Tichys Einblick
Altes Programm von neuem

Die Wiedergewählte: Ursula von der Leyen triumphiert über ihre Gegner

Die eigenen Stimmen waren ihr nicht gewiss. Aber auf die Grünen war offenbar Verlass. Von der Leyen trat mit ihrem alten aufgeblähten Programm von Green Deal und verschleppten Reformen an. Für die Zukunft scheint nur eins sicher: Mehr Geld der Bürger soll durch die Hände der EU gehen – das Gegenteil von Bürokratie-Abbau.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Jean-Francois Badias

Ursula von der Leyen wurde mit 401 Ja-Stimmen als Kommissionschefin wiedergewählt. Die Stimmen kamen maßgeblich aus den drei Fraktionen von EVP, Sozialdemokraten und „Renew Europe“, die zufällig genau über 401 Sitze verfügen. Dabei haben aber diese drei Parteiengruppen, die sich als Kommissionsmehrheit verstehen, wohl nicht geschlossen für von der Leyen gestimmt. Es ist also davon auszugehen, dass auch aus anderen Parteien Stimmen kamen.

Die ganze Wahl könnte man unter das Motto stellen: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Denn im Hakenschlagen war Ursula von der Leyen nicht zu schlagen. Andererseits spielte sie eher die Allwissende, die mit allen „demokratischen“ Kräften redet, während sie die anderen Kräfte wohl auch kennt, aber angeblich nicht berücksichtigen will. Auch in ihrer Rede vom Donnerstag stellte sich die Kandidatin als kleinsten Nenner einer größeren Koalition vor, indem sie sich sowohl als Green-Deal-Prophetin präsentierte als auch als Wettbewerbshüterin, als Grenzschützerin wie als Verteidigerin der Menschenrechte.

Werben wollte von der Leyen damit um Stimmen sowohl der Grünen als auch der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR). Am Dienstag sprach von der Leyen mit den Konservativen, die sie nicht als extrem rechts wahrzunehmen scheint, obwohl das einige ihrer linken Verbündeten (S&D und Grüne) tun. Es geht um Parteien wie die belgischen Separatisten von der Neuen Flämischen Allianz (N-VA), die Partei des tschechischen Ministerpräsidenten Petr Fiala, die polnische PiS oder Giorgia Melonis Fratelli d’Italia.

BSW und andere wollten Wahl verhindern

Aber auch nach dem Treffen, das als „intensiv“ beschrieben wurde, wollten nicht alle Einzelparteien für von der Leyen stimmen, einige schon, etwa die Belgier und Tschechen. Die Polen (PiS) schlossen ein Ja aus, weil sie 2019 für die neue Kommissionschefin gestimmt hatten und sich in der Folge übergangen fühlten, unter anderem weil von der Leyen ihren politischen Gegner Donald Tusk im Wahlkampf unterstützte. Ohne eindeutige Botschaft gingen die Fratelli aus dem Verhandlungszimmer. Und das blieb auch am Donnerstag so. Ob Melonis Parteifreunde für von der Leyen oder gegen sie gestimmt haben, sollte man nur an der Höhe ihres Wahlsiegs erkennen. Das scheint der Apex der italienischen Geheimdiplomatie zu sein. Für Italien geht es bei der Wahl, wie für alle, eigentlich schon um die Zusammensetzung der neuen Kommission. Mit einem einflussreichen Wirtschaftsressort wäre Meloni wohl zufrieden.

Daneben sendete von der Leyen kurz vor ihrer Wahl noch einmal eindeutige Signale an die Grünen und Linken, etwa indem sie harsch gegen den ungarischen Premier Viktor Orbán austeilte und versuchte, ihm die rotierende EU-Ratspräsidentschaft, die Ungarn gerade innehat, quasi abzuerkennen. Von hinter den Kulissen berichtet der BSW-Abgeordnete Fabio De Masi, dass die Grünen bei anderen Parteien sogar aktiv um die Wahl von der Leyens warben. Das solle zwar nicht so öffentlich werden, weil es die Abgeordneten von konservativen Parteien abschrecken könne, aber tatsächlich versuchte man sich hier also krampfhaft, an der Installation der neuen Kommissionschefin zu beteiligen – um in den Kader der offiziellen „Koalition“ hinter von der Leyen aufgenommen zu werden? Vielleicht, anscheinend hat eine weitere Amtszeit von der Leyens aber auch aus grüner Sicht Vorteile.

