Tichys Einblick

Vergebung und Unverzeihlichkeit im Zeitalter Angela Merkels

Eine kurze historische Betrachtung zur inneren Liberalität in Deutschland - von wilhelminischem Kaiserreich und merkelistischer Gegenwart.

Odd Anderson/AFP/Getty Images

Als Angela Merkel auf ihrer Südafrika-Reise von Pretoria aus verkündete, das Ergebnis der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen am 5. Februar sei „rückgängig“ zu machen, sprach sie einen Satz aus, der zu den erinnerungswürdigen Formulierungen ihrer langen Amtszeit zählen dürfte. Diese Forderung hatte noch kein bundesdeutscher Regierungschef vor ihr erhoben. Auch wusste niemand, selbst ihre treuen Helfer in Berlin nicht, wie ihre Anordnung praktisch ausgeführt werden sollte. Rückgängig machen lässt sich bekanntlich kein Wahlakt.

Ihre zweite Äußerung lautete, die Wahl eines FDP-Politikers mit Stimmen der FDP, ihrer Partei und der AfD sei „unverzeihlich“. Mit diesem Wort stößt sie noch einmal auf ein ganz anderes Gebiet vor, herrschaftstechnisches Neuland sozusagen. Ihr Diktum sprach sie von der Hauptstadt eines Landes aus, das nach dem Ende der Apartheid einen langen und nur bedingt erfolgreichen Versöhnungsprozess begann, in dem beide Seiten allerdings grundsätzlich Vergebung für Mord, Folter und Terror für möglich hielten. Vor dieser Folie erhält Merkels Diktum „unverzeihlich“ noch eine ganz eigene Wucht. Sie klassifiziert mit „unverzeihlich“ den Wahlakt eines Landesparlaments als Schuld, die nie abgetragen werden kann, als Vorgang, für den es keine Milderung gibt, auch nicht später. Damit begab sie sich, für viele in diesem konfusen Moment unbemerkt, in die singuläre Position einer politischen Kraft, die von einer Schuld lossprechen kann, oder, wie in diesem Fall, den Betreffenden die Verzeihung verweigert. Dass sich die Spitze der Exekutive als letzte Instanz sieht, die persönlich über Parlamentsabgeordnete richtet, sie öffentlich wägt und für moralisch unzurechnungsfähig erklärt– das gab es in der Geschichte der Bundesrepublik bis zu Merkels Pretoria-Auftritt noch nicht.

Wofür hält sich diese Frau?

Der Frage, wofür sich jemand hält, und für wen er gehalten wird, ging im Kaiserreich der Historiker Ludwig Quidde nach. Im Jahr 1894 veröffentlichte der Gelehrte eine schmale Broschüre von nur 17 Seiten mit dem Titel „Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn“.

In dem Brevier zeichnete er das Leben des römischen Kaisers Caligula mit kräftigem und karikierendem Strich. Den Namen von Kaiser Wilhelm II., der seit 1888 regierte, erwähnte er an keiner Stelle. Trotzdem erkannten die Zeitgenossen bestens, wer hier porträtiert wurde. Über Caligula schrieb Quidde:

„Der Kaiser konnte keine selbständige Kraft neben sich ertragen; er wollte sein eigener Minister sein, und nicht nur das: auf jedem Gebiet auch selbständig eingreifen“ (…)
„Der durchgehende Charakterzug seiner Maßregeln war eine nervöse Hast, die unaufhörlich von einer Aufgabe zur andern eilte, sprunghaft und oft widerspruchsvoll, und dazu eine höchst gefährliche Sucht, alles selbst auszuführen.“

Um die Kenntlichkeit auch wirklich zu garantieren, machte sich der Historiker über die „mit unsinnigem Luxus ausgestatteten kaiserlichen Yachten“ und über den Verkleidungsfimmel des römischen Herrschers lustig, sein Bramarbasieren, seine Selbstüberhebung, um am Ende listig anzufügen, Parallelen zur Gegenwart dürfe natürlich niemand ziehen: „Denn etwas, was diesem Cäsarentum und dieser Herrschaft des Cäsarenwahnsinns ähnlich wäre, ist unter den heutigen Verhältnissen so völlig unmöglich, daß uns die ganze Schilderung wie ein kaum glaubliches Phantasiegemälde oder wie eine übertriebene Satire römischer Schriftsteller auf das zeitgenössische Cäsarentum anmuten wird.“

Wie das Publikum auf die Schrift reagierte, erzählt viel über das geistige Klima des Kaiserreichs. Am 8. Mai 1894 griff die sozialdemokratische Parteizeitung Vorwärts die Broschüre auf, allerdings noch ohne großes Echo. Das gab es erst, als die erzkonservative Kreuzzeitung sich ausführlich dem „elenden Machwerk“ widmete, aus dem sie in ihrem Artikel ausgiebig zitierte. Fast alle großen Publikationen griffen Quiddes Text auf, die Frankfurter Zeitung, Maximilian Hardens Zukunft; die Kölnische Volks-Zeitung und Handelsblatt forderte bei der Gelegenheit die Aufhebung des Majestätsbeleidigungsparagrafen.

