Über das politische Instrument der Skandalisierung
Laszlo Trankovits
Krisenzeiten brauchen Sündenböcke. Das sind nicht immer die wirklich Verantwortlichen für Katastrophen und Pleiten. Verfehlungen einiger Unionsabgeordneter bei der Beschaffung von Atemmasken oder die befremdliche Nähe zu einer vorderasiatischen Diktatur hatten radikale Konsequenzen.
Auch der jüngste Skandal um die Unions-Abgeordneten belegt, dass nicht das Ausmaß des Versagens oder die Tiefe des moralischen Abgrunds entscheidend sind. Denn während Medien, die Opposition und auch die eigenen Parteifreunde ihren Abscheu vor den angeblich raffgierigen, möglicherweise korrupten Volksvertretern ausführlich zelebrieren, blicken sie schon seit vielen Monaten mit Verständnis, Mitgefühl und nur zaghafter Kritik auf die Frau, die maßgeblich für den größten und folgenreichsten Skandal der letzten Jahre verantwortlich ist.
Historisch betrachtet ist das Versagen von Angela Merkel beim Managen der Corona-Krise ein Skandal erster Ordnung – wobei dies möglicherweise in diesen Tagen doch noch öffentlich bewusst wird. Fast ein Jahr lang ging es bei der Beurteilung der Pandemie-Politik Merkels mehr um eine vielleicht in manchen Aspekten zu kritisierende Politik; letztendlich wurde eher auf eine Verkettung unglücklicher Umstände und misslicher Fehlgriffe hingewiesen, vor allem in Brüssel. „Ist nicht optimal gelaufen“, hieß es zuweilen, aber jetzt gelte es, „den Blick nach vorne zu richten“, so auch dann die Kommentare in vielen Medien.
Corona hat Deutschland auch ein Lehrstück über die Rolle von Skandalen in der Politik beschert. Denn das, was als „Skandal“ von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, ist meist Ergebnis von politischen Kampagnen; zuweilen hat es sogar einen eher irrationalen Hintergrund, auch Zufälle können eine Rolle spielen. Darauf verwies Professor Hans Kepplinger schon vor zwei Jahrzehnten in seinem Buch „Die Kunst der Skandalisierung und die Illusion der Wahrheit“. Der Politikwissenschaftler belegte, dass – verkürzt gesagt – von zehn potenziellen Skandalen nur ein einziger tatsächlich zu einem öffentlichen Skandal wird.
Das Mittel der Skandalisierung ist seit jeher ein wichtiges Instrument in der politischen Auseinandersetzung. Gestellt wird in der Regel die Charakterfrage: wer um seinen eigenen Vorteil willen Politik und Geschäfte verknüpft, oder wer sich moralisch niederträchtig benimmt, dem droht der Verlust seiner Reputation und das politische Ende. Dieser Mechanismus des öffentlichen Vertrauensverlusts trifft oft auch die Partei des Politikers. Die notwendige Bedingung für einen Skandal ist in erster Linie die breite öffentliche Wahrnehmung, für die in der Regel die Oppositionsparteien und/oder die Medien sorgen – in manchen Fällen stecken, wie Historiker wissen, auch Geheimdienste anderer Länder dahinter.
Die jüngsten Verfehlungen der Unionsabgeordneten verliefen genau nach dem Muster einer klassischen Skandalisierung. Der objektive Schaden für das Land steht in keinem Verhältnis zu der Abscheu und der Empörung, die die dubiosen finanziellen Geschäfte oder aber die möglichen Gefälligkeiten für Aserbaidschan auslösten. Die parlamentarischen Hinterbänkler der CDU/CSU entpuppten sich als ideale Sündenböcke: für die anderen Parteien sowie die meisten Medien – allen voran die öffentlich-rechtlichen – belegt der Skandal die Verkommenheit von konservativen Politikern und die Ehrlosigkeit der Unionsparteien, deren Politiker sich rücksichtlos mit anrüchigen Geschäften bereichern wollen. Für die zahlreichen Sympathisanten in den Medien für einen Machtwechsel in Berlin – mit einem grünen Kanzler an der Spitze – kam die moralische Demontage der Unionsparteien gerade recht.
Die Nachsicht der meisten Medien mit SPD und Grünen verhindert, dass die enge Verbandelung linker und grüner Mandatsträger mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, Interessengruppen und Unternehmen mit grünem oder sozialem Anstrich Thema werden. Die groteske Nähe des Frankfurter Oberbürgermeisters Peter Feldmann (SPD) und seiner Ehefrau Zübeyde Feldmann beispielsweise zu der von skandalösen Korruptionsfällen erschütterten Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Frankfurt und Wiesbaden ist zwar Gegenstand staatsanwaltlicher Ermittlungen, viel mehr aber auch nicht.
