Tichys Einblick
Zivilreligionen gibt's genug stattdessen

Volkskirche ohne Volk

Das Christentum passt sich immer mehr der säkularen Neuzeit an. Wenn die Kirche sich öffnet, gehen nicht die Ungläubigen hinein, sondern Gläubige hinaus.

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Der theologische Nullpunkt ist erreicht. Die christlichen Kirchen haben den Menschen offenbar nichts mehr zu sagen, was diese aus anderen, nämlich grünen und sozialistischen Quellen, nicht sehr viel präziser erfahren könnten. Dafür sind die dramatischen Zahlen der Kirchenaustritte nur ein Symptom. Natürlich spielen hier auch andere Faktoren wie Missbrauchsskandale oder Kirchensteuer eine Rolle. Aber das Problem hat einen theologischen Kern. Das Christentum passt sich der säkularen Neuzeit an, indem es sich auf eine Weltanschauung reduziert und gleichsam selbst historisch wird. Durch diese Selbstreduktion setzt das moderne Christentum das religiöse Erleben frei, das nun beliebig eingefärbt werden kann.

„Der Weg einer Selbstsäkularisierung des
Christentums zum sozialistischen Humanitarismus
ist in Deutschland längst schon gebahnt“

Die christlichen Kirchen haben das Kreuz inflationiert. So hört man von den Repräsentanten der beiden großen Kirchen nur noch selten etwas über das Ärgernis und den Skandal des Paulinischen Wortes vom Kreuz, aber sehr viel über die unzähligen kleinen Kreuze wie Migration, Welthunger, Arbeitslosigkeit, Klimakatastrophe. Zusammengehalten werden diese kleinen Kreuze durch die Dauerbereitschaft eines „Reden wir miteinander“. Die christlichen Kirchen vermeiden Konflikte, indem sie immer weniger behaupten – nämlich im Sinne des Dogmas und der Orthodoxie, also des „richtigen Glaubens“. Aber nur Dogmen schützen uns vor dem endlosen Kreisen in unbeantwortbaren Fragen. Wir haben es hier mit einer spezifisch religiösen Leistung zu tun. So bedeutet das johanneische „Die Wahrheit wird euch frei machen“ in diesem Zusammenhang: Akzeptiert das Dogma, dann habt ihr keine Probleme mehr.

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Der Weg einer Selbstsäkularisierung des Christentums zum sozialistischen Humanitarismus ist in Deutschland längst schon gebahnt. Als Beobachter bekommt man hier leicht den Eindruck, dass das Christentum in der modernen Welt sich selbst nicht mehr für anschlussfähig hält, jedenfalls nicht in seiner kirchlichen Dogmatik. Deshalb ersetzt es den Skandal des Gekreuzigten zunehmend durch einen neutralen Kult der Menschheit. Thomas Mann hat das einmal „Verrat am Kreuz“ genannt. Der Humanismus der Kirchen kompensiert, dass sie die Themen Kreuz, Erlösung und Gnade tendenziell aufzugeben bereit sind. Schon Nietzsche hat das in aller Deutlichkeit gesehen: „Je mehr man sich von den Dogmen loslöste, umso mehr suchte man gleichsam die Rechtfertigung dieser Loslösung in einem Cultus der Menschenliebe.“ Das Residualchristentum der Alle-Menschenliebe weiß nichts mehr von Paulus. Was dann noch bleibt, ist Sentimentalität als letzter Aggregatzustand des christlichen Geistes. Doch sind Zweifel an der Publikumswirksamkeit dieser Strategie angebracht. Wenn die Kirche sich öffnet, gehen nicht die Ungläubigen hinein, sondern Gläubige hinaus.
Die religiöse Tradition wird aufgelöst und rekombiniert

Nicht dass die moderne Gesellschaft irreligiös geworden wäre. Doch heute sehen wir, dass die Stabilität der Funktion der Religion in der Gesellschaft keine Bestandsgarantie für die traditionellen Kirchen mehr ist. Wenn heute ein neues religiöses Bedürfnis aufflackert, dann müssen die christlichen Kirchen beobachten, dass es meist nach anderen Heilsversprechen Ausschau hält. Wie auch immer man die religiöse Lage der Gegenwart einschätzen mag sie ist gekennzeichnet durch eine Auflösung und Rekombination der religiösen Tradition. Die sogenannte Zivilreligion resümiert die Restbestände der religiösen Institutionen: die Kirchen, in denen wir getauft werden und heiraten; die Grundgesetze, die ohne göttliche Abkunft leer wären; die Schwüre „bei Gott“, mit denen Staatsoberhäupter ihr Amt übernehmen.

Soweit sich die christlichen Kirchen auf das Konzept der Zivilreligion einlassen, beschreiben sie sich selbst funktionalistisch. Heilsversprechen gibt es dann nicht mehr. Als Zivilreligion hat das Christentum die großen Themen wie Kreuz, Erlösung und Gnade aufgegeben und durch einen diffusen Humanismus kompensiert. Wie andere westliche Institutionen gerät es damit in die Modernitätsfalle. Die christliche Zivilreligion leidet nämlich nicht daran, dass sie mit der Kulturentwicklung nicht mitkäme, sondern an ihrer eigenen Realitätsgerechtigkeit. Man kann es auch so sagen: Den christlichen Kirchen fehlt der Mut zur Unzeitgemäßheit. Gerade weil sie so modern und „aufgeklärt“ sind, können sie nicht mehr Heil versprechen und eine neue Welt prophezeien.

