Nur wenige Stunden vor der feierlichen Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Paris wurde das französische Bahnnetz zum Ziel mehrerer, koordinierter Attacken. Die nationale Bahngesellschaft SNCF (Société nationale des chemins de fer français) sprach von einem „massiven Großangriff“. Zudem waren es genau gezielte Anschläge auf die wenigen Hochgeschwindigkeitsstrecken (lignes à grande vitesse, LGV), die meist strahlenförmig von Paris ins In- und Ausland führen. Alles zielte auf die Lähmung des öffentlichen Verkehrs im direkten Vorlauf der Olympischen Spiele ab.
Es war am frühen Freitagmorgen, gegen 4 Uhr, als sich der koordinierte Angriff ereignete. Der Vorstandsvorsitzende der SNCF, Jean-Pierre Farandou, wies darauf hin, dass die Wirkungen dieser Anschläge noch über das gesamte Wochenende spürbar bleiben werden. Die Vorgehensweise der Angreifer ähnelt dabei laut einer Sicherheitsquelle den Bekenneraktionen der Ultralinken. „Alles geschah zur selben Zeit.“ An den Anschlagsorten fand man Transporter-Kleinbusse und Brandmittel vor. Es handelt sich eindeutig um „kriminelle Brandstiftungen“, so Farandou.
In diesem Fall gibt es aber noch kein Bekennerschreiben und auch keine öffentlichen Forderungen. Man tappt also noch durchaus im Dunkeln, denn natürlich kann jede andere Organisation oder Gruppe die Methode der linksradikalen Zellen nachahmen und sich so im Dunkeln halten.
Darf man mit dem Regenschirm zur Eröffnungsfeier?
Die Angriffspunkte waren jeweils „Rohrleitungen, in denen viele Kabel verlaufen“. Durch diese Kabel werden Sicherheitsvorrichtungen wie Ampeln oder Weichen kontrolliert, ohne die kein Zug irgendeinen Bahnhof verlassen kann. Die Rede ist von drei Brandanschlägen, die jeweils zwei Strecken lahmlegten. Eine vierte Aktion an den Südstrecken – im nordöstlichen Département Yonne – konnte von Bahnmitarbeitern vereitelt werden. Mehrere Personen wurden „in die Flucht geschlagen“.
Selbst für den langgedienten SNCF-Mann Farandou, der zudem seit fünf Jahren Vorstand ist, ist das ein schwerer Fall. Nun müssten „Hunderte von Drähten … einzeln wieder angeschlossen werden“, danach kommen die Tests, ob alles sicher funktioniert. Das sei Präzisionsarbeit und zugleich ein Großprojekt, das nun unter Zeitdruck erledigt werden muss. Kaum erstaunlicherweise ist Farandou ziemlich erbost, fast wütend über diese „Bande von Erleuchteten und Verantwortungslosen, die uns daran hindern wollen, unseren Beruf auszuüben“.
Die TGVs der Nord- und Ostachse verkehren nun mit „Fahrzeitverlängerungen von anderthalb bis drei Stunden und leider auch einigen Ausfällen“, so die SNCF. Auf der Atlantikstrecke (zwischen Paris und Tour sowie Le Mans) gab es bis zum frühen Nachmittag gar keinen TGV-Verkehr in beide Richtungen. Züge zwischen Paris und London sowie Amsterdam und Brüssel sind betroffen, wurden teils annulliert. Ebenso war die Route zum Stade de France, einem der Austragungsorte der Olympischen Spiele, blockiert. So reicht eine kleine Anzahl von gezielten Anschlägen an ausgewählten Weggabelungen aus, um das Streckennetz in halb Frankreich und darüber hinaus lahmzulegen.
Das Seltsame ist, dass es genau diese Diskussion in Frankreich seit Monaten gibt: die Sorge, wie verwundbar man sei, wenn ausgerechnet während der Olympischen Spiele das Verkehrsnetz des Landes angegriffen würde. Die Terroristen – nicht anders kann man sie wohl nennen – haben sich vielleicht genau an dieser Diskussion inspiriert. Währenddessen fragen sich die Franzosen, ob es wohl erlaubt sei, einen Regenschirm mit zur Eröffnungszeremonie zu nehmen, denn es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit für Regen. Aber was werden die Sicherheitsdienste wohl zu tausenden Regenschirmen am Ufer der Seine sagen?
Salz in Macrons Wunden: Der große Sommer-Ärger ist möglich
Allein am Freitag waren 250.000 Reisende betroffen, über das Wochenende dürfte diese Zahl laut SNCF auf 800.000 steigen. Das ist in der Tat ein massiver Eingriff in die Organisation der Olympischen Spiele. Es wird dazu führen, dass hunderttausende Zuschauer an der Anreise gehindert werden. Ebenso getroffen sind viele Franzosen, die just in diesen Tagen in die großen Ferien aufbrechen wollten. Auf der App Blablacar, die Mitfahrgelegenheiten organisiert, nahmen die Reservierungen um 83 Prozent zu.
All das ist eine Chance auf den großen Sommer-Ärger der Franzosen. Und es ist Salz in die Wunden Emmanuel Macrons, der sein Parteienbündnis – kurz vor den Spielen und den großen Ferien – in ein Wahldebakel der besonderen Art geführt hat, und passt insofern zur extremen oder auch Ultralinken, die bekanntlich diese ganzen Neuwahlen mit einem möglichen Sieg des Rassemblement national als Teufelswerk ansah.
Und als ob das alles noch nicht reichte, gab es am Freitag auch einen Bombenalarm auf dem Euro-Flughafen Basel-Mulhouse an der schweizerischen Grenze. „No flights“, erschallte der Ruf. Alle, Reisende wie Mitarbeiter, mussten die Halle 4 verlassen. Ja, die Sicherheitslage in und um Frankreich ist dieser Tage stark angespannt, und man kann sich fragen, ob eine Zentralintelligenz dahintersteht oder nur der böse Wille vieler Einzelner zu schaden.
Die Gedanken des öffentlichen Kommentators und gewissermaßen Islam-Experten Jean Messiha gingen umgehend weiter, von der radikalen Linken zum islamisch motivierten Terror. Messiha sieht eine „Konvergenz der Kämpfe“ im Islamogauchisme, also dem Bündnis der radikalen Linken und des radikalen Islams.
Auch in Belgien und Deutschland: Radikale Muslime im Visier der Polizei
Und der Gedanke liegt leider gar nicht fern, auch wenn bei radikalen Muslimen wiederum andere „Vorgehensweisen“ üblich sind. Schon am 31. Mai war ein 18-jