Momentan hat man den Eindruck, ganz Deutschland ist in einem einzigen Glücksrausch versunken. Joe Biden ist zur neuen Heilsgestalt geworden. Fast mehr noch als einst Barack Obama, dessen Liebe zu Angela jedoch alsbald verglühte und beispielsweise in der Frage deutscher Beteiligung an Militäreinsätzen im Nahen Osten oder bei der Nichteinhaltung höherer deutscher Beiträge zu den Nato-Kosten Enttäuschung und Frustration folgten. Aber wir wissen ja aus dem eigenen Leben, dass im Rückblick vieles rosiger aussieht, als es war. Vielleicht sollte man die Gunst der Stunde nutzen und Biden bitten, gleich noch die Kanzlerkandidatur in Deutschland mit zu übernehmen. Auf dass sich auch in unserem Land alle wieder die Hände reichen und in Harmonie versinken.
Tatsächlich täte ein solcher Seelentröster zur Zeit Not. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war der Abstand zwischen Politik und Bevölkerung so groß wie heute. Die Menschen im Land rufen nach Orientierung und Wahrhaftigkeit. Nur „Mutti“ Merkel schwebt mit ihrer Unnahbarkeit und Strenge wie eine Sphinx über den Niederungen der Ebene zumal mit der Corona-Peitsche in der Hand. Bitte nicht misszuverstehen, aber ein bisschen weniger Wagner’sche Schwere und Theatralik könnte schon sein.
Doch wie schon gesagt, Eile ist geboten, denn schon bald dürften die Risse zwischen EU-Europa, und hier ganz besonders Deutschland, und den USA wieder klar hervortreten. Sicher wird Biden dem Pariser Klimaabkommen wieder beitreten und die Kohle-Verstromung, mit der Trump einen Großteil der neuen Jobs geschaffen hatte, wieder zurückdrängen. Welch Freude für die Betreiber von Kernkraftwerken, von denen die USA 26 neue planen. Was mag Merkel wohl dazu sagen?
Die Nordstream-2-Pipeline wird von Biden wie von Trump vehement abgelehnt. Man sieht in Washington einfach nicht ein, dass ein Partner wie Deutschland sich von den USA militärisch schützen lässt, und sich zugleich von dem Bedroher energiepolitisch abhängig macht. Ähnliches gilt für das immer nach innen und außen aggressiver und imperialer werdende Gebaren Chinas. Gleich nach all dem kommen die Handelskonflikte, an denen schon das TTIP-Abkommen scheiterte. Nur kommt dann schmerzlich die Ernüchterung verbunden mit einer tiefen Sehnsucht nach Trump. Wie schön war es doch, als man nicht über die Gegensätze sachlich diskutieren musste, sondern die Schuld an allem Unbill der Welt auf den verrückten Cowboy im Weißen Haus schieben konnte. Allein die „toxische Männlichkeit“ des Mannes empörte Millionen sich auf dem Wege der Emanzipation befindliche Frauen in den Zeitgeistgenerationen der westlichen Welt. Trump erschien generell als Rückfall in die Neandertaler-Zeit. Allein sein Name genügte, um jeden Schritt von ihm zu verdammen, ohne sich damit auch nur ein wenig beschäftigen zu müssen. Wer fortschrittlich ist, hasst Trump, so die Devise. Mit dem sanften Biden geht das nun nicht mehr – Oh, wie schade!
Am besten brachte es der Mann im Schloss Bellevue auf den Punkt: Er verspreche sich von Biden Zuverlässigkeit und Vernunft! Aber was, wenn jeder unter Vernunft etwas anderes versteht?