Tichys Einblick
Biden gibt auf

Trump, Biden und der große Kipppunkt – ein Lehrstück

Für den wohlgesinnten politisch-medialen Komplex in den USA stand es außer Frage, dass er selbst einen dementen Politiker im Amt halten kann. Nun reicht seine Kraft gerade noch aus, um ihn vor der Wiederwahl loszuwerden. Ein großes Schauspiel von Hybris und Selbstvernichtung – mit Lehren auch für Deutschland

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Alex Brandon

In Jordan Petersons Buch „12 Rules for Life” findet sich ein Beispiel für den Umschlag von Quantität in Qualität, das zwar aus der Chemie stammt, das sich aber auch als Modell für das Kippen eines Zustandes eignet – die übersättigte Lösung. Bei Zimmertemperatur löst sich nur eine bestimmte Menge einer Substanz – beispielsweise Zucker – in Wasser, etwa 200 Gramm in 100 Millilitern. Erwärmt man die Mischung, kann sie zusätzlichen Zucker aufnehmen. Wer das Ganze dann wieder abkühlt, erhält eine übersättigte Lösung. Sie enthält nun sehr viel mehr Zucker, als es bei dieser Temperatur eigentlich möglich wäre. Ihm geht also ein längerer, gradueller Veränderungsprozess voraus, der das chemische Gleichgewicht verschiebt, und es möglich macht, dass immer noch ein Zuckerkristall und noch eins dazukommt, ohne an den Verhältnissen im Topf grundsätzlich etwas zu ändern. Der Endzustand nach dem Abkühlen nennt sich metastabil. Metastabil deshalb, weil die angedickte Masse schon längst mehr Stoff enthält, als sie normalerweise in sich aufnehmen kann. Die Veränderung geschieht dann in einem Sekundenbruchteil und durch einen winzigen Schritt: streut man in die übersättigte Lösung nur noch ein zusätzliches Kristall, dann kristallisiert sie sofort. Sie wechselt als Ganzes in einen anderen Zustand mit einer neuen Stabilität. Das Latente verwandelt sich in etwas neues, festes, das sich nur schwer wieder zurückverwandeln lässt.

In einem ganz ähnlich metastabilen Zustand befand sich bis vor kurzem die amerikanische Gesellschaft, und vermutlich herrscht in der Öffentlichkeit Frankreichs, Deutschlands und anderer Länder Westeuropas ein ähnlicher Übersättigungszustand, dem der letzte kleine Auslöser für den Umschlag noch fehlt.

In den USA gab es gleich zwei parallele Fälle, in denen ein übersättigtes Gemisch endgültig kippte. Zum einen durch die Fernsehdebatte zwischen Joseph Biden und Donald Trump, in der sich Bidens Hinfälligkeit selbst für gutmütige Betrachter nicht mehr verstecken und wegerklären ließ, und dann die Pressekonferenz zum Nato-Gipfel, die der Präsident nutzen wollte, um sich als nach wie vor gesundes Staatsoberhaupt zu präsentieren. Das Ergebnis sah dann bekanntlich noch etwas schlimmer aus, als es sich selbst die größten Pessimisten in seinem Stab ausmalten.

Das zweite Kristall fiel am 13. Juli mit dem Attentat auf Donald Trump, der in Pennsylvania nur durch eine zufällige Kopfdrehung dem Tod entging. Dem Anschlag ging eine sehr lange Reihe von tausenden Artikeln, Sendungen und Millionen Postings auf Medienplattformen voraus, die Trump schon in seiner Amtszeit ab 2016 als Gefahr für die Welt, als Diktator und Faschist darstellten, wobei sich die Schlagzahl eher noch steigerte, als der angebliche Diktator dann nach der Wahl 2020 das Weiße Haus verließ.

Viele Kommentare über Trump sprachen die Botschaft verklausuliert aus, manche auch direkt, und die Botschaft lautete: ein Anschlag auf ihn wäre vielleicht kein schöner Anblick, aber legitim. Schon 2017 platzierte das „Village Magazine“ ein Fadenkreuz auf Trumps Kopf, kombiniert mit der Schlagzeile: „Why Not.“ Der „New Yorker“ zeigte ebenfalls 2017 auf seinem Cover eine Freiheitsstatue mit verloschener Flamme, als befände sich das Land in einer Diktatur; der SPIEGEL bildete Trump einmal als einen auf die Erde zurasenden Kometen ab, ein anderes Mal als Figur, die im IS-Stil mit einem Messer die Freiheitsstatue enthauptet. Der schwer von Nazitourette gezeichnete STERN druckte einen hitlergrüßenden Trump auf die Titelseite.

Der Koch Anthony Bourdain spekulierte öffentlich darüber, wie es wäre, dem Präsidenten etwas ins Essen zu streuen. Johnny Depp fragte 2017 beim Glastonbury Festival: „Wann hat letztmals ein Schauspieler einen Präsidenten umgebracht?“ Um zu antworten: „Vielleicht ist es an der Zeit“. (Der Lincoln-Attentäter John Wilkes Booth war Schauspieler). Hillary Clinton erklärte mehrfach, zuletzt 2023, wenn Trump noch einmal an die Macht komme, werde er als amerikanischer Hitler die Demokratie für immer beseitigen. Niemand dieser Zitatproduzenten schien sich auch nur einmal zu fragen: wenn Trump der neue Hitler sein soll – wer war dann eigentlich der historische Hitler? Jedenfalls wirkt es im Rückblick erstaunlich, dass angesichts dieser geschichtsblinden Daueragitation der Schuss auf Trump so spät fiel.

In beiden Fällen, der Öffentlichkeit rund um Trump und der um Biden, entstand der metastabile Zustand über lange Zeit in einer langen Steigerung. Diejenigen, die Kristall für Kristall in den Topf fallen ließen, rechneten damit, dass sie ihr Experiment der graduellen Veränderung noch lange weitertreiben könnten.

Eigentlich handelte es sich um zwei Parallelexperimente. Versuchsanordnung eins verfolgte das Ziel, Joseph Biden, den die demokratische Parteibasis eigentlich schon 2016 nicht wollte, unbedingt als Kandidaten gegen Donald Trump durchzuboxen, zunächst, wie Biden selbst meinte, für den Übergang. Neben Biden, oktroyiert vom Parteiestablishment, sollte durch die Unterstützungsmedien Kamala Harris zur neuen Kandidatin und schließlich zu der Figur aufsteigen, die dank ihrer Strahlkraft den Darth Vader der US- und der Weltpolitik fernhält.

Aber egal, was die bemühten Medien schrieben und sendeten – Harris blieb in ihren Beliebtheitsmedien (oder Beliebtheitswerten?) dauerhaft noch unterhalb von Biden. So ganz ohne Substanz funktioniert eben auch die Narrativalchemie nicht. Die Erfahrung machten schon einschlägige deutsche Medien bei ihrem Versuch, Annalena Baerbock 2021 ins Kanzleramt zu hieven, ähnliches erlebten auch Journalisten bei ihrem Versuch, die frühere neuseeländische Ministerpräsidentin Jacina Ardern zum weltweiten Erfolgsrollenmodell auszurufen. Eine alternative Wirklichkeit lässt sich zwar entwerfen, aber eben nicht ohne weiteres durchsetzen. Das gilt eben nicht nur in der Naturwissenschaft, sondern auch im gesellschaftlichen Raum. Jedenfalls blieb ohne die Harris-Variante nichts anderes übrig, als das Narrativ zu wechseln und Biden zum Ein-Personen-Dauerrettungsdienst zu erklären. Was wiederum zu der Zwangshaltung führte, seine zunehmenden kognitiven Ausfälle entweder in den Berichten wegzulassen, wegzuerklären oder die entsprechenden Bilder, Zitate und die Kommentare dazu mit dem Stempeln Fake news und rechte Erzählung zu versehen, in der Erwartung, die entsprechenden Realitätsausschnitte auf diese Weise zu neutralisieren.