Moment, Majestätsbeleidigung? Majestät kam ja gar nicht namentlich vor. Deshalb setzte sich auch kein Staatsanwalt in Bewegung. An der Publikationsgeschichte von „Caligula“ zeigt sich exemplarisch, welche publizistische Breite in dem heute als illiberale Halbdemokratie verschrienen Kaiserreich existierte. Das Angebot reichte von weit links bis weit rechts. Keine größere Redaktion auch der kaisertreuen Blätter meinte, „Caligula“ verschweigen zu müssen. Niemand versuchte, die Rezension der Broschüre durch einen herabsetzenden Artikel über Quiddes Privatleben zu ersetzen. Vor allem kauften die kaiserlichen Untertanen das kleine Heftchen. Innerhalb weniger Wochen gingen 150.000 Exemplare an die Leser. Falls es Buchhändler gab, die Haltung zeigten und „Caligula“ aus Prinzip nicht anboten, dann konnten es nicht viele gewesen sein. Anderenfalls wäre der Verkaufserfolg nicht möglich gewesen. Nach zeitgenössischen Schilderungen erwarben auch tausende Offiziere und Beamte die Schrift, und zwar nicht verschämt und verdeckt, sondern ungeniert. Sicherlich gab es Diederich Heßlinge im Kaiserreich, allerdings weniger, als Kaiserreichskritiker heute annehmen. Ludwig Quiddes 17-Seiten-Werk wurde die einflussreichste deutsche Veröffentlichung der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts.

Für seinen Streich musste der Historiker Konsequenzen in Kauf nehmen. Da ihn die meisten Kollegen fortan schnitten und niemand mehr Beiträge für seine Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft lieferte, blieb ihm nichts übrig, als sie 1895 einzustellen.

Die Historische Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, deren außerordentliches Mitglied Quidde war, entzog ihm ab 1898 die alleinige Leitung der Edition der Reichstagsakten. Als der dreiste Wissenschaftler nach „Caligula“ öffentlich Wilhelm II. wegen seines Versuchs verspottete, für seinen Großvater Wilhelm I. nachträglich die Titulatur „Wilhelm der Große“ durchzusetzen, schlug der Staatsanwalt dann doch zu. Quidde musste wegen Majestätsbeleidigung drei Monate in Stadelheim absitzen.

Allerdings gab es noch nicht einmal den Versuch von Hof und Reichsregierung, den Vertrieb von „Caligula“ zu unterbinden, auch nicht indirekt durch zivilgesellschaftlichen Druck auf Buchläden. Überhaupt gab es im Kaiserreich noch keine Zivilgesellschaft, nur eine Gesellschaft. Weder die Historikerzunft noch Kulturschaffende allgemein verfassten einen Aufruf, Quidde aus der Bayerischen Akademie auszuschließen. Keine Zeitung fragte öffentlich: „Darf man Quidde verlegen?“ Bis 1926 erlebte „Caligula“ übrigens 31 Auflagen. Vor Quiddes Wohnung marschierten keine Korpsstudenten auf. Weder er noch seine Frau wurden in München bespuckt. Der Historiker blieb eine öffentliche Person, vielmehr wurde er es überhaupt erst nach „Caligula“; er gehörte zu den Mitgründern der pazifistischen Bewegung in Deutschland. Kein kaiserlicher Exekutor, keine Parteizentrale, keine Aktivisten setzten Wirte unter Druck, Quidde und seiner Bewegung keine Säle zu vermieten.

Die Gelassenheit, mit der das kaiserliche Deutschland auf den Publizisten reagierte, kam in der ersten Linie aus der Stärke seiner Ordnung. Die neunziger Jahre gelten in der Geschichtsschreibung heute als nervöses Jahrzehnt. Aber das Deutsche Reich litt nicht unter einer inneren Dauerhysterie. Das lag nicht zuletzt an der aus heutiger Sicht geradezu märchenhaften publizistischen Vielfalt, in der sich jeder seine Stimme verschaffen konnte.

