Tichys Einblick
Der Linksrhetorik nicht folgen

Thüringen und der frei flottierende Faschismus-Begriff

Schwach sind Politiker der Mitte vor allem, weil sie geschichtspolitische Rhetorik der Linken einfach übernehmen. Statt deren Begriffe nachzuplappern, sollten sich Bürgerliche etwas von der linken Taktik abschauen. Dort gäbe es für sie etwas zu lernen.

Jens Schlueter/AFP/Getty Images

In Thüringen soll demnächst der Linkspartei-Politiker Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten gewählt werden. Bis vor kurzem erschien das noch als leichte Übung.

Seine rot-rot-grüne Koalition wurde von den Wählern zwar nicht mit genügend Mandaten ausgestattet. Aber im dritten Wahlgang reicht ihm die relative Mehrheit. Und nach der Kombination von extralegalen Maßnahmen aus dem Kanzleramt („Wahl von Kemmerich ist rückgängig zu machen“) und bundesweiter Gewalt gegen bürgerliche Politiker und Parteibüros („Druck der Straße“) dürfte es niemand mehr wagen, in diesem dritten Wahlgang einen Gegenkandidaten aufzubieten, der bekanntlich nur mit Stimmen der AfD ins Amt kommen könnte. Im dritten Wahlgang ist laut Artikel der Thüringer Verfassung zum Regierungschef gewählt, wer die „meisten“ Stimmen erhält. Bei einem konkurrenzlosen Kandidaten würde also theoretisch schon eine einzige Stimme ausreichen.

Seit vergangener Woche existiert allerdings ein Problem für Ramelow und seine Partei durch die taktische Andeutung von AfD-Chef Alexander Gauland, die Abgeordneten seiner Partei könnten Ramelow gleich im ersten Wahlgang wählen. Gleichzeitig teilte die CDU der Linkspartei mit, ihre Abgeordneten könnten Ramelow nicht wählen, sondern sich nur enthalten. Denn mit der Wahl eines Linksparteipolitikers durch Stimmen von CDU-Parlamentariern würden die Abgeordneten einem Politiker eine Mehrheit nachliefern, die Thüringens Wähler nicht zu geben bereit waren. Der eine oder andere Unionspolitiker im Westen hätte damit keine Probleme. Die Abgeordnetenmehrheit der Christdemokraten in Erfurt dagegen schon.

Der Linkspartei ist unter diesen Bedingungen nicht gleichgültig, wie ihr Kandidat ins Ministerpräsidentenamt kommt. Mit AfD-Stimmen soll das auf keinen Fall geschehen. Folglich verlangt Thüringens Linkspartei-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow von der CDU, sie solle ihre „antifaschistische” Pflicht tun und Ramelow wählen, damit die toxischen AfD-Stimmen keine Rolle spielen. Um sicher zu gehen, so Hennig-Wellsow, müsse die Zusicherung der CDU-Abgeordneten, auch garantiert richtig abzustimmen, „im Vorfeld“ dokumentiert werden.

Auch dagegen hätten mehrere hochrangige CDU-Funktionsträger vermutlich nichts. Sie sehen nur die praktische Schwierigkeit, ihre Abgeordneten vor einer geheimen Wahl zu einem bestimmten Verhalten zu verpflichten, vor allem dann, wenn einige Abgeordnete sich sträuben und die Chance wittern, unter Zuhilfenahme der Verfassung potentiellen Verpflichtern eine Nase zu drehen. Es kommt also der aus der sowjetischen Soziologie bekannte „menschliche Faktor“ (Человеческий фактор) ins Spiel.

Anders als die Thüringer Linksparteichefin löste die Vorsitzende der SPD Saskia Esken das Problem sehr einfach, nämlich dadurch, dass sie am Montag erklärte, es gäbe gar kein Problem, AfD-Stimmen hin oder her. Auf die Frage, was denn passiere, wenn Höckes Trupp Ramelow wähle, antwortete die Sozialdemokratin:
„Es ist doch ganz einfach: es muss egal sein, wie die AfD abstimmt.“

Praktisch wortgleich schrieb auch Bettina Gaus in der taz:
„Müsste der frühere Ministerpräsident die Wahl dann ablehnen – weil der Vergleich mit dem FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich unabweisbar wäre? Oder dürfte, müsste er die Wahl annehmen, um wieder geordnete Verhältnisse herzustellen? So funktioniert das nicht, so wird das auch in Zukunft nicht funktionieren. Die Gemeinsamkeit der Demokraten darf nicht davon abhängen, ob Faschisten im Einzelfall mal mit ihnen stimmen.“

So funktioniert das tatsächlich nicht. Damit liegen Esken wie Gaus faktisch, praktisch und ideologiegeschichtlich völlig richtig. Das Tor zur Hölle beziehungsweise das Tor zu höllischen Geschichtsparallelen wird aufgestoßen, wenn es, wie am 5. Februar in Thüringen, zu einer Mehrheit von nichtlinken Parteien mit der AfD kommt. Umgekehrt gilt das nach linker Logik ganz offenkundig nicht. Und das nicht erst seit gestern.

Vor den Erschütterungen in Thüringen war die Linkspartei-Politikerin Birgit Keller mutmaßlich auch mit Stimmen der AfD in das Amt der Landtagspräsidentin gekommen. Jedenfalls hatte die AfD für die Linksparteipolitikerin in einer geheimen Wahl gestimmt, in der Rot-Rot-Grün keine Mehrheit hatte. Selbstverständlich nahm sie die Wahl trotzdem an. Und für Bodo Ramelow wäre das Regieren schon ab April 2017 schwierig geworden. Damals wechselte die SPD-Abgeordnete Marion Rosin zur CDU-Fraktion, weil sie kaum noch sozialdemokratische Inhalte in dem rot-rot-grünen Bündnis ausmachen konnte. „Diese Koalition“, so begründete sie ihren Schritt, „wird durch die dogmatisch-ideologischen Führungskader der Linken geprägt”.

Ramelow konnte mit einer Mehrheit von einer Stimme weiterregieren, weil vorher der frühere AfD-Abgeordnete Oskar Helmerich zur SPD übergelaufen war. Helmerich wechselte weniger aus politischen Gründen, sondern, weil er sich mit seinen Fraktionskollegen persönlich zerstritten hatte. Bei ihm handelte es sich um keinen Hinterbänkler; er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der AfD in Thüringen und war als Nummer Zwei der Landesliste in den Landtag eingezogen. Begleitet wurde der Übertritt des AfD-Manns von leichtem Grummeln in der SPD. Die beiden anderen linken Parteien nahmen die Verstärkung mehr oder weniger kommentarlos zur Kenntnis.

Wer Freude an hypothetischen Überlegungen hat, kann sich ausmalen, welche bundesweiten politischen und medialen Aufführungen es gegeben hätte – Sondersitzungen, Aufmärsche und Hausbesuche inklusive – wenn ein AfD-Überläufer einer wackligen bürgerlichen Koalition die Mehrheit gesichert hätte. Im Fall Helmerich blieb die mediale Aufregung völlig aus.

Auf kommunaler Ebene arbeiten auch linke Gemeinderäte in Ostdeutschland schon länger an mehreren Orten mit AfD-Politikern zusammen, zwar begleitet von Kritik, aber nicht von Dammbruch-Rhetorik. Im sächsischen Gohrisch etwa besteht nach wie vor eine Koalition von einem parteilosen Gemeinderat, der über die Liste der Grünen eingezogen war, mehreren CDU-Gemeinderäten und einem AfD-Vertreter.

In Gemeinderäten, lautet der Einwand, gehe es eben nicht um große Politik. Aber auch dort, wo es um zumindest größere Politik geht – siehe die Mehrheitssicherung von Ramelow – finden sich in der viel zitierten Brandmauer kleinere und größere Türen, durch die beispielsweise ein AfD-Seitenwechsler schlüpfen kann. Es sind allerdings Türen, die sich nur in eine Richtung passieren lassen.

Nach der Wahl von Kemmerich in Thüringen richtete sich die Wut auch deshalb gegen die FDP, weil jemand von einer Fünf-Prozent-Partei es gewagt hatte – jedenfalls ganz kurz – die Hauptrolle zu spielen. Von diesem Detail abgesehen erkennen die linken Politiker in Deutschland ihre Lage ziemlich nüchtern: Sollte es irgendwo oberhalb der Gemeindeebene zu festen oder auch nur punktuellen Verabredungen von CDU, FDP und AfD kommen, dann wäre die politische Stellung der Linken mit einem Schlag eine völlig andere. Sie säßen in Ostdeutschland dann nicht mehr automatisch in jeder Koalition, sie könnten im Bundestag nicht mehr ihren Einfluss weit über ihr eigentliches Stimmengewicht hinaus geltend machen.
Den umgekehrten Fall – jemand von Rechts stützt einen linken Politiker – nehmen die Betreffenden als unvermeidlichen Schönheitsfehler hin. Denn dann stimmt ja trotzdem die Richtung.

Diese Flexibilität kann eigentlich keinen überraschen, denn sie gilt schon länger. In Griechenland regierte Ministerpräsident Alexis Tsipras mit seiner radikallinken Sammlungsbewegung SYRIZA von 2015 bis 2019 in einer Koalition mit der rechtsnationalen ANEL. Die ANEL („Unabhängige Griechen“) ähnelt der AfD erstaunlich; sie entstand 2012 als rechte Abspaltung von der Nea Dimokratia, ihr Vorsitzender Panos Kammenos proklamierte ein „nationales Erwachen und Aufstehen“. Befreundete linke Parteien in Europa, aber auch die Medien gingen mit der Koalitionsentscheidung Tsipras’ außerordentlich milde um, verglichen mit der Koalition von Sebastian Kurz und vorher, im Jahr 2000, von Wolfgang Schüssels ÖVP mit der FPÖ in Österreich. Damals fand, woran der Deutschlandfunk kürzlich noch einmal erinnerte, ein „Tabubruch“ statt. Für Tsipras’ Links-Rechts-Bündnis findet sich dieser oder ein ähnlicher Stempel in den Archiven nicht.

Bürgerliche Politiker unterschätzen oder verstehen gar nicht erst, dass die taktische Wendigkeit auf Seiten der Linken schon immer größer war als auf ihrer eigenen. Gerade politische Kräfte, die weitgesteckte Ziele verfolgen und in dem Bewusstsein handeln, ihren Auftrag aus der Geschichte zu beziehen, können sich in taktischen Dingen flexibel verhalten. Das gilt in der Gegenwart, und das galt auch schon in weit zurückliegenden Zeiten.

Als die Partei, zu der Bodo Ramelow gehört, noch SED hieß, bewies sie eine erstaunliche Unempfindlichkeit, wenn es darum ging, sich in ihrem Kurs auch von notdürftig gereinigten Nazis unterstützen zu lassen. Für Kader des Dritten Reichs, die in der sowjetischen Besatzungszone nach 1945 umschwenkten, gründeten die sowjetischen Verwalter eine eigene Blockpartei, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands, NDPD. Darin machte beispielsweise Wilhelm Adam Karriere, Mitglied der SA, Träger des Blutordens, dann, in der NDPD, 1950 bis 52 sächsischer Finanzminister. Danach baute er als Oberst die Kasernierte Volkspolizei auf, den Vorläufer der NVA.

Der frühere NS-Gaustudentenführer Thüringens Siegfried Dallmann führte bis 1989 die NDPD-Fraktion in der DDR-Volkskammer. Egbert von Frankenberg und Proschlitz, alter Kämpfer der NSDAP mit Eintrittsdatum 1931, Mitglied der SS und der Legion Condor, wurde als NDPD-Kader militärpolitischer Kommentator des DDR-Rundfunks; dem Hauptausschuss der NDPD gehörte er bis 1989 an.