In dieser Erzählweise existiert keine eigentliche Politik mehr, sondern nur ein Armageddon mit ständig aufgeschobenem, aber trotzdem unmittelbar bevorstehendem Finale, einem Endzeitkampf des Hellen gegen die Dunkelheit respektive den Faschismus, der immer mitmuss. Ein offenkundig seniler Präsident vertritt dabei die Seite des Lichts. Und deshalb, weil es um alles geht, dieses Mantra sagten sich offenbar tausende wohlgesinnte Journalisten in den USA und weit darüber hinaus, besteht eine moralische Pflicht, darüber hinwegzusehen, wie Joseph Biden stolperte, auf dem G 7-Gipfel ziellos ins Grüne taperte und bei anderer Gelegenheit von seinen Gesprächen berichtete, die er eben noch mit Kohl und Mitterrand führen durfte. Wer im Ostblock aufwuchs, der kennt möglicherweise noch die Formel, man dürfe dem Gegner keine Munition liefern. Das hieß schon damals: bestimmte Dinge und Vorgänge sind völlig offensichtlich, aber ein höherer Zweck verlangt es, sie nicht nur vorsätzlich zu ignorieren, sondern mit Inbrunst zu leugnen.

Und so geschah es auch. Jedenfalls bis zum 27. Juni, der Debattennacht. Das heißt, eigentlich bis zu dem Interview mit George Stephanopoulos und der Pressekonferenz zur Nato-Gipfel ein kleines Stück später. Denn selbst, nachdem Debattensätze des Präsidenten im Nirgendwo endeten beziehungsweise in: „finally I beat Medicare“, lautete das schnell gezimmerte neue Narrativ: War eben ein schlechter Abend, aber Biden sei nach wie vor der Beste (so Obama), es hätte an seiner Erkältung gelegen, ihm habe nach stressigen Reisen die Ruhe gefehlt. In Wirklichkeit nahm er sechs Tage vor der Debatte keine öffentlichen Termine mehr wahr, und ließ sich in Camp David ein ganzes Wochenende für die 90 Minuten im Fernsehen trainieren. Wie es um ihn stand, merkten selbst die bisher unerschütterlichen Anhänger, als er sich im Gespräch mit George Stephanopoulos auf ABC damit entschuldigte, er hätte eben „eine schlechte Nacht“ gehabt und außerdem genug damit zu tun, die Welt zu lenken; überhaupt könnte ihn nur Gott höchstselbst zur Aufgabe bewegen. Auf die Frage des Journalisten, ob er sich denn selbst das Video der Debatte angesehen habe, sagte er: „Ich glaube nicht, dass ich das getan habe, nein“. Was durchaus bedeuten kann, dass er sich tatsächlich nicht mehr daran erinnert. In den Tagen danach erklärte sich Biden zur ersten schwarzen Frau im Präsidentenamt, vergaß den Namen seines Verteidigungsministers Lloyd Austin („the black guy“), stellte dann schließlich bei dem Nato-Treffen den ukrainischen Präsidenten Selenskyj als Putin vor und sprach von Trump als seinem Vizepräsidenten. Auf einem Video wirkt es so, als würde er seine Frau auf offener Bühne mit einer ähnlich angezogenen Dame verwechseln.

Die Filmaufnahme von ihm, wie er nach der Mitteilung, er habe Covid, aus dem Flugzeug und in die Limousine nach Delaware steigt, zeigt einen Senior, der auch unter schweren physischen Abbauerscheinungen leidet.

