Es ist elf Uhr dreißig, Unter den Linden, und der Sturm der Extremisten auf Berlin fällt aus. Und das, obwohl dort schon ziemlich viele Menschen unterwegs sind, gehend, vorübergehend stehend, denn an der nächsten Ecke fädeln sich diejenigen, die aus Richtung Brandenburger Tor kommen, in den Menschenzug ein, der sich langsam die Friedrichstraße hinabbewegt. Vor der russischen Botschaft sammelt sich eine Gruppe, die skandiert: „Wir wollen den Friedensvertrag.“ Sie gehören zu einer Strömung, die an diesem Tag mit anderen Gruppen zusammenfließt zu diesen vielleicht 70.000 in der Friedrichstraße (es gibt noch mehr Gruppen in der Stadt, davon später). Die Friedensvertrags-Forderer sind davon überzeugt, dass es sich bei der Bundesrepublik um keinen souveränen Staat handelt, eben dieser Friedensvertrag mit den Alliierten geschlossen werden muss, und dass Deutschland dann eine Verfassung braucht.
Die Ü60-Fraktion dieser Leute erinnert ein bisschen an Ostermarsch-Veteranen – ergraut, leicht hippiesk, die jüngeren wirken sehr normal, bis auf die Kaiserreichs-Flaggen, die der eine oder andere schwenkt. Die Friedensvertragsleute bilden gewissermaßen den radikalen Flügel des Demo-Zuges vom 29. August. Ein paar Hundert unterschiedlichen Alters, die skandieren: „Wir-wollen-den-Friedensvertrag“ – so hatte sich der Demo-Beobachter den Sturm der Demokratiefeinde auf die Bundeshauptstadt nicht vorgestellt, den Berlins Innensenator Andreas Geisel drei Tage vorher beschworen hatte („eine Demonstration gegen freiheitlich-demokratische Grundordnung, geht darum unsere Freiheit in Frage zu stellen, und das muss jeder wissen, der sich am Samstag auf die Straße begibt“). Jedenfalls: Das hält die Bundesrepublik Deutschland gerade noch aus.
Wer sich einfach an die Ecke Unter den Linden/Friedrichstraße stellt, wo sich der Zug an diesem sonnigen Mittag zusammenquirlt, und mit Leuten ins Gespräch kommt, der merkt schnell, dass hier kein einheitliches Milieu demonstriert, sondern eine Vielfalt von Milieus, die eigentlich nur das eine gemeinsam haben: das Datum 29. August, so wie vorher den 1. August, den Ort Berlin und die Gelegenheit, ihr Anliegen auf die Straße zu tragen.
Grob gesagt sind es fünf Strömungen unter dem blauen Himmel
Zum einen Demonstranten wie André Menzel, 49, Raumluft-Techniker aus Berlin, der mit seiner Frau hier ist (die ihren Namen nicht sagen möchte). Beide tragen weiße T-Shirts mit dem Aufdruck „mit Dir zum Wir 2020“, eine gerade in Gründung befindliche Partei, wie Menzel sagt. „Bei Corona sind viele Fragen offen“, sagt Menzel. Auch in der Frage, wie etablierte Politiker und die meisten Medien das Thema behandeln. Er findet es beispielsweise irreführend, von „Infizierten“ zu sprechen, wenn die meisten von ihnen keine Symptome zeigen, er möchte, dass Gesundheitsschutz sich auf Erkrankte und Angehörige von Risikogruppen konzentriert. Und dass unterschiedliche Wissenschaftler zu Corona zu Wort kommen, nicht immer nur die sehr enge Auswahl einiger weniger Virologen. Wie viele andere in dem Zug regt er sich darüber auf, dass auf Youtube bestimmte Videos zu Corona gelöscht werden.