Derartige Karrieren finden sich auch reichlich in der SED, nicht nur in ihrer Hilfstruppe. Ernst Großmann etwa, ehemaliger Unterscharführer der SS und Wachmann im KZ Sachsenhausen, stieg in das ZK der SED auf, wo er 1959 zwar wieder entfernt wurde – aber in der Partei durfte er bleiben. Der Jurist Ernst Melsheimer, Landgerichtsdirektor ab 1933, Berliner Kammergerichtsrat ab 1937, Mitglied im Nationalen Rechtswahrerbund, Träger der Treuemedaille des Führers, vorgeschlagen als Reichsgerichtsrat 1944 (die Stelle konnte er nicht mehr antreten), wurde 1949 als SED-Genosse Generalstaatsanwalt der DDR, wo er etliche Todesurteile durchsetzte. Melsheimers Urne – er starb 1960 – liegt bis heute in der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin.

Erich Hans Apel, einer der wichtigsten Männer im Entwicklungsteam für die V2 und technischer Leiter der Peterbau GmbH, die im KZ Dora-Mittelbau die V2-Raketen produzierte, stieg zum Chef der zentralen DDR-Plankommission auf. Apel endete 1965 durch Kopfschuss in seinem Büro, offiziell wurde sein Tod zum Suizid erklärt. Möglicherweise stimmte das, möglicherweise nicht, denn Apel war über einen Handelsvertrag mit der Sowjetunion in Opposition zu Walter Ulbricht geraten. Seine Genossen kannten jedenfalls Apels NS-Vergangenheit, und sahen sie nicht als hinderlich an.

Das galt auch für andere Bereiche, etwa den der Kultur. Der Autor Erwin Strittmatter wurde 1959 Erster Sekretär des DDR-Schriftstellerverbandes. Um seine Vergangenheit als Mitglied des SS-Polizeiregiments 18, das ab 1943 in Griechenland Vergeltungseinsätze gegen die Zivilbevölkerung durchführte, wussten die Funktionäre der SED, störten sich aber nicht daran. Strittmatter bewies seine Loyalität, er arbeitete als Informant für die Staatssicherheit, als Autor befürwortete er die Ausbürgerung von Wolf Biermann und den Ausschluss Reiner Kunzes aus dem DDR-Schriftstellerverband.

Aus der DDR und sogar noch aus früheren Zeiten stammte auch der frei flottierende Faschismusbegriff, der nicht den historischen Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus meinte, sondern immer nur als propagandistisches Instrument diente. Schon ab den später zwanziger Jahren bekämpfte die Kommunistische Partei die SPD unter der Parole des „Sozialfaschismus“ – die historische Erinnerung daran scheint heute bei führenden SPD-Politiken vollständig gelöscht zu sein.

In der DDR kam es zu der bizarren Konstellation, dass der frühere NS-Jurist Ernst Melsheimer 1956 den Verleger Walter Janka wegen „konterrevolutionärer Verschwörung“ anklagte. Der Kommunist Janka hatte in der NS-Zeit im KZ gesessen und war später Kämpfer der Interbrigadisten in Spanien. Ihm nützte seine kommunistische Mustervita genau so wenig, als er in Opposition zur SED-Führung geriet, wie Melsheimer seine Musterkarriere im Dritten Reich unter den neuen Verhältnissen schadete.

Der willkürliche und entkernte Faschismusbegriff diente der SED zum moralischen Schutz gegen alle Anfechtungen. Bekanntlich ordnete die Nomenklatura, zu der, siehe oben, etliche frühere NSDAP-Kader gehörten, den Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 als „faschistischen Putsch“ ein, und den Bau der Mauer 1961 als „antifaschistischen Schutzwall“.

