Rüge der Beschwerdeführer – dass nämlich die Staatsan-leihenkäufe gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstießen – zurückgewiesen wurde, obwohl das Bundesverfassungsgericht schwerwiegende Einwände gegen die Ankäufe und gegen das sie billigende EuGH-Urteil hatte; aber die Umgehung des Verbots der monetären Staatsfinanzierung könne nicht festgestellt werden, weil sie nicht „offensichtlich“ sei. Nach dieser Rechtsprechung kann die EU einen nicht offensichtlichen Ultra-vires-Akt an den anderen reihen und so die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten eigenmächtig aushöhlen, ohne dass das Bundesverfassungsgericht einschreitet. Die Proteste gegen das PSPP-Urteil richten sich also dagegen, dass das Bundesverfassungsgericht es wagt, den kleinen Rest an Kontrollkompetenz, auf den es sich zurückgezogen hat, einmal zur Anwendung zu bringen.

Der Rückzug beginnt
Die EU ist kein Staat und hat kein Recht
Wie geht es jetzt weiter? Die harmlose Variante wäre folgende: Der EZB-Rat beschließt innerhalb der Drei-Monats-Frist eine Kosten-Nutzen-Analyse mit dem Ergebnis, dass der Nutzen der Staatsanleihenkäufe für die Preisstabilität größer sei als die Kollateralschäden. Dieser Beschluss würde vom Bundesverfassungsgericht akzeptiert, und die EZB könnte mit den Anleihenkäufen fortfahren wie bisher. Das Urteil hätte also keine unmittelbare Auswirkung auf das Ankaufprogramm. Die Kommission könnte auf ein Vertragsverletzungsverfahren verzichten, und alles liefe weiter wie bisher. Das Urteil wäre dennoch nicht völlig „für die Katz“, denn immerhin hat das Bundesverfassungsgericht demonstriert, dass es nicht jede Kompetenzanmaßung seitens der EU hinnimmt.

Nun hat aber der SPIEGEL gemeldet, dass die EZB das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ignorieren und keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vornehmen wolle. Wenn das stimmt, legt es die EZB auf einen großen Konflikt an.

Nach Ablauf der drei Monate müsste die Bundesbank ihre Mitwirkung an den Staatsanleihenkäufen einstellen. Das müsste unweigerlich zu einem Vertragsverletzungsverfahren führen. Deutschland würde wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts verklagt. Der EuGH müsste dann in eigener Sache entscheiden – rechtsstaatlich ein Unding. Das Bundesverfassungsgericht seinerseits könnte eine solche Entscheidung des EuGH auf keinen Fall akzeptieren. Würde Deutschland verurteilt, durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Unionsverträge verletzt zu haben, obwohl das Bundesverfassungsgericht eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung der EZB und des EuGH festgestellt hat, liefe das darauf hinaus, dass die EU sich anmaßt, ihre Kompetenzen ohne Zustimmung der Vertragsstaaten zu deren Lasten auszudehnen. Das liefe auf einen schleichenden Souveränitätsübergang an einen europäischen Superstaat hinaus.

Bundesregierung und Bundestag, dies hat das Bundesverfassungsgericht im PSPP-Urteil noch einmal sehr deutlich gemacht, sind verpflichtet, sich dem entgegenzustellen. Ein solches Vertragsverletzungsurteil des EuGH wäre ein erneuter Ultra-vires-Akt und daher in Deutschland unbeachtlich. Bundesregierung und Bundestag dürften dieses Urteil nicht hinnehmen. Das wäre dann ein wirklich harter Konfliktfall mit einiger Sprengkraft für die EU. EZB und Kommission sollten sich gut überlegen, ob sie diesen Konflikt wirklich wollen – zumal ja, wie gesagt, der Anlass von geringfügiger Bedeutung ist.


Professor Dr. Dietrich Murswiek war bis zu seiner Emeritierung Geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht der Universität Freiburg im Breisgau. Als Prozessvertreter von Peter Gauweiler hat er das Lissabon-Urteil sowie jetzt das PSPP-Urteil erstritten. Zur Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts bezüglich kompetenzüberschreitender Akte der EU hat er 2017 eine grundlegende Abhandlung („Die Ultra-vires-Kontrolle im Kontext der Integrationskontrolle“) veröffentlicht, die hier heruntergeladen werden kann.

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