Dass Feldmann vor seiner Zeit im Frankfurter Römer jahrelang ein hohes Gehalt bei der AWO für einen merkwürdig umrissenen Job bezog, den es vor ihm und nach ihm nicht gab, müsste genug Stoff für einen himmelschreienden Skandal sein – lautstarke Forderungen nach einem Rücktritt Feldmanns gibt es nicht, im Römer herrscht dann doch eine zu heimelige Stimmung. Auch die lokalen Medien berichten betont sachlich.
Zu einem echten Skandal aber gehören Empörung und Abscheu. Dabei können auch absurde Vorwürfe oder sogar unbewiesene Behauptungen ausreichen, um jemanden an den Skandal-Pranger zu stellen. Beim rheinland-pfälzischen FDP-Politiker Rainer Brüderle genügte 2012 eine flapsige Bemerkung an der Hotelbar, um wochenlang für Schlagzeilen zu sorgen. Der „Sexskandal“ beruhte auf der Bemerkung des Liberalen am Abend des FDP-Dreikönigstreffen in Stuttgart zu einer Stern-Journalistin, sie könne „auch ein Dirndl ausfüllen.“ Nachdem der Stern ein Jahr später (!) die Geschichte als Beleg für Brüderles „Dauererotisierung“ und seine ständigen Schlüpfrigkeiten nutzte, begann für den FDP-Mann ein öffentliches Spießrutenlaufen.
Erfahrungen mit Skandalisierungen haben viele Politiker gemacht und nicht selten mit dem Amtsverlust bezahlt: so die beiden ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler und Christian Wulff, der CSU-Politiker Karl-Theodor zu Guttenberg, der ehemalige SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück oder der frühere SPD-Vorsitzende Kurt Beck. Bei ihnen allen standen die Vorwürfe in keinem Verhältnis zu der Wucht der öffentlichen Empörung – gerne ausgenutzt und angereichert von den jeweilig anderen Parteien. Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo warnte schon vor Jahren vor „virtuellen Gerichten, einem Dreigestirn aus Medien, politischen Gegnern und Empörten im Netz“. Das permanente Klima der Skandalisierung widerspreche auch dem wichtigen Prinzip der Verhältnismäßigkeit.
Der Skandal um die Unionsabgeordneten hat ihren Parteien laut Umfragen schon erheblichen Schaden zugefügt. Kanzlerin Merkel dagegen sonnte sich noch bis vor kurzem in blendenden Werten bei den Umfragen, die Bundesbürger sehen in ihr – zumindest noch bis letzte Woche – eine zuverlässige und kompetente Regierungschefin. Für CDU/CSU – ab Herbst ohne Merkel? – ist es ein Alptraum, dass ihnen die Menschen in Deutschland angesichts der Verfehlungen einiger Abgeordneter das Vertrauen dauerhaft entziehen und sie das Schicksal von Parteien wie den italienischen Christdemokraten ereilen könnte. Immer neue Skandale hatten der über Jahrzehnte mächtigsten Partei Italiens ebenso den Garaus gemacht wie der gleichfalls lange sehr einflussreichen Sozialistischen Partei Italiens. Skandale können politisch mörderisch sein.
Wie wenig allerdings die öffentliche Wahrnehmung von Skandalen mit dem tatsächlichen Ausmaß des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Schadens zu tun hat, belegen die aktuellen Ereignisse in Deutschland. Es könnte aber sein, dass das offensichtliche Missmanagement der Bundesregierung, das von der Missachtung von jahrealten Empfehlungen zur Vorbereitung auf eine mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Pandemie bis hin zu dem derzeitigen Versagen, ausreichend Impfstoff zu organisieren, reicht, nun doch noch zu dem empörenden Skandal wird, der er schon lange ist. Bei dem anderen aktuellen Skandal riesigen Ausmaßes, dem Corona-Management in Brüssel, für den vor allem Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die zypriotische EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides, verantwortlich sind, kann man davon ausgehen, dass auch weiterhin niemand deren Ablösung verlangt. Dazu braucht es politische Kräfte, die daran ein Interesse haben und kritische und entschlossene Medien. Sonst bleibt auch ein Skandal-Gau eben nur bestenfalls ein „politisches Problem“.
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