Wegen dieser völlig beliebigen Verwendung der Vokabeln „faschistisch“ und „antifaschistisch“ dringt die Antifa-Rhetorik – zur Verwunderung vieler westdeutscher Politiker und Journalisten – bis heute in Ostdeutschland deutlich weniger durch als im Westen, denn vielen älteren Ostdeutschen kommt die Methode der moralischen Erpressung noch bestens bekannt vor.

Mancher wird hier einwenden, der Blick auf die „Sozialfaschismus“-Keule der KPD und die Kaderpolitik der SED ginge doch etwas weit zurück in die Vergangenheit. Was hat das mit dem Thüringen-Beben heute zu tun?
Mehr, als es im ersten Moment scheint. Zum einen beherrscht der beliebige, frei flottierende Faschismusbegriff der SED heute wieder die Szene. Wenn die SPD am Willy-Brandt-Haus als Reaktion auf die Thüringer Ereignisse das Transparent aufhängt: „Seit 156 Jahren: kein Fußbreit dem Faschismus. SPD“, dann verlegt sie mal eben den Faschismus respektive Nationalsozialismus ins deutsche Kaiserreich – um ihn von dort gleich wieder nach Thüringen 2020 zu beamen. Ohne uns und Bodo Ramelow, so die Botschaft, zögen Höckes Horden morgen mit Fackeln durchs Brandenburger Tor.

In Deutschland bildet Geschichte, anders, als es die Epochenbrüche vermuten lassen, einen soliden langen Strang. Immer wieder öffnen sich Kanäle für tiefe Rückblenden und Rückgriffe. In der Talkshow zu Thüringen und den Folgen bei Anne Will sagte Wirtschaftsminister Peter Altmaier erstaunlicherweise: „Teile meiner Partei [haben] leider Gottes […] für Adolf Hitler und sein Ermächtigungsgesetz gestimmt“. Da es 1933 noch keine CDU gab, meinte er offenbar Reichstagsabgeordnete, die im März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zustimmten und später CDU-Mitglied wurden.

Eine kritische Beschäftigung mit der eigenen Geschichte ist nie falsch; tatsächlich war das Bündnis der Konservativen mit der NSDAP 1933 ein katastrophaler Orientierungsverlust. Nur scheint einem Peter Altmaier und auch anderen Unionsabgeordneten gar nicht aufzufallen, dass sich vor allem die Linkspartei nie annähernd so skrupulös mit der eigenen Vergangenheit beschäftigt, sondern sie im Gegenteil – hier passt das Wort – ruchlos weiterführt.

Der Satz: ‚in meiner Partei saßen auch ehemalige Mitglieder der NSDAP und der SS’ käme einem Bodo Ramelow nie über die Lippen, obwohl er, siehe oben, historisch richtig wäre. Denn die SED, in der ein Melsheimer, ein Großmann und viele andere saßen, ist rechtlich identisch mit der heutigen Linkspartei. Ramelow möchte bis jetzt bekanntlich die DDR noch nicht einmal einen Unrechtsstaat nennen. Der Übergang von einer Diktatur in die andere nach 1945 bildet ein ganz eigenes und noch weitaus besser beschwiegenes Kapitel. Darüber zu schweigen ist Linkspartei-Politikern noch wichtiger, als die Mauertoten als irgendwie tragische Opfer schwieriger Zeiten beiseitezuschieben.

Die Erzählung von der antifaschistischen DDR und der Bundesrepublik als Staat der alten Nazis steht bis heute auch in der Bundesrepublik bombenfest. Nicht zuletzt aus dieser Begriffspolitik ziehen die Linkspartei und ihre Fellow Travelers bis heute ihre moralische Überlegenheit. Jeder Linkspartei-Politiker kann darauf zurückgreifen, wenn er von der CDU, der FDP und überhaupt allen Bürgerlichen zum tausendsten Mal das „antifaschistische” Bekenntnis abfordert – meist in Gestalt der Zustimmung zu einer linken Agenda. Umgekehrt maßregelte ARD-Chefredakteur Rainald Becker vor kurzem alle, die gelegentlich noch an die Historie der Linkspartei erinnern:
„Wer nach 30 Jahren Einheit die Linke immer noch als ‚SED-Erben’ bezeichnet, hat nichts verstanden und gelernt.“

