Im Herbst 2010 nahm Kanzlerin Angela Merkel (CDU) den Atomausstieg der rot-grünen Vorgänger-Regierung zurück. Daraufhin gingen jeden Montag Gegner dieses Beschlusses demonstrieren. Doch diese „Spaziergänge“ zogen nur eine geringe, ohnehin überzeugte Klientel an. Am 11. März 2011 kam es zu einem Seebeben vor Japan, in dessen Folge es zu einem Unfall im Kernkraftwerk Fukushima kam. Das befeuerte die Antiatomkraft-Bewegung in Deutschland.
Zwei Wochen danach waren wichtige Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Die beiden Spaziergänge davor wurden nun zu wichtigen Mobilisierungs-Ereignissen. Die SPD zeigte auf diesen Spaziergängen massive Präsenz mit Fahnen und Parteisoldaten. Einzelne grüne Mitglieder machten sich Sorgen, dass die Sozialdemokraten ihnen das Thema stehlen. Doch diese Sorge war unbegründet.
Der Atomausstieg ist ein Thema, das mit den Grünen verbunden wird – ist es beliebt, verbessert das die Ergebnisse der Grünen. So kam es dann auch zwei Wochen später: In Baden-Württemberg stellten die Grünen erstmals einen Ministerpräsidenten und selbst die als „Banalos“-Verband verschriene rheinland-pfälzischen Grünen erreichten 15,4 Prozent. Heute noch das mit Abstand beste Ergebnis ihrer Geschichte.
Der Zusammenhang zwischen Themen und den Aussichten einer Partei auf eine günstige Vermarktung lässt sich als Themen-Ökonomie bezeichnen. Im Zusammenhang mit Klimaschutz oder eben Atomausstieg mit den Grünen sind die Verhältnisse leicht nachzuvollziehen. Der Partei Joschka Fischers und Robert Habecks ist es über vier Jahrzehnte gelungen, dass jeder Boom dieser Themen auch ihr Boom ist. Im Wahlkampf 2017 sah es lange nach einer Pleite für die Grünen aus, sogar ein Rauswurf aus dem Bundestag schien möglich. Doch in den letzten Wochen vor der Wahl drehten die grünen Gefolgsleute in den Medien den Scheinwerfer auf den Klimaschutz und retteten so ihre bevorzugte Partei.
Zwischen Inhalten und Themen-Ökonomie ist zu unterscheiden. Auch wer die Inhalte der Grünen ablehnt, sollte ihr Talent zur Themen-Ökonomie anerkennen – zumindest, wenn seine Analysen mehr als ein reiner Gefühlsausdruck sein sollen. Um die Inhalte der FDP geht es an dieser Stelle nicht. Kritiken dazu sind ausreichend erschienen. An dieser Stelle ist die Rede von der Themen-Ökonomie der FDP unter Christian Lindner, Volker Wissing und Marco Buschmann – doch die ist mindestens genauso verheerend schlecht.
Das jüngste Beispiel dazu lieferte Verkehrsminister Volker Wissing. Er drohte der deutschen Öffentlichkeit mit allgemeinen Fahrverboten. Zumindest kam es öffentlich so rüber. Das eigentliche Anliegen Wissings war eine Kritik am gültigen Klimaschutzgesetz. Das schreibt den einzelnen Ressorts bürokratisch stur vor, ihren Anteil an der Senkung des CO2-Ausstoßes zu liefern. Planwirtschaft statt einem angemessenen Umgang mit der Realität. Die kennt einen Sanierungsstau im Schienennetz und unrealistische Pläne in der Verbreitung des E-Autos.
Inhaltlich ist es gar nicht so verkehrt, dass Wissing auf diese Schwäche des Klimaschutzgesetzes aufmerksam macht. Doch im Sinne der Themen-Ökonomie ist sein Vorstoß eine Katastrophe für die FDP. Der Minister einer Partei, die für ihre Wirtschaftsnähe und ihr Einstehen für individuelle Freiheitsrechte gewählt wird, kündigt allgemeine Fahrverbote an. Damit reiht sich Wissing in die Serie von Unfällen der Themen-Ökonomie ein, für die sonst Lindner und Buschmann stehen: Atomausstieg, Verlängerung der Corona-Maßnahmen, Heizhammer, als „Sondervermögen“ getarnte Schuldenpolitik, staatliche Eingriffe in die Privatwirtschaft oder jetzt das Selbstbestimmungsgesetz.
Besonders Christian Lindner ist in Sachen Themen-Ökonomie eine Katastrophe, wie sie die Bundesrepublik noch nicht gesehen hat. Auf Twitter und Talkshows gibt der Finanzminister den Kritiker der Ampelpolitik. Sein Kalkül: Faktisch trägt er die Politik von SPD und Grünen mit, um sich den Dienstwagen zu sichern und als Teil der „Zukunftskoalition“ zu gelten. Verbal bedient er die Klientel, die FDP wegen Wirtschaftspolitik und individuellen Freiheitsrechten gewählt haben. Dadurch kann Lindner grüne Stadtbewohner und liberal-konservative Stammwähler hinter sich vereinen – so die Idee. Sie Milchmädchenrechnung zu nennen, würde allen Vertreterinnen dieses Berufsstandes bitter Unrecht tun. So naiv wie der FDP-Vorsitzende waren die nie.
Wissing ist nicht naiv. Das ist nicht sein Fehler. Das Problem des Juristen ist ein anderes: Volksnähe kennt er nur aus gestellten PR-Terminen. Wie sehr ihm Empathie im Inneren zuwider ist, zeigt sich auf jedem Foto, das zu solchen Anlässen entsteht. Am wohlsten fühlt sich Wissing in der Berliner Blase. An sie richtet sich auch sein Vorstoß zum Klimaschutzgesetz und den Fahrverboten.
Was Wissing erreichen wollte, ist eine Änderung der Wahrnehmung in der Berliner Blase. Die sollte ihm nicht mehr vorwerfen, dass er die Klimaschutzziele der Ampel gefährde. Dem Verkehrsminister ist es wichtig, dass in einem Talk auf RBB-Inforadio nicht so stark über ihn hergezogen wird. Dafür nimmt er in Kauf, dass seine Stammwähler ihn als Befürworter von Fahrverboten wahrnehmen. Das ist so, als ob Bill Gates sein Vermögen gegen eine Kugel Gratiseis eintauschen würde.
Die Grünen haben sich mit Klimaschutz und wokem Wahnsinn positioniert. Die SPD versucht es mit einem immer stärkeren Ausbau des Sozialstaates und einem „Friedenskanzler“ Olaf Scholz. Inhaltlich lässt sich das leicht zerpflücken, was auf dieser Seite ja auch immer wieder geschieht. Doch in einer Kampagne könnten diese Themen funktionieren, zumindest wenn die Umstände günstig sind.
Die FDP hat sich als Ermöglicher grünen Wahnsinns und roter Leistungsfeindschaft positioniert. Für sie soll die Behauptung sprechen, Schlimmeres verhindert zu haben und die Tatsache, dass sie in Christian Lindner den größten Kritiker der eigenen Partei stellt. Die FDP will als Wähler die Gegner einer Politik erreichen, deren Ermöglicher sie sind. Kommende Historiker-Generationen wird das vor die Frage stellen, warum jemand ernsthaft geglaubt hat, dass das gut gehen könnte.