Die Hauptforderung der beiden klingt nicht besonders radikal, nicht einmal abwegig. „Regierung und Medien müssten beruhigend auf die Menschen einwirken, statt Panik zu verbreiten.“ Der Raumtechniker will noch loswerden, was er und seine Frau nicht sind: „Wir sind keine Gewalttäter, keine Nazis, keine Reichsbürger.“
Leute wie Menzel, die diskutieren wollen und über eine Verengung des öffentlichen Meinungskorridors klagen, bilden, wenn man so sagen kann, den Mainstream im Fluss der Unzufriedenen. Einer trägt ein Schildchen mit ZDF-heute-Logo an seinem Rucksack und der Aufschrift: „heute schon gehirngewaschen?“ Sie fragen sich einfach, ob alle staatlich angeordneten Maßnahmen zur Virusbekämpfung sinnvoll sind. Etwa die Aktion einer handvoll nervöser Beamter mit grünen Warnwesten im S-Bahnhof Unter den Linden, die Leute auf der Treppe vom Bahnsteig zur Straße aufhalten und ermahnen, eine Maske aufzusetzen. Die Passanten sind zwar fast schon oben und draußen. Aber die Treppe gehört eben noch zum Bahnbereich. Ein Beamter hält jemanden am Arm fest: „Das gilt auch für Sie.“ Da muss das Abstandsgebot eben kurz suspendiert werden, um die Maskenpflicht auf ein paar Treppenstufen durchzusetzen.
Zu denjenigen, die Fragen haben und diskutieren wollen, gehören auch Maskengegner und solche, die sich gegen die Maskenpflicht an Schulen wenden.
Die zweite Großgruppe bilden die Grundgesetzanhänger. Christan, 30, aus Bielefeld trägt das Faksimile der Verfassung zusammen mit der Aufschrift „Grundgesetzfan“ auf seinem T-Shirt.
Warum ist er heute hier? Er demonstriere für die Freiheit, sagt Christian, groß, schlank, kleines Kinnbärtchen, beziehungsweise gegen Rechtsbeschneidung: „Ich bin gegen alle Grundrechtseinschränkungen im Zusammenhang mit Corona“, sagt er. Welche genau? „Die Dienstpflicht durch die Hintertür zum Beispiel.“ Dabei handelt es sich um ein speziellen nordrhein-westfälischen Gesetzgebungsaktionismus vom Anfang der Corona-Zeit, der es mit einigen Hürden erlaubt, Bürger als medizinisches Hilfspersonal zu rekrutieren. Das stößt tatsächlich zumindest hart an das Verbot von Zwangsdiensten im Grundgesetzen. Und zweitens wirkt das schnellgepresste Gesetz ziemlich absurd angesichts der Tatsache, dass mittlerweile in manchen Kliniken Kurzarbeit herrscht.
Die Regelung ist eigentlich ein Produkt des Wettbewerbs zwischen NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und Bayerns Markus Söder um den Pokal des härtesten Corona-Durchgreifers, hastig zusammengenagelt, nutzlos, verfassungsrechtlich bedenklich. Ihre einzige praktische Wirkung scheint darin zu bestehen, dass sie Leute wie Christian auf die Straße treibt. Christian stört sich auch an der Löschung von Videos bei Youtube zu Corona, überhaupt an Einschränkungen der Meinungsfreiheit, etwa das Netzwerkdurchsetzungsgesetz.
Am Tag vor der Demo verkündete die Grünen-Politikerin Renate Künast: „Samstag wird ein Großkampftag für soziale Netzwerke. Sie müssen zusätzliches Personal abstellen, die Kommunikation und bestimmte Accounts genau im Blick haben und im Zweifel Beiträge löschen oder Accounts sperren, bevor etwas Schlimmes passiert.“ Was zum einen ziemlich ehrlich ist: im Zweifel sperren und löschen, so müssen wahrscheinlich abgehalfterte Bundesministerinnen klingen, die vor 30 Jahren das System stürzen wollten, also das tun, was sie heute anderen vorwerfen. Zum anderen handelt es sich bei „Großkampftag“ um einen Begriff aus dem Hauptquartier der Armee des deutschen Kaiserreichs, erstmals benutzt 1916. Es ist nicht unkomisch, wenn eine Grüne mit diesem Vokabular („zusätzliches Personal abstellen“, „löschen“) und überhaupt mit Schnedderedäng zum Kampf gegen eine Demonstration und ihr Umfeld ruft, weil es im Demo-Zug ein paar Kaiserflaggen gibt.
Christian aus Bielefeld stört sich auch an dem Versuch, das Demonstrationsrecht durch zwei Verbotsversuche dieser Kundgebung einschränken. Andere Teilnehmer tragen eine Abbildung des Grundgesetz-Buchcovers auf Schildern, eine größere Gruppe hält eine überdimensionale Deutschlandflagge wie ein Baldachin. Einige Hundert stimmen gegen 12 Uhr die Nationalhymne an. Von sehr weit links betrachtet ist das natürlich rechts, für Berliner Verhältnisse vielleicht auch, möglicherweise sogar aus Sicht des Berliner Senats.
Diese Verhältnisse geraten auch deshalb auf der Friedrichstraße ins Tanzen, weil die Teilnehmer der Demonstration von überall her kommen. Jemand trägt eine baden-württembergische Fahne, ein anderer die bayerische, andere die österreichische, etliche die schwedische, eine Frau spaziert mit der polnischen Fahne auf den Schultern, eine hält ein Schweizer Fähnchen. Es gibt amerikanische Flaggen, eine israelische, eine für „Trump 2020“, eine Europafahne, eine Menge Peace-Fahnen in Regenbogenfarben und sogar eine rote mit Hammer und Sichel. Auch flaggentechnisch herrscht im Berliner Zentrum bunte Vielfalt.
In dem tausendköpfigen Lindwurm, der die Friedrichstraße herunterläuft und stellenweise auch tambourinbegleitet tanzt, geht es ein bisschen zu wie im buddhistischen Retreat, ein bisschen beim Stadtfest in irgendeiner süd-, nord- oder ostdeutschen Provinz, stilistisch ist auch ein bisschen Kirchentag dabei, ein Impfgegner- und Globulistentreffen findet mittemang statt, und über allem liegt friedefreudeeierkuchenmäßige Ausflugsstimmung. In einer Sitzung des Berliner Senats dürfte der Anteil von Hysterikern und Verschwörungstheoretikern höher sein als hier, der Prozentsatz von Leuten mit normaler Berufskarriere dagegen kleiner.
Eine dritte Gruppe bilden die Leute mit den „Merkel muss weg“-Schildern, die offenbar finden, dass 15 Jahre unter der uckermärkischen Vorsteherin reichen, die so oft ‚wir’ sagt, bei ihrer Pressekonferenz am Freitag aber mitteilte, sie habe mit den Unzufriedenen nichts zu besprechen, dafür aber „Respekt“ für den Versuch des Berliner Senats, die Demo zu verbieten. Ein paar selbstgeschriebene Plakate wenden sich gegen Lobbyismus in der Politik, eins – keine halben Sachen – verlangt den „Rücktritt aller Politiker“.
Apropos, wo sind eigentlich Politiker auf dieser Demo? Zumindest einer läuft als Beobachter und Mitglied des Berliner Innenausschusses mit, Marcel Luthe, Abgeordneter der FDP, im blauen Anzug und mit seinem Abgeordnetenausweis an einem Polizei-Bändchen um den Hals. Beides wird sich später als nützlich erweisen. „Sie trauen sich als Politiker hierher?“, fragt eine Frau zu ihm, als er sich vorstellt. „Wo Bürger fragen, müssen wir hin“, meint er.
Natürlich gehören auch die völlig Coronaungläubigen zum Zug, die plakatieren: „Schluss mit dem Corona-Theater“, die das Virus für eine Erfindung halten und Bill Gates für den Erfinder. Besonders viele „Gib Gates keine Chance“-Buttons sind allerdings nicht zu sehen. „Die coronaskeptische Minderheit, die sich heute in Berlin wie die Mehrheit fühlte“, fasste die Welt den Tag zusammen, illustriert mit einem etwas verwitterten älteren Mann in bauchknappen T-Shirt, der „wir sind das Volk“ ruft. Videobilder von rennenden Polizisten müssen ein bisschen Dramatik und geladene Atmosphäre in den Bericht bringen. Großkampftag ist der 29. August nicht nur für Renate Künast, sondern auch für viele Journalisten, die nicht drei Tage umsonst Tatütata-Beiträge über die große Rechtsextremistenmobilisierung geschrieben und gesendet haben wollen. „Proteste gegen Corona-Politik eskalieren“, reportiert später die Tagesschau und berichtet von Festnahmen vor der Russischen Botschaft und Ausschreitungen, also von Dingen, die bei einer Ersten-Mai-Demo in Berlin unter ‚Gerangel’ laufen, aber auch nur von 50 verletzten Polizisten an aufwärts. Dieses Mal verzichten die ARD– und ZDF-Redakteure auch darauf, die SPD-Vorsitzende Saskia Esken oder Renate Künast um eine Kritik der Polizeieinsatztaktik zu bitten.
Eine Sonderabteilung der Demonstration bilden die Jesus-Freaks. Am Mikro eines der vielen Demo-Wagen – jetzt steht und stockt alles auf der Höhe des Friedrichstadtpalastes – ruft eine Frau den heiligen Geist an, „denn ohne den kommen wir net durch den Schlamassel“. Warum auch nicht? „Der Herr lasse leuchten sein Angesicht.“ Jedenfalls leuchtet die Sonne sehr.
Ein junger Mann trägt eine heraldisch anspruchsvolle Fahne mit vielen Einzelwappen. „Das ist die sächsische Königsflagge.“ Weshalb er heute da ist? „Ich fordere den Friedensvertrag.“ Mit Preußen? Nein, der junge Sachse will den Friedensvertrag mit den früheren Kriegsgegnern.
„Der Zwei-Plus-Vier-Vertrag genügt Ihnen nicht?“
Nein, sagt er: „Wir sind kein souveränes Land.“
Ein etwa gleichaltriger Mann aus Koblenz trägt die Kaiserreichsflagge. Auch ihm geht es natürlich um den Friedensvertrag. Und dann, wenn der Vertrag da ist? „Dann sind wir souverän, und es gibt eine neue Regierung.“
„Eine neue Regierung gibt’s wahrscheinlich 2021 sowieso.“
„Aber wenn wir souverän sind, dann bestimmt das Volk.“
Der Reporter, auch nur ein Mensch mit Lust am insistieren, will wissen, wer denn das Volk ist. „Vorhin habe ich mit jemand gesprochen, der das Grundgesetz auf seinem T- Shirt hatte. Ich glaube, er sieht die meisten Dinge ziemlich anders Sie.“ Ja, meint der Kaiserflaggenträger, das sei schon so, es gebe verschiedene Meinungen.
Möglicherweise laufen in der Demonstration tatsächlich Mitglieder der NPD und des III. Weges, die Innensenator Geisel zu tausenden angekündigt hatte, aber sie lösen sich in diesem sehr, sehr gemischten Volk von etwa sechzig- bis siebzigtausend zumindest so stark auf, dass sie als Gruppe nicht zu erkennen sind, jedenfalls nicht für den teilnehmenden Beobachter.
Seit etwa 13 Uhr steht der Zug. Ab und zu drängeln sich Polizeibeamte in Gänsemarsch nach vorn durch, ziemlich eng aneinander, manche mit schwarzen Schals statt Masken im Gesicht. Erstaunlich viele Beamte an den gesperrten Seitenstraßen, die zur Friedrichstraße führen, tragen keinen MNS, keinen Mund-Nase-Schutz. Von einem Ordner gibt es eine Megafondurchsage: „Es soll gleich weitergehen, wir müssen nur die Fahrzeuge hier zurücklassen.“ Weiter also Richtung Reichstag und Brandenburger Tor, Richtung Siegessäule.
Nichts bewegt sich. Auf Höhe Oranienburger Straße stehen Polizeibusse quer, dazu eine größere Polizeieinheit. Quer durch den Zug verläuft ein Absperrgitter, jenseits davon stehen Demonstranten, die offenbar noch vor dessen Aufbau durchgekommen sind, dahinter staut sich die große Menge. Der FDP-Mann Luthe zeigt seinen Abgeordnetenausweis und möchte durch die Absperrung. Eine Beamtin hält ihn an Ausweis und Bändchen fest und fragt einen Kollegen: „Lassen wir Abgeordnete durch?“ Luthe weist kurz auf die Verfassung hin, darf passieren und der Reporter mit, obwohl der überhaupt kein Bändchen und nur einen abgelaufenen Presseausweis besitzt. Dit is Berlin. In München wäre das wahrscheinlich nicht passiert, vielen Dank an dieser Stelle. Der Abgeordnete fragt nach der Polizeiführung. „Weiß ich auch nicht so genau, wo die hier ist“, sagt eine Beamtin aus Niedersachsen. Wie es denn nun weitergeht? Sie erkundigt sich kurz und erklärt, die Demonstration sei jetzt aufgelöst wegen Nichteinhaltung der Mindestabstände und der Weigerung, MNS aufzusetzen. Die Friedrichstraße sei gesperrt, die Demonstranten könnten den Versammlungsort Richtung Charité verlassen. Dort, entlang dieser Strecke, stehen zwei große blaue Wasserwerfer der Polizei am Straßenrand, die Innensenator Geisel und seine Polizeipräsidentin an diesem Tag offenbar für nötig halten. Selten wirkten die allermeisten Berufspolitiker und von ihnen nicht unterscheidbare Medienschaffende so grau, zwanghaft und autistisch wie in diesem Corona-Demonstrationssommer.
„Die politische Polizeiführung hat die Lage, mit der die Auflösung begründet werden soll, selbst herbeigeführt“, meint Luthe. Vorn Blockade, Abriegelung der Seitenstraßen, dadurch sei der Demonstrationszug erst zusammengeschoben worden. „Wer so liederlich mit Grundrechten umgeht, bringt unnötig Bürger gegen Polizei auf.“ Die Beamtin, die ihm erklärt, der Zug sei aufgelöst, macht einen sehr freundlichen Eindruck. Es wirkt so, als wäre etlichen Polizisten das martialische Trommeln ihrer politischen Aufseher peinlich. Gerüchteweise heißt es, an diesem Abend solle es auch noch eine linksradikale Demonstration geben. Das war am 1. August auch so, mit mehr als einem Dutzend verletzten Polizisten, die es allesamt nicht in die Tagesschau schafften.
Vor dem Reichstag und dem Brandenburger Tor stehen jeweils nur hunderte Protestler, getrennt wiederum durch ein Gitter, während um diese Zeit das Gros der Demonstranten noch immer auf der Friedrichstraße steht, singt und diskutiert und nur langsam von der Kundgebungsmeile tröpfelt. Später auf der Straße des 17. Juni kommen viele mit den anderen zusammen.
Am Abend berichtet ZDF-heute-journal von „38 000 Teilnehmern“, wichtigste Meldung: „Promi-Corona-Leugner Hildmann festgenommen“. Was würden manche Qualitätssender eigentlich berichten, wenn sie Hildmann nicht hätten? Am Abend rennen noch zwei Dutzend Leute die Rampe und die Treppe vor dem Reichstagsgebäude hoch – und gleichzeitig etwa doppelt so viele Polizisten, die die Protestler wieder hinunterbegleiten. „Polizei verhindert Sturm auf den Reichstag“, dichtet der Tagesspiegel.
Die BZ schreibt wenigstens noch von einem Sturm auf die Reichstagstreppe, kombiniert mit einem Foto, das keinen Sturm zeigt.
Wer die Raumverhältnisse ein wenig kennt – wie der Autor dieses Textes – der weiß, dass jemand, der auf der Reichstagsrampe steht, dem Vorraum noch nicht einmal ernsthaft nahe gekommen ist. Selbst dann, wenn überhaupt kein Polizist dort oben stünde.
Außerdem, so das ZDF, sei „der Protestzug abgesagt“. Was zu dem weiten Feld der alternativen Fakten gehört. Er hat stattgefunden, wenn auch nur ein Stück, und ziemlich viele Leute konnten die Erfahrung machen, dass so etwas wie eine Öffentlichkeit jenseits von Kanzlerinnenpressekonferenzen, heute-journal und breiten gesellschaftlichen Zivilbündnissen mit Gratiskonzert und Gewerkschaftsbussen existiert.
Sicherlich gab es auf der Demo-Meile auch Leute mit diversen Sockenschüssen. Dem Reporter scheint es, dass sie irgendwo auf der Skala zwischen einem halben Lauterbach und anderthalb Thunberg liegen, also im Toleranzbereich einer normalen Gesellschaft.
Wer von den Politikern m/w/d jetzt bereit wäre, mit dieser Mischung von Leuten zu reden, hätte die Chance, Bürgerking zu werden.