„Auf dem Markt der Religionen dominiert
die spirituelle Selbstbedienung,
das Do-it-yourself der Selbsterlösung“

So kann man beim Kirchenbesuch leicht den Eindruck bekommen, die Pfarrer wüssten sehr viel vom Klimawandel, den Hungersnöten in Afrika, der Seenotrettung auf dem Mittelmeer und den heimischen Arbeitslosenstatistiken, aber nichts mehr von der Apokalypse. Dem entspricht auf der anderen Seite der Religionskonsument, der die Kirche besucht, um sich spirituell zu unterhalten. Auf dem Markt der Religionen dominiert die spirituelle Selbstbedienung, das Do-it-yourself der Selbsterlösung. So entsteht millionenfach das, was Karl Gabriel Bastelreligion genannt hat. Und die hat durchaus noch Verwendung für christliche Versatzstücke wie Weihnachten, das als „unmittelbare Vereinigung des Göttlichen mit dem Kindlichen“ (Schleiermacher) so ideal in den Seelenhaushalt des modernen Menschen passt. Aber auch alle, die mehr für sich erwarten als bloße Sentimentalität, werden heute konsumistisch bedient etwa durch eine Wallfahrt, die die religiöse Pflichtreise in Tourismus aufhebt.

Eine Bankrotterklärung für die Kirchenführer
Das weichgespülte Evangelium und der Exodus aus den Kirchen
Die christlichen Kirchen stehen wie gebannt vor der Tatsache, dass sich das Devotionsbedürfnis der Menschen in der westlichen Welt, vor allem aber in Deutschland, auf die Natur verschoben hat: die Umwelt wird als Übernatur verehrt. Diejenigen, die es entrüstet als Zumutung von sich weisen, Gott Vater anzubeten, huldigen ganz selbstverständlich einem Kult der Mutter Erde. Zu den Großen, die Greta Thunberg, der Pop-Ikone dieser Öko-Religion, die Hand schüttelten und sie zum Weitermachen aufforderten, gehört ja leider auch Papst Franziskus so im April 2019 im Rahmen seiner Generalaudienz. Während der Amazonas-Synode im Oktober waren die Arme der katholischen Kirche sogar so weit ausgebreitet, dass auch die heidnische Fruchtbarkeitsgöttin Pachamama darin Platz fand. Wir können es tiefgläubigen Katholiken überlassen, zu entscheiden, ob der Götzendienst schon den Vatikan erreicht hat. Viel wichtiger ist es, dass der Papst hier „neue Wege für die Kirche und eine ganzheitliche Ökologie“ eröffnen wollte. So wie die Verbeugung vor Pachamama ein unüberbietbar deutliches Zeichen für die Entchristlichung des Christentums ist, so deutlich liegen die neuen Wege für die Kirche im Mainstream des Zeitgeistes.
„Laudato si“: Wie eine Theologie der Grünen

Das Ganze hatte einen intellektuellen Vorlauf. Die Enzyklika „Laudato si'“, in der sich Papst Franziskus nicht nur an die Katholiken, sondern an die ganze Menschheit zu wenden behauptet, liest sich wie eine Theologie der Grünen. Der eigentliche Adressat ist aber der Wohlstandsbürger der westlichen Welt und das weckt den Verdacht, die katholische Kirche reite hier auf der höchsten Welle des Zeitgeistes, nämlich der Angst vor der „Klimakatastrophe“, um verlorenen Boden wieder gutzumachen. Denn in der Tat haben sich die religiösen Bedürfnisse der westlichen Welt so sehr in Richtung Umweltschutz verschoben, dass sie von den grünen Parteien und NGOs überzeugender befriedigt werden können als von den christlichen Kirchen. Deshalb suchen diese nun ihr Heil eben auch im Umweltschutz, unter dem Titel „Schöpfungsbewahrung“.

Doch das ist eine hoffnungslose Defensivstrategie. Statt auf den Wellen des Zeitgeistes zu reiten, müssen die christlichen Kirchen zurück zu Dogma und Otrthodoxie oder sie verschwinden vollends in der Bedeutungslosigkeit.

Kurz gefasst
Wenn sich die Kirchen auf das Konzept der Zivilreligion einlassen, gibt es kein Heilsversprechen mehr. So stehen die Kirchen wie gebannt vor der Tatsache, dass sich das Devotionsbedürfnis der Menschen auf die Natur verschoben hat, dass Umwelt als Übernatur verehrt wird. Statt Gott Vater wird Mutter Erde angebetet. Gegen diese hoffnungslose Defensivstrategie hilft nur die Rückkehr zu Dogma und Orthodoxie – sonst droht das Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit.


Dieser Beitrag von Norbert Bolz erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

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