Die Linkspartei ist noch nicht einmal ‚SED-Erbe’, sondern die Fortsetzung der SED unter einem mehrfach geänderten Namen. Und zwar nicht nur formal, sondern, wie jeder an der Berliner Mietendeckel- und Enteignungspolitik verfolgen kann, auch politisch.

Bürgerliche Politiker in Deutschland sind auch wegen ihrer geschichtspolitischen Indolenz so schwach in der Auseinandersetzung mit Angreifern von links. Sie lassen sich ernsthaft von Linkspartei-Politikern öffentlich wie Prüflinge immer wieder auf ihre demokratische Reife abfragen, ihrerseits fragen sie selten bis nie zurück. Bürgerliche schneiden in Deutschland zwar bei Wahlen besser ab als Linke, meist jedenfalls. In der begriffspolitischen Auseinandersetzung machen Linke dieses Ergebnis nicht nur wett, sie drehen es um, indem sie es schaffen, alle Nichtlinken unter einen ständigen Rechtfertigungsdruck zu setzen.

Der Historiker Heinrich August Winkler, 81, warnte vor kurzem davor, mit Begriffen wie „faschistisch“ und „Faschismus“ um sich zu werfen wie mit Kamellen; er wies darauf hin, dass die AfD in Thüringen nicht der NSDAP ähneln würde, sondern allenfalls der Deutschnationalen Volkspartei von Alfred Hugenberg (allerdings ohne Hugenbergs Presseimperium). Aber selbst jüngere Politiker bürgerlicher Parteien – die vermutlich gar nicht wissen, wer Hugenberg und die DNVP waren – übernehmen mittlerweile den antihistorischen Faschismus-Begriff, etwa der FDP-Abgeordnete Alexander Lambsdorff:

Schleswig-Holsteins CDU-Wissenschaftsministerin Karin Prien meinte, Bodo Ramelow sei im Vergleich zu Björn Höcke „das kleinere Übel“ – so, als müsste sich die CDU in Thüringen jetzt entscheiden, entweder Ramelow oder Höcke zum Ministerpräsidenten zu wählen. Mit solchen Sprüchen redet sich die CDU, ehemals Partei von Adenauer und Kohl, klein und dumm. Sie definiert ihre eigenen Inhalte nicht mehr, sie weiß nichts mehr über die eigenen historischen Wurzeln und die der anderen Parteien, sie saugt die Rhetorik der Linken ein, weil in ihrem eigenen Inneren schon länger ein intellektueller Unterdruck herrscht.

Von der taktischen Flexibilität einer Saskia Esken könnten CDU- und FDP-Politiker etwas lernen. Wenn es angeblich gar nicht darauf ankommt, ob jemand mit AfD-Stimmen gewählt wird, sondern auf die Substanz des Gewählten, dann hätte die Union nach Eskenscher Logik sogar die Chance, eigene bürgerliche Punkte zu formulieren, um dann von der SPD Zustimmung zu fordern (respektive den Grünen). Anderenfalls, so könnte sie drohen, frage man eben bei der AfD. Eine Steuersenkung und eine bessere Migrationspolitik würden ja nicht dadurch falsch, wenn sie mit den Stimmen der AfD zustande kämen. Und wenn SPD und Grüne das unbedingt verhindern wollten, dann müssten sie eben die Stimmen liefern.

So würden bürgerliche Politiker verfahren, wenn sie einen Schuss linker Abgebrühtheit besäßen. Taktisch könnten sie sich von einer Saskia Esken und einem Bodo Ramelow ein paar Dinge abschauen.

Anzeige
Die mobile Version verlassen