Um die Wirkung von Quiddes „Caligula“ zu würdigen, sollte man wissen, dass er tatsächlich seine Nadel in einen hochempfindlichen Punkt des Kaiserreichs gerammt hatte. Wilhelms konfuse, sprunghafte und oft ridiküle Konstitution war vielen Zeitgenossen bewusst. „Nicht gesund – ist wohl die gelindeste Form eines Urteils“, schrieb Philipp Graf zu Eulenburg, ein wohlmeinender Jugendfreund des Monarchen, in einem Brief nach einer Schiffsreise mit dem Kaiser.

Der britische Premierminister Henry Asquith schrieb 1911 in einer Notiz für König George V, er sehe bei Wilhelm „the workings of a disordered brain“.

Im Kaiserreich gab es zum einen die historisch nicht seltene Praxis, durch Allüren und bizarre Auftritte des Herrschers gewissermaßen hindurchzusehen. Gleichzeitig existierte eben eine Liberalität, ja Lässigkeit im Umgang mit Kritik und Spott. Beides hielt einander die Waage.

Dass tonangebende Mitglieder der Gesellschaft heute so tun, als hätten sie es nicht gehört, wenn Angela Merkel auf die Frage einer Bürgerin, wie sie als Kanzlerin mit der hohen Sexualstraftatenrate von Migranten umgehe, antwortet: „Strafdelikte sind bei uns nicht erlaubt“ – eine solche Übung gehört zum Wesen des späten Merkelismus. Oder, zur Pressekonferenz am 20. Juli 2018 vor ihrem Sommerurlaub: „Für die Bundesregierung kann ich sagen, dass wir Recht und Gesetz einhalten wollen und werden, und dass wir das, wo immer das notwendig ist, auch tun.“ Möglicherweise hatten sich damals einige Journalisten im Stillen gefragt: ‚Das kann sie doch jetzt nicht ernsthaft gesagt haben?’ Bei den meisten aus der Branche gleitet ein solcher Satz mittlerweile durch, ohne auf irgendeinen Widerstand zu stoßen. Er lässt sich auch heute noch im Protokoll der Bundesregierung nachlesen.

Eine Wahl rückgängig machen? Die meisten fragten noch nicht einmal, wie sich das praktisch zu meinen beliebte. Unverzeihlich, zu dem Urteil kamen reihenweise auch Kommentatoren. Vermutlich sogar aus eigenem Antrieb.

Selbstverständlich ist, um Quiddes Schlusswort einmal zu bemühen, Merkel nicht Caligula. Ihm rühmte der Historiker eine gewisse Redekunst nach, eine Neigung zu Pracht, sogar ein Gespür für Ästhetik. Derlei muss sich die Kanzlerin wirklich nicht vorwerfen lassen.

Das Besondere ihrer Ära liegt darin, dass so viele – vor allem Journalisten – in ihrem Verhalten nicht nur keine Anmaßung oder Herrscherinnenwahn sehen, sondern völlig vernünftiges Regierungshandeln.

Ein Ludwig Quidde von 2020, der heute in den Nerv des Merkelismus sticht, müsste keine drei Monate in Stadelheim absitzen. Ihm würden persönlichere und vor allem nachhaltigere Maßnahmen drohen. Wenn die „wachsame Zivilgesellschaft“ – wie sie kürzlich eine Linken-Politikerin lobte – vor seinem Haus aufmarschierte, dann würde auch das von vielen Stützen der Gesellschaft gelobt oder zumindest schweigend – vor allem schweigend – hingenommen.

Die These, dass es im Kaiserreich von 1894 liberaler und entspannter zuging als im besten Deutschland aller Zeiten 2020 – die These kann der Autor hier vertreten. In den allermeisten Zeitungen könnte er es nicht. Gerade Redakteure, die bei Quidde erst googeln müssten und Wilhelm II. für einen Diktator halten, würden mit schlagenden Argumenten wie Tss und Pff antworten, vielleicht auch ausführlich mit:  Unerhört.

Über einen Abgeordneten, der im Bundestag einen Vergleich von Kaiserreichsliberalität zu der von heute zur Debatte stellen würde, bräche ein Strafgericht herein. Und zwar in allen Fraktionen mit Ausnahme der AfD zuallererst von den eigenen Kollegen.

Wahn und Übergeschnapptheit verteilen sich 2020 wesentlich breiter als unter Wilhelm II. Beides ist gewissermaßen demokratisiert.

Und ein kollektiver Wahn wirkt natürlich gleich viel vernünftiger als der einer einzelnen Figur an der Spitze.

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