Tichys Einblick
Heike Rost über die Notwendigkeit, die Originalfassungen zu Rate zu ziehen

Youtube: Wie Verkürzung Aussagen in ihr Gegenteil verkehrt

Diskussionen über kontroverse Themen im Netz entwickeln derzeit oft eine überraschende Eigendynamik, deren Bandbreite bei konstruktiver Kritik beginnt, oft über merkwürdige Kommentare und Beiträge weitergeführt wird, um gelegentlich in Beschimpfungen, seltsame Mails und interessanten Informationen zu enden. Und gelegentlich wird durch Kürzung eine Aussage ins Gegenteil verkehrt.

Wie wichtig Vergleiche zwischen Zitaten und Originalquellen sind und welche Bedeutung auch der Plattform zukommen kann, auf der ein Zitat verbreitet wird, illustriert diese Episode, die mir vor einigen Tagen von einer Diskutantin zugeschickt wurde, deren Kommentare ich wegen teilweise unangemessen polemischer und diffamierender Wortwahl gelöscht hatte.

Das Original: Veröffentlicht am 18.Juni 2011, äußert sich Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Integrationspolitik. Im insgesamt knapp drei Minuten langen Videopodcast thematisiert sie auch die Problematik straffälliger jugendlicher Migranten und fordert »null Toleranz für Gewalt«: »Deshalb ist das Thema Integration eng verbunden auch mit der Frage der Gewaltprävention in allen Bereichen unserer Gesellschaft.

Auf der Website des Bundeskanzleramts ist der Video-Podcast in voller Länge zu finden.   Auch die WELT hat am 18. Juni 2011 ausführlich über diesen Podcast im Vorfeld eines Gesprächs mit den Innenministern der Bundesländer über Integrationspolitik und Fragen der Inneren Sicherheit berichtet.

Welche manipulative Kraft aus dem Kontext gerissene, extrem verkürzte Zitate entwickeln können, belegt dieser Netzfund: Ein sieben Sekunden langer Ausschnitt aus dem Videopodcast von Bundeskanzlerin Merkel reduziert ihre Aussage auf den schlichten Satz »aber wir müssen akzeptieren, dass die Zahl der Straftaten bei jugendlichen Migranten besonders hoch ist.«  Aus dem Kontext ergibt sich die ausländerkritische Haltung der Bundeskanzlerin, die dazu aufruft, die hohe Kriminalität nicht zu beschönigen – sondern diese Tatsache zu akzeptieren, um daraus Konsequenzen der Prävention und Bekämpfung abzuleiten. Etwas verschwurbelt formuliert, gewiß.  Aber veröffentlicht unter der Überschrift »Deutsche müssen Gewalt der Ausländer akzeptieren«, ist die Aussage des ursprünglichen Podcasts durch die Reduzierung ins Gegenteil verkehrt worden.

Dennoch Grund genug für die anonyme Kommentatorin, genau diesen Schnipsel als Beleg für ihre These heranzuziehen, selbst die Bundeskanzlerin habe angesichts der Gewalt von Ausländern (und islamentalistischer Extremisten) resigniert und sich von rechtsstaatlichen Prinzipien verabschiedet.
Am 11.9.2014, dem Jahrestag des Anschlags auf das World Trade Center, wurde der 7-Sekunden-Fetzen mit dem Kommentar »Wenn Worte die Wahrheit sagen« auf Youtube hochgeladen.

Allerdings bezog sich die Anonyma nicht auf die Fundstelle bei Youtube, sondern gleich auf eine noch weitaus dubiosere Quelle, die ebenfalls zur inhaltlichen Einordnung des veröffentlichten Podcast-Ausschnitts beiträgt. Ihre Adresse verweist auf das Portal Gloria.tv, das offensichtlich eng verwandt ist mit dem 2012 abgeschalteten Portal kreuz.net. Dessen komplettes Spektrum rechtsextremer, antisemitischer, homophober, frauenfeindlicher und islamophober Inhalte rief neben der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien auch Verfassungsschutz sowie Bundesstaatsanwaltschaft auf den Plan – unter anderem wegen Volksverhetzung.

2005 gegründet, wird die Plattform Gloria.tv (deren Endung nicht etwa auf »Fernsehen«, sondern den Südseekleinstaat Tuvalu hinweist) als Video- und Internetfernsehportal betrieben. Viele der Beiträge des Portals werden anonym oder unter offensichtlich fiktiven Namen veröffentlicht; auf einer anonymen Website, mit einer offensichtlichen Moskauer »Briefkasten-Adresse« im Impressum, auf Servern in Moldavien und mittlerweile via Cloudflare verschleierten Serverstandorten.

Dass übrigens weder Quelle noch der 7-Sekunden-Ausschnitt von vielen Internetnutzern ernsthaft hinterfragt oder angezweifelt werden, belegen die eindeutigen Kommentare an beiden Fundstellen.
Merke: Nicht immer sind Debatten- und Kommentartrolle erheiternde Begleiterscheinungen von Netzdiskursen. Gelegentlich bieten allerdings ihre »Belege« aus dem Kabinett der Merkwürdigkeiten interessantes Anschauungsmaterial für den politisch unkorrekten, diffamierenden Umgang mit Bildern – in diesem Fall mit dem Videopodcast von Bundeskanzlerin Angela Merkel.




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