Angesichts dieser Bildermacht – die Leute sehen nun einmal, was sie sehen – präsentiert der gleiche politisch-mediale Komplex nun innerhalb ziemlich kurzer Zeit das dritte Narrativ: Nach Biden, dem Mann des Übergangs und Biden, dem unersetzbaren Kämpfer gegen Darth Vader, präsentieren sie jetzt einen Joseph Biden, der mit seinem starrsinnigen Festhalten am Amt die Demokratische Partei zerstört und der Finsternis das Tor öffnet. Merkwürdigerweise scheinen die gleichen Leute, die schon jede Verbindung zwischen ihrer Propaganda und dem Attentat auf Trump entrüstet zurückweisen, sich auch nie die Frage zu stellen, was es bei einem greisen und altersstarren Mann auslöst, wenn sie ihm wochen- und monatelang gegen jede Evidenz Gesundheit und Unersetzbarkeit bescheinigen, und alle Bilder, die etwas anderes zeigen, als „cheap fakes“ (Washington Post“) wegerklären. Am 18. Juli veröffentlichte die „Washington Post“ einen langen und anrührenden Text von Sally Quinn, der mit dem Satz „a story for Jill Biden“ beginnt. Sie beschreibt darin, wie ihr Mann Ben Bradlee, 85, in den Zustand der Demenz gleitet (es aber noch selbst bemerkt, auch, weil weder seine Frau noch jemand sonst ihm das Gegenteil einreden). Auf einmal mühen sich fast alle Wohlgesinnten, den bisher noch Topgesunden und Unentbehrlichen zu bearbeiten und notfalls brachial beiseitezuschieben. Wer vor drei Wochen meinte, Biden sollte sich besser zurückziehen, gehörte automatisch zum Reich der Schlechten und Gemeinen – genauso wie diejenigen, sie sich jetzt noch wünschen, er sollte bleiben.

Spätestens hier schlägt der schon lange metastabile Zustand, angereichert mit immer mehr Beweisen für Bidens Hinfälligkeit, endgültig in eine neue Qualität um. Das zum einen. Zum anderen zeigt sich eine sehr einfache Wahrheit: Auch wenn der Begriff ‚Experiment‘ etwas anderes suggeriert – solche Prozesse lassen sich nur in sehr engen Grenzen steuern. Nicht nur, was den Moment des Umschlags betrifft.

Nach der Debattennacht meldeten sich gerade unter den Biden-Gegnern viele Kommentatoren in Medien und auf Plattformen zu Wort, die einen großen Plan witterten, eine überlegene Regie im Hintergrund, die Biden mit Absicht habe in das Desaster der Debatte habe laufen lassen. Die meisten dieser Leute hätten als Zeitgenossen des Jahres 1813 vermutlich auch Napoleons Rückmarsch aus Moskau für eine ganz raffinierte Finte gehalten, um Russland endgültig aufs Kreuz zu legen.

Darin liegt der verständliche und sogar sympathische Wesenszug, zunächst einmal überall Rationalität und Logik zu vermuten. Beides spielt in der gesamten Menschheitsgeschichte allerdings eine traditionell eher untergeordnete Rolle. Pläne gab es in der Historie zuhauf, nur scheiterten die allermeisten daran, dass sich Abläufe von größerer Komplexität zwar noch beeinflussen, aber nicht mehr über längere Zeit lenken lassen. Im Fall der Demokraten verhielt es sich allerdings so, dass sie über gar keinen Ersatzplan verfügten. Noch nicht einmal über einen schlechten. Denn anderenfalls hätten sie den Schock im eigenen Lager unmittelbar nach der Debattennacht nutzen müssen, um Biden ganz öffentlich zum Rückzug zu drängen, eine Alternative auszurufen und ein Verfahren in Gang zu setzen, um bis zum Parteikonvent am 19. August in einer Art Urwahl entweder diesen oder einen anderen Ersatzkandidaten zu legitimieren. Mit einer entsprechenden Vorbereitung wäre das möglich gewesen. Sogar noch aus dem Stegreif unmittelbar nach der Trump-Biden-Begegnung, zumindest bei einer gewissen Kaltblütigkeit unter den Granden der Partei. Bekanntlich passierte nichts davon. Dadurch verengt sich der taktische Spielraum enorm. Bis zum Konvent am 19. August lässt sich ein echter Auswahlprozess zwischen mehreren Kandidaten kaum noch organisieren. Und ein ganz neuer Kandidat, eine neue Kandidatin könnte den Biden-Harris-Spendentopf nicht ohne weiteres übernehmen. Unter diesen chaotischen Umständen ließe sich nur noch Kamala Harris auf die Schnelle inthronisieren, also diejenige, die sowohl nach Ansicht der Parteifürsten wie der Wähler eigentlich nicht in Frage kommt, weil ihre Popularitätswerte zu normalen Zeiten noch unter denen von Biden lagen (siehe oben). Dass die ihn jetzt doch überholt, weil er ihr mit seinen Zustimmungswerten nach unten enteilt, bietet wenig Trost. Um mehrere Wochen verschieben lässt sich der Konvent auch nicht, denn ab September beginnt in den meisten Gliedstaaten die Briefwahl.

