Tichys Einblick
Langsamer, aber stetiger Druck

Wolodymyr Selenskyj zeigt sich bei seinen Truppen – die Russen machen Geländegewinne

Russlands Truppen gewinnen Raum im Donbass – wenn auch langsam. Derzeit werden offenbar neue Truppen an die Front geschickt. Im Gegensatz zum russischen Herrscher besucht der ukrainische Präsident seine Soldaten an der Front.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj bei Soldaten in der Region Charkiv, 29.05.2022

IMAGO / ZUMA Wire

Viele hatten Putins Offensive schon abgeschrieben, gar seinen Sieg für unmöglich erklärt. Doch von einer Niederlage ist Russland weit entfernt, wie auch die aktuellen Entwicklungen zeigen. In den besetzten Gebieten droht zunehmend ein Partisanenkrieg.

Sjewjerodonezk ist die größte Stadt im Donbass, die noch von der Ukraine gehalten wird. Über Wochen war sie auch ein Fixpunkt entlang der Frontlinie, die die Russen aktuell weiter zurückschieben. Der gesamte Oblast Donezk ist mittlerweile unter russischer Kontrolle, ebenso wie Luhansk – die einzige Ausnahme ist eben Sjewjerodonezk, wo sich das Momentum der russischen Streitkräfte brutal bemerkbar macht.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der am Wochenende seine Soldaten im Osten des Landes besuchte, berichtete, rund 90 Prozent der Gebäude von Sjewjerodonezk seien beschädigt, mehr als zwei Drittel der Wohnhäuser zerstört. Mittlerweile sind die Russen schon in der Stadt selbst: Bürgermeister Olexandr Striuk berichtet von heftigen Straßenkämpfen. Die russischen Soldaten seien einige Häuserblocks an das Stadtzentrum herangerückt. „Wir haben keinen Strom und keine Kommunikationsmittel. Die Stadt ist komplett zerstört worden.“ Bis zu 13.000 Zivilisten hätten in Kellern und Bunkern in der Stadt Zuflucht vor dem russischen Beschuss gesucht, so der Bürgermeister. Sie haben wahrscheinlich nicht das Gefühl, gerade einer verlierenden Armee ausgeliefert zu sein.

Russland kommt aktuell vorwärts – langsam, aber eben doch vorwärts. Die ehemalige Nato-Chefstrategin Stefanie Babst spricht in diesem Zusammenhang von einem „Boa-Constrictor-Effekt“ – wie eine Würgeschlange versuche die russische Armee, den ukrainischen Gegner durch langsamen, aber stetigen Druck zu zerquetschen. Der deutsche General a.D. Roland Kather glaubt, dass die Russen mit dieser Strategie Erfolg haben werden: „Letztendlich wird die Ukraine sowohl in puncto Quantität, also der Menge der russischen Soldaten, aber auch in Bezug auf die Qualität unterlegen sein“, sagte Kather gegenüber der Welt.

Aktuell führt Russland wohl auch neue, frische Truppen an die Front: Der Gouverneur des russischen Oblasts Kursk berichtet in den Staatsmedien, dass zahlreiche Soldaten und auch Artillerie und Raketensysteme in sein Gebiet verlegt wurden. Der Oblast Kursk liegt direkt an der Grenze zur Ukraine. Es kann erwartet werden, dass sich die russische Offensive in den nächsten Tagen fortsetzt – ob sie einen signifikanten Effekt auf den Kriegsverlauf haben wird, ist offen.

Doch die Russen haben weiterhin erstaunliche Probleme. Immer wieder sorgten Nachrichten vom Tod hochrangiger Offiziere der russischen Armee für Schlagzeilen. Die Verluste im Offizierskorps sind generell wohl substanziell: Davon geht zumindest der britische Militärgeheimdienst aus. In seinem „Intelligence Update“ spricht das Londoner Verteidigungsministerium von „vernichtenden Verlusten“, insbesondere ein großer Teil des jungen Offizierskorps sei gefallen. Diese hohen Offiziersverluste lassen sich durch die russische Führung im Feld erklären. Die Offiziere müssten oft die taktischen Operationen an der Front selbst leiten, weil es der russischen Armee insbesondere im Westen an ausgebildeten und qualifizierten Unteroffizieren fehlt.

In den besetzten Gebieten kommt es derweil zunehmend zu Widerstandsaktionen gegen Russland. Während immer wieder über friedliche Proteste der ukrainischen Bevölkerung in okkupierten Städten wie Kherson berichtet wird, gehen Ukrainer dort auch zum gewaltsamen Widerstand gegen die Besatzer über. In Melitopol explodierte am Mittwochmorgen eine Autobombe nahe der russisch besetzten Verwaltung. In der Kleinstadt Enerhodar wurde der von den Besatzern eingesetzte „Chef der Volksadministration“ bei einem Sprengstoffanschlag schwer verletzt.

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