Das BSW hatte überdies den Antrag gestellt, die Wahl von der Leyens überhaupt zu verschieben, „bis die bisher rechtswidrig zurückgehaltenen Dokumente und Informationen offengelegt sind“. Damit nahm die Partei auf ein EuGH-Urteil Bezug, das die Kommission zur Offenlegung der Verträge über den Erwerb von sogenannten „Impfstoffen“ zu Covid-19 verpflichtete. Übrigens auch zur Offenlegung der Namen der Verhandler, zu denen auch Ursula von der Leyen – teilweise solistisch agierend – gehört haben soll.

Die Bewerbungsrede: Etwas Green Deal hier, ein wenig Grenzschutz da

Nach der Wahl nahm von der Leyen die Gratulationen einer Traube von Abgeordneten an. Vor ihrer Wahl hatte sie in einer Bewerbungsrede deutlich gemacht, wohin die Reise mit ihr gehen soll. Darin blieb die Kandidatin bei dem Muster, das man von ihr kennt: ein bisschen Green Deal hier, ein wenig Frieden (oder doch Kriegsanstrengungen?) in der Ukraine dort. Ja, beides ging auch wunderbar zusammen: Von der Leyen will für immer unabhängig werden von „schmutzigen russischen Energien“. Auch diesen Spin kannte man schon, bisher kam er meist von Klima-Radikalen wie Luisa Neubauer. Zuerst erinnerte von der Leyen aber an die emotionalen Momente ihrer Amtszeit: die Rede Selenskyjs nach dem russischen Angriff, der leere Stuhl für den ermordeten Alexei Nawalny, das Absingen von „Auld Lang Syne“, als Großbritannien die Union verließ.

Ihre Rede war dann eine geballte Lobeshymne für die vergangenen „Errungenschaften“ dieser EU, der von der Leyen zufällig in den letzten fünf Jahren vorstand. Natürlich kam von der Leyen auch bald dazu, sich als Anführerin der „demokratischen Kräfte in diesem Haus“ darzustellen und zu stilisieren. Diesen Kräften hat sie angeblich aufmerksam zugehört.

Ihre erste Priorität soll nun angeblich werden: die Wettbewerbsfähigkeit. Damit die EU hier stabil bleibt, brauche sie einen „großen Aufschwung“, so von der Leyen. Das Geschäftsleben in der EU soll „einfacher und schneller“ werden. Jener Bürokratieabbau, den sie nun verspricht, der blieb allerdings in den letzten fünf Jahren – trotz gleichlautender Versprechen – aus. Nun will von der Leyen einen Vizepräsidentenposten dafür in ihrer Kommission schaffen, der einmal im Jahr im Parlament Bericht erstatten soll. Ist das nicht noch mehr Bürokratie?

„New Clean Industrial Deal“ – bezahlt vom Steuerzahler?

Daneben muss sich aber immer noch jeder Kommissar um die Effizienz in seinem Bereich selbst bemühen – und wird dabei künftig von dem Vizepräsidenten überwacht. Daneben soll es einen „New Clean Industrial Deal“ geben, worin man das nächste Ausgreifen des „Green Deals“ auf die Industrie erspähen kann. Die Frage bleibt, ob das überhaupt eine EU-Angelegenheit sein muss, für die am Ende Steuergelder aufgewandt werden. Von der Leyen will jedenfalls zugleich dekarbonisieren und industrialisieren, so will sie weiter in „hausgemachte Erneuerbare“ investieren und von den „schmutzigen russischen Fossiltreibstoffen“ wegkommen wie von einer Drogenspritze. Diese Ära soll ein für alle Mal vorbei sein.

Auch einen EU-Rahmen für die Demokratie schlug von der Leyen vor. Die Beeinflussung durch fremde Mächte müsse verhindert werden, dieses Phantasma etablierter Kreise spinnt von der Leyen weiter. Wie verhindert, das blieb wieder vor lauter Moral und zur Schau getragener Rechtschaffenheit offen. Man kann es beantworten: Verhindert werden solche „Beeinflussungen“ (andere nennen es Kommunikation), indem die Meinungsfreiheit im Innern eingeschränkt wird, indem Online-Foren nach verdächtigen Einträgen durchsucht und zu deren Löschung verpflichtet werden sollen. All das ist möglich geworden dank dem neuen Digital Services Act (DSA) der EU.

Wenn der eigene Bürger fremd-investiert

Von der Leyen beschreibt auch die Investitionen europäischer Bürger in andere Kapitalmärkte als bedauerlichen Fehleffekt, angeblich passiert so etwas nur, weil die europäischen Kapitalmärkte „zu fragmentiert“ sind, nicht wegen der zuvor diagnostizierten Wachstumsschwäche. Dieses Investoren-Fremdgehen führe aber letztlich dazu, dass die derart gestärkten Nicht-EU-Unternehmen teils EU-Unternehmen aufkaufen, was von der Leyen in einer Art „EU zuerst!“-Mentalität stoppen will. Da ist er wieder der kleine Nationalismus der Marktverächter. Und so kommt, was kommen muss: Kaum hat sie das Wort „tiefe, liquide Kapitalmärkte“ gesagt, ist von der Leyen schon beim Thema öffentliche Investitionen. Von wem noch gleich bezahlt? Ach richtig, vom Steuerzahler. Dass das die europäischen Märkte nun wieder attraktiver macht, das darf man ruhig bezweifeln. Der konkrete Plan ist ein neuer EU-Wettbewerbsfähigkeitsfonds, der natürlich den „Neuen sauberen Industrie-Deal“ orchestrieren soll. Diese neue Kommission will anscheinend ganz groß in das Thema Wirtschaft einsteigen.

Noch mehr Investitionen will von der Leyen in die EU-Verteidigungsfähigkeit. Die Friedensmission Viktor Orbáns nannte sie dabei eine „reine Appeasement-Mission“ – zum jubelnden, ohrenbetäubenden Beifall der Parlamentarier. Auf Französisch sagte von der Leyen: „Wir schulden der Ukraine alles, dessen sie bedarf, um zu widerstehen und zu siegen.“ Eine wirkliche Verteidigungsunion soll kommen, um die Freiheit des Kontinents zu verteidigen.

Und wieder Russland als einziger Gegner

Daneben will sie laut ihrer Rede die Zahl der Grenz- und Küstenschützer von Frontex verdreifachen, die sich natürlich streng an die genannten Menschenrechte halten werden müssen. Vor allem im Auge hat von der Leyen die Ostgrenze der Union: „Russland lockt Migranten aus dem Jemen hoch in den Norden, nutzt ihr Elend aus und schiebt sie mit Absicht über die finnische Grenze.“ Das seien hybride Operationen – dem Thema der illegalen Migration gibt von der Leyen also einen ziemlich politischen Spin. Auch die Mittel für Europol sollen verdoppelt werden.

Gleich kommt von der Leyen zu einem weiteren Großplan, einem Programm für das Mittelmeer, das sie mit der neuen (noch nicht akklamierten) Außenbeauftragten Kaja Kallas anschieben will und das dem Motto folgen soll: „Die Zukunft jener beiden Mittelmeerküsten ist eine und dieselbe.“ Gemeint waren offenbar die Südküste der EU und die Nordküste von Afrika. Auch einen neuen Kommissar für diesen EU-Plan soll es geben, und es ist kein Zufall, dass von der Leyen diese Vorhaben im Kapitel zur Migration einstreute. Offenbar ist geplant, die Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Staaten massiv auszubauen, um die Migrationsströme auf diesem Weg zu lenken.

Zur Landwirtschaft sprach von der Leyen auf Deutsch, und gleich wurde es pseudo-gemütlich: Rapsfelder, Weinberge, Obstwiesen. Auf diesem Feld will von der Leyen nun noch mehr Gegensätze überwinden und kündigt eine neue europäische Strategie an. Aber sind das mehr als klingelnde Worte? Angeblich will sich UvdL dafür einsetzen, dass Landwirte ein faires Einkommen bekommen. Mit welchen Instrumenten, darf man sich fragen. Und weiter: „Niemand sollte gezwungen sein, gute Lebensmittel unter Produktionskosten zu verkaufen.“ Auch eine Gratis-Moralposition. Und dann kam natürlich auch hier die grüne Wende. Für ihren Beitrag zum CO2-Haushalt sollen die Landwirte angemessen entlohnt werden – sollen. „Und deshalb sind wir alle stolz auf sie.“ Müssen uns besser mit der Landwirtschaft auf Klimawandel vorbereiten. Umgang mit kostbarer Ressource Wasser.

Und noch ein neuer Kommissar soll kommen: für Wohnraum, zusammen mit einem EU-Plan für erschwinglichen Wohnraum. Noch ein Thema, in das die neue Kommission sich einmischen will, parallel zu allen nationalen Regierungen, als ob Wohnen nun nicht wirklich etwas Lokales wäre, das man am besten subsidiär in kleineren Einheiten löst. Von der Leyen dazu: „Wenn es für die Europäer wichtig ist, dann ist es auch für Europa wichtig.“ Und gemeint ist natürlich die EU. Mit diesem Satz kann die EU künftig jede beliebige Kompetenz an sich ziehen.

Aussprache mit Ausschlägen

Es folgte eine Aussprache, die einige wenige Höhepunkte hatte. So erregte sich eine rumänische Abgeordnete sehr, als die Französin Valérie Hayer (Fraktionsvorsitzende von Renew) ein EU-weites Recht auf Abtreibung forderte.

Eine polnische Kollegin machte ihre scharfe Kritik gegen die Wiederwahl am Pult deutlich und schloss, dass von der Leyen eigentlich hinter Gitter gehöre, nicht in die EU-Kommission. Der „European Green Deal“ führe die EU in den wirtschaftlichen Niedergang, mache die Europäer ärmer. Der EU-Migrationspakt habe dazu geführt, dass Frauen und Kinder sich auf den Straßen bedroht fühlen.

— Aleksandra Huk (@HukAleksandra) July 18, 2024

Noch explosiver schäumte nur Christine Anderson (AfD). Auch sie hatte gestern den Antrag auf Verschiebung der Wahl gestellt.

Die italienische Abgeordnete Silvia Sardone (Lega) warf von der Leyen vor, mit denselben Politiken wieder anzutreten, die desaströs seien und im Parlament schon oft genug gescheitert sind.
Jordan Bardella votierte am Pult, wie zu erwarten war, eindeutig gegen die Wiederwahl von der Leyens. Er erinnerte sie dennoch in staatstragender Manier daran, dass die europäischen Völker sich bei den EU-Wahlen für den Schutz ihrer Grenzen, ihrer Identität und der Demokratie ausgesprochen hätten. Das zeige das Wachstum der patriotischen Parteien und der Rückgang im Zentrum, bei Liberalen und Grünen.

Keine Wahlempfehlung, weder in die eine noch die andere Richtung, gab es vom Vertreter der Fratelli d’Italia (EKR), Nicola Procaccini. Aber am Ende waren die 24 Stimmen der Fratelli wohl nicht nötig, zumindest wenn die Grünen geschlossen für von der Leyen gestimmt haben.

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