Wie konnte es also passieren, dass ein zweifellos großer und tiefer politisch-medialer Komplex, dem vor allem seine Gegner enorm viel zutrauen, sich in einen derartigen Schlamassel manövriert? Selbst Leuten, die gewohnheitsmäßig hinter allem einen großen Fädenzieher vermuten, begreifen mittlerweile, dass es ihn hier nicht gibt. Beziehungsweise: höchstens als umgekehrten Houdini, hoffnungslos verheddert in seinen eigenen Strippen. Die Frage also, wie das geschehen konnte, lässt sich relativ leicht beantworten: aus dem gleichen Grund, warum Napoleon in Russlands Weiten seine Katastrophe erlebte. Dass ihm ein Feldzug unter seiner Leitung völlig aus den Händen gleiten könnte, lag völlig außerhalb seiner Vorstellungskraft. Generell scheint das Bewusstsein der Öffentlichkeit heute noch schlechter als damals auf die Tatsache eingestellt, dass Dinge schlicht und einfach schief gehen können. Das Pärchen Hybris und Zufall bestimmt in neun von zehn Fällen den Gang der Dinge mehr als das Duo Logik und Rationalität.

Womit wir beim Zufall des buchstäblich um eine Handbreite gescheiterten Attentats auf Trump wären. Es gibt Vorgänge, die determiniert ablaufen wie das Experiment mit den Zuckerkristallen und Wasser, es gibt vorhersehbare Kausalitäten, ebenfalls voraussagbare Umschläge von Quantität in Qualität, ohne dass der genaue Zeitpunkt feststeht – und dazu kommt, gewissermaßen als exquisite Zugabe, der völlig unkalkulierbare Zufall, die wenigen Minuten zu früh oder spät, die wenigen Zentimeter und Millimeter zu viel oder zu wenig, der menschliche Faktor, der sich jeder Berechnung entzieht. Dieses Gran Zufall bestimmt den Lauf der Dinge durch die gesamte Geschichte mehr als die scheinbare Übermacht des Determinismus. Ein tödlicher Anschlag auf Trump hätte die Lage der Republikaner schlagartig verschlechtert, denn niemand dort besitzt auch nur annähernd die lange unterschätzte energetische Qualität des Ex-Präsidenten. Aus genau diesem Grund hätte ein solcher Schuss den Demokraten noch eine Chance geboten. Jetzt allerdings gewinnt der nur leicht touchierte und wieder auferstandene Trump eine Überlebensgröße, die ebenfalls in keinem Drehbuch stand. Niemand konnte diese Wendung voraussehen.

Es lässt sich nur schlecht bestreiten, dass sie für die Pelosis, Schumers und die eng mit ihnen verbandelten Medien denkbar ungünstig kommt. Ausgerecht jetzt, da Trump über die riesige Möglichkeit verfügt, als knapp entronnenes Attentatsziel Einheit und Mäßigung zu beschwören, den eigenen eben noch als alternativlos gelobten Anführer im offenen Kampf stürzen – sehr viel schlechter könnte es für die Strategen der Demokratischen Partei nicht laufen. Dass ausgerechnet jetzt auch die juristische Attacke gegen Trump weitgehend kollabiert und die Erzählung vom Putsch des 6. Januar 2021 zerbröselt, kommt nicht ganz unerwartet, aber doch ziemlich überraschend, was Zeitpunkt und Tempo betrifft.

Zu den sogar in Deutschland bekannten Entscheidungen gehört das Urteil des Obersten Gerichts zur begrenzten, aber eben weit abgesteckten Immunität des Präsidenten für seine Handlungen. Diese Entscheidung könnte das Verfahren gegen Trump in Georgia beeinflussen (dort steht er vor Gericht, weil er 2020 Parteifreunde im Staat dazu aufgefordert hatte, nachzuprüfen, ob es möglicherweise für ihn abgegebene, aber unterschlagene Stimmen gibt – nach Ansicht der dortigen Staatsanwaltschaft Wahlmanipulation, nach Ansicht etlicher Rechtsexperten ein juristischer Nothingburger). Auch die Entscheidung eines Richters in Florida drang bis Europa durch, der die Bestellung des Sonderermittlers zum Fall der vorgeblich von Trump illegal mitgenommenen Regierungsdokumente als verfassungswidrig einstufte. Die bisher kaum bekannte und debattierte Entscheidung des Obersten Gerichts in der Sache Fischer vs. United States vom Juni 2024 strahlt vermutlich mindestens genauso stark auf politisierte Verfahren aus. Hier entschied eine Mehrheit übrigens nicht nur der konservativen Richter im Fall eines Teilnehmers an der Kapitol-Besetzung vom 6. Januar 2020, dass es nicht zu einer ‚Überkriminalisierung‘ kommen dürfe, also zu einer Instrumentalisierung des Rechts mit dem Ziel, möglichst hohe Strafen zu erreichen. Schon einige Monate vorher brach, siehe oben, ein wichtiger Stein aus der bisherigen Erzählung über Trump und den Kapitol-Sturm. Im Juni 2021 hatte Cassidy Hutchinson, ehemalige Mitarbeiterin des Weißen Hauses unter Trump, vor dem Untersuchungsausschuss zum 6. Januar die Geschichte erzählt, wie Trump vom Secret Service verlangt habe, ihn sofort zum Kapitol zu fahren. Als der Fahrer seiner Limousine sich weigerte, habe Trump ihm ins Lenkrad gegriffen, um ihn zur Umkehr zu zwingen. An dieser Geschichte passte aus Sicht sehr vieler Medien rundum alles: Der Präsident als Insurgent und unbeherrschte, chaotische Figur, die selbst auf die eigenen Begleiter losgeht – und eine ehemalige Trump-Gehilfin, die auf ihr Gewissen hört und die Öffentlichkeit vor einem unberechenbaren Mann warnt. Es gab nur einen Schönheitsfehler, über den damals die meisten Journalisten hinwegsahen: Hutchinson saß damals gar nicht im Präsidentenauto. Alles, was sie beschrieb, stammte ausschließlich vom Hörensagen. Im Frühjahr 2024 vernahm der Untersuchungsausschuss schließlich den Agenten, der damals den Wagen fuhr. Er erklärte, bei Hutchinsons Kolportage handle es sich um völligen Humbug. Den angeblichen Vorfall mit dem ins Steuer greifenden Trump habe es nie gegeben.

Diese bemerkenswerte Wende ließ sich zwar hier und da und sogar in einigen englischsprachigen Medien nachlesen, selbstverständlich sehr viel kleiner als seinerzeit Hutchinsons Auftritt. In Deutschlands alte Medien schaffte es das Ende dieser Geschichte überhaupt nicht. Sondern eben nur der Anfang, hier in den Worten des früheren SPIEGEL- und damaligen MDR-Chefredakteurs Klaus Brinkbäumer, notiert im besten Relotius-Sound: „Cassidy Hutchinson, 25 Jahre alt, …sagte, was war. Und Amerika hielt inne und hörte zu.“

Die vorläufige Zusammenfassung der bisherigen Staffeln dieses amerikanischen Echtzeitdramas lautet: Es gibt einen formalen Präsidenten in einem versteinerten Zustand, ein Politiker, der das Land längst nicht mehr regiert, aber immerhin noch die Macht besitzt, seine Selbstzerstörung auf seine gesamte Partei auszuweiten – sein Rücktritt heute kommt zu spät. Zweitens einen mutmaßlich künftigen Präsidenten, der durch die Hassübersättigung seiner Gegner und den Umschlag in eine neue Qualität – die Schüsse in Butler – erst überhaupt in diese Position befördert wurde: die des Überlebenden. Hier ein politisch angeschossener, den die konfusen und ratlosen Granden seiner Partei augenscheinlich langsam verbluten lassen wollen, dort ein physisch Angeschossener, dem der Mordversuch eine Schutzschicht verleiht, die er vorher nie besaß. Und drittens lässt sich noch ein Umschlag vom metastabilen in einen versteinerten Zustand besichtigen, aus dem es kein Zurück gibt: Wo es bis vor einiger Zeit noch politisch-moralisch aufgeladene wohlgesinnte Medien in den USA gab, erstreckt sich ein riesiges Trümmerfeld. Chefredakteure und Redakteure, die bis eben noch predigten: ‚Wählt gefälligst einen senilen Greis, oder ihr kommt alle in die Hölle‘, diese Journalisten stellen plötzlich fest, dass ihre Macht noch nicht einmal ausreicht, um jetzt ihren senilen Greis aus dem Weißen Haus zu schreiben. Und was den Gottseibeiuns angeht, den Darth Vader, den Orange Man: die einschlägigen Medienschaffenden scheinen besessen davon, jetzt auch die Trümmer noch anzuzünden. Etwa, wenn ein ehemals angesehenes Magazin meldet, ein notorischer Holocaustleugner wolle Trump nicht unterstützen, und den Extremisten kurzerhand zum „konservativen Influencer“ befördert, damit der erzdumme Text überhaupt funktioniert. Das ist Selbstverleugnung, Selbstvernichtung, selbstverschuldeter Untergang. Und auch das ganz ohne großen Plan und Hintermann.

Die wirklich wichtigen Meldungen schaffen es wie immer gar nicht oder mit extremer Verspätung in die deutschen Altmedien. Dass Elon Musk und Peter Thiel Trump 2024 unterstützen, überrascht niemanden. Auch nicht, dass Mark Zuckerberg, der noch 2020 400 Millionen Dollar für eine Biden-nahe Kampagne spendete, dieses Mal verkündet, keinem Kandidaten zur Seite zu stehen.

Bemerkenswert wirkt dagegen die Nachricht, dass Keith Rabois, Manager des Tech-Unternehmens Khosla, vorher in leitenden Positionen bei PayPal und Linkedin, nach dem Attentat auf Trump ankündigte, dessen Kampagne eine Million Dollar zu spenden. Rabois hatte Trump noch 2016 einen „Soziopathen“ genannt. Zu den neuen Unterstützern gehört auch der ehemalige kalifornische Investor Shervin Pishevar. Als Trump 2016 Präsident wurde, überlegte Pishevar öffentlich, ob es nicht besser wäre, Kalifornien vom Rest der USA loszulösen. Jetzt machte der Unternehmer, der mit seiner Firma nach Florida zog, seine Trump-Unterstützung öffentlich.

Wenn es für die deutsche Öffentlichkeit der Regierungsparteien, Talkshows, Kirchentage, kurz, für das Steinmeier-Wir aus dem US-amerikanischen Schauspiel etwas zu lernen gibt, dann das: Wer dauerhaft seine Gegner moralisch verdammt und mit Jauche überkübelt, ohne selbst etwas anzubieten, der scheitert. Und zwar so, dass es sich nicht mehr mildern oder rückgängig machen lässt. Wer mit metastabilen Zuständen experimentiert, der muss damit rechnen, dass ihm die Sache in eine ganz und gar unerwünschte Richtung kippt. Und drittens, mit Bertolt Brecht: „Ja mach nur einen Plan/sei nur ein großes Licht/und mach noch einen zweiten Plan/gehen tun sie beide nicht“.

Jetzt wartet jeder auf die nächste Folge, mit der die aktuelle Staffel am 5. November endet. Die Spannung bleibt, denn Determinismus und Zufall arbeiten natürlich weiter dialektisch gegeneinander. Einen besseren Cliffhanger als „Nessun Dorma“ am Ende des republikanischen Konvents kann man sich gar nicht vorstellen.

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