Bedenkt man die Manöver, mit deren Hilfe das Auswärtige Amt bisher versucht hat, die Verantwortung für eigene Entscheidungen von sich abzustreifen wie eine alte Schlangenhaut, dann kann die neueste Wende dieser Angelegenheit nicht überraschen. Erst tat man so, als ob einzelne Mitarbeiter, mit Vorliebe die in den Botschaften, Fehler gemacht hätten. Dabei hatten gerade die Botschaftsmitarbeiter oftmals Widerstand gegen willkürliche Anweisungen aus Berlin geleistet, die zu tausendfachen Einreisen mit minderwertigen, ungültigen oder gar gefälschten Papieren geführt haben (TE berichtete).
Dann hieß es, Bundespolizisten im Auslandseinsatz hätten die fehlerhaft in Proxy- oder Ersatzpässen eingeklebten Visa akzeptiert. Auch das stimmte nicht, wie TE berichtete. Tatsächlich wurden entscheidende Beschlüsse im aktuellen Visa-Skandal von hohen Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes gefasst, und es wurde teils mit Nachdruck auf ihre Durchsetzung hingearbeitet. Es ist die Leitungsebene, an der die Verantwortung hängen bleibt. Doch die große Wegduckerin in dem Ganzen ist die Außenministerin, die zugleich – welche Ironie – auch die Verantwortung für alles Geschehene trägt.
Die entscheidende Recherche-Erkenntnis des Focus wird nun von der Welt am Sonntag bestätigt: Es geht keineswegs nur um drei Mitarbeiter und rund 20 Fälle, wie das Auswärtige Amt schmallippig mitteilte. Die Dimensionen der Sache, in der aktuell die Staatsanwaltschaften Berlin und Cottbus ermitteln, ist weitaus größer. Denn es sind nicht allein die Staatsanwälte, die dem AA auf der Spur sind. Auch die Kriminalpolizei ist in die Ermittlungen involviert. Überprüft wird demnach „eine hohe vierstellige Anzahl an Visa-Genehmigungen“, das bedeutet mehr als 5.000 Fälle weltweit. Die Zwischenergebnisse werden laufend den Staatsanwaltschaften mitgeteilt, so die Welt.
Sicherheitsprüfungen erst verstärkt, dann ignoriert
Geklärt werden soll nun auch, wie oft Afghanen trotz eines Vetos aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz ins Land geholt wurden. Der Verfassungsschutz wurde zwar routinemäßig an den Überprüfungen beteiligt, ebenso wie das Bundeskriminalamt und die Bundespolizei, aber die Sicherheitsbehörden leisteten hier nur Input, gaben ihre Informationen und Einschätzungen an Amt und Botschaften weiter. Schon heute ist offenkundig, dass diese Maßgaben der Sicherheitsbehörden nicht immer berücksichtigt wurden. Bundespolizisten auf deutschen Flughäfen mussten in mehreren Fällen ungültige Visa für nichtig erklären, die in Ersatzpässe (Proxypässe) eingeklebt worden waren. Denn das ist laut deutscher Behördenpraxis nicht erlaubt.
Ironisch ist, dass die Bundesregierung in einer Antwort an die Linkspartei vom Mai schreibt, dass man „die Kapazitäten so ausgeweitet“ habe, dass „bei Bedarf mehrere hundert Sicherheitsinterviews pro Monat durchgeführt werden können“. Die Zahl der Sicherheitsinterviews in Islamabad hängt also heute allein „von der Anzahl der ausreisefähigen Personen ab“. Das klingt nach einem System, das auf Durchmarsch eingestellt ist. Sobald eine X-beliebige Person in Islamabad (Pakistan) sich zum Afghanen erklärt, irgendwelche zusammengesuchten Ersatzpässe und ähnliches bereithält und Antrag auf Einreise stellt, ist die deutsche Botschaft mithin verpflichtet, eine Sicherheitsprüfung vornehmen zu lassen, wobei Bundespolizei- und BKA-Ressourcen gebunden werden, zusätzlich die des Verfassungsschutzes.
Die Folge scheint meist die genehmigte Einreise und ein Visum zu sein. Frage der Linksfraktion: „Ist es bereits vorgekommen, dass Personen mit Aufnahmezusage im Bundesaufnahmeprogramm im Zuge des Visaverfahrens abgelehnt wurden (…)?“ Antwort der Bundesregierung: „Ein Fall im Sinne der Fragestellung ist bisher nicht vorgekommen.“ Doch am Ende protestiert eben wieder die Bundespolizei, die doch vorher schon aufwendig eingeschaltet worden war. Effizient und sicher sollte anders gehen.
Warum durften die Afghanen einreisen? Keine Antwort von Ihrer Bundesregierung
Auffällig bleibt aber in der ganzen Angelegenheit das Mauern des Auswärtigen Amtes, das zunächst versuchte, die Verantwortung auf die niederen Ränge oder die Sicherheitsbehörden abzuwälzen, und dabei so tat, als hätte die AA-Leitungsebene hier im Konsens mit allen Beteiligten gehandelt. Dem war offenbar nicht so. Vielmehr wurde im Auswärtigen Amt eine ideologische Linie gefahren, die auf eine Maximierung der Einreisen mit schlecht begründeten Visa abzielte. Um dieses Versagen zu bemänteln, werden nun auch alle Arten von parlamentarischen Fragen blockiert, selbst wenn sie von „befreundeten“ Parteien wie CDU oder Linkspartei stammen.
So wollte erst die Linke (in der oben zitierten Kleinen Anfrage), dann auch die CDU wissen, ob bei der Auswahl der eingeflogenen Afghanen wirklich auch „besonders gefährdete Gruppen“ wie Journalisten und NGO-Engagierte berücksichtigt wurden – die Antworten waren jeweils gleichlautend: „Statistische Angaben im Sinne der Fragestellung werden nicht erfasst.“
Nun geht es seit dem Herbst um eine vergleichsweise kleine Zahl, nur einige hundert Einreisen aus Afghanistan hat Außenministerin Annalena Baerbock in dieser Zeit managen können. Daneben standen immerhin 2.208 Aufnahmezusagen (Stand: 26. April). Umso mehr überrascht die Konfusion über die Gründe und Kriterien für diese Einreisen. Aber ohne Frage gilt, dass sie und ihre Parteifreunde sehr viel mehr anstreben: Tausende, ja zehntausende Einreisen stehen auf dem Wunschzettel der Hardcore-Grünen.
Seit September sieben hochgeheime Auswahlrunden
Darüber hinaus hat die Bundesregierung in ihrer Antwort an die Linkspartei auch ihren Joker gezogen, nämlich den Geheimhaltungsgrad „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“. Doch damit will das Auswärtige Amt offenbar nur seinen eigenen intransparenten Auswahlprozess vor der Öffentlichkeit verbergen. „Das Bekanntwerden der Informationen könnte insbesondere zur Einflussnahme von Unbefugten auf den Auswahlvorgang genutzt werden“, so heißt es raunend. „Die Offenlegung dieser Informationen ist damit geeignet, den Auswahlprozess nachteilig zu beeinflussen.“ Alles, was man erfährt ist, dass von September 2023 bis März dieses Jahres nochmals sieben Auswahlrunden stattfanden, um weitere Afghanen nach Deutschland zu lotsen.
Die Bundesregierung veranstaltet also „Auswahlrunden“ im Rahmen ihres „Bundesaufnahmeprogramms“ für Afghanen, wendet dabei auch sicher irgendwelche Kriterien an (man möchte es sich nicht anders vorstellen). Sie versucht also festzustellen, wer schutzbedürftig ist und wer nicht, verheimlicht aber der Öffentlichkeit am Ende, welche Gründe wirklich in welcher Anzahl zur Einreise nach Deutschland geführt haben. Dieses Ergebnis kann letztlich nur Ausdruck äußerster Konfusion in den Reihen der Bundesregierung oder von böswilliger Vertuschung sein. Es bleibt nicht viel mehr.
Denn das Argument der „Einflussnahme von Unbefugten“, wo von einer schlichten anonymisierten Statistik die Rede ist, zieht nicht, hat wohl nur im Grünen-Kosmos eine Bedeutung, wo man Medien und Öffentlichkeit als Gefahr für die eigene Agenda sieht. Man kann nur schlussfolgern, dass das grün geführte Auswärtige Amt und mit ihm die Bundesregierung die Kontrolle über das „Bundesaufnahmeprogramm“ längst verloren haben und auch gar nichts anderes angestrebt haben. Die Macht liegt in Händen von unbestellten Geheimgremien mit unbekanntem Modus operandi und von NGOs, die anscheinend im Alleingang ohne öffentliche Kontrolle bestimmen können, wer nach Deutschland einreisen darf.
Chaos oder Korruption – oder beides
All das klingt äußerst bedenklich und wird sicher noch bedenklicher, sobald mehr Details bekannt werden. Wenn eine Bundesregierung nicht mehr den Vollzug dessen melden und bestätigen kann, was sie offen seit Jahren gefordert und hinausposaunt hat, dann ist definitiv etwas fischig an der Sache. Warum sollte es plötzlich geheim sein, ob und in welcher Zahl Journalisten, Frauenrechtler, afghanische Juristen, Politiker, Bildungs- und Kulturträger, Sportler oder Wissenschaftler in Deutschland aufgenommen wurden, nachdem man sich doch die Aufnahme eben dieser angeblich „gefährdeten“ Gruppen so lange auf die Fahnen geschrieben hatte?
Warum darf die Öffentlichkeit nicht erfahren, in welcher Größenordnung wir Menschen geholfen haben, die „aufgrund Geschlechts, sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität“ oder wegen ihrer Religion in Afghanistan gefährdet waren? All das erklärt sich nicht oder nur sehr schlecht, solange man diese Bundesregierung noch in irgendeiner Weise für zuverlässig oder einer ordentlichen Buchführung fähig hält. Was ist schwer daran, hierzu eine Statistik zu führen? Es kann nur eines von beidem sein: Chaos oder Korruption.
Die NGO des grünen EU-Abgeordneten Erik Marquardt, „Kabul Luftbrücke“, preist ihre „Dienstleistungen für Schutzsuchende“ als kostenlos an und hat einen Zähler „Bundesaufnahmeprogramm in Zahlen“ auf der eigenen Website eingerichtet. Hier zeigt sich, auch an den sicher irgendwo offiziell hinterlegten Phantasiezahlen, dass Marquardt nur eine Stoßrichtung bei diesem Unternehmen kennt: Es sollten nicht einige hundert Aufnahmen seit Beginn des jüngsten Aufnahmeprogramms sein, sondern bitte 21.000, steht dort zwischen den Zeilen zu lesen. Dabei sind schon 34.000 Afghanen durch verschiedene Programme der Bundesregierung nach Deutschland eingeflogen worden. Für die Grünen ist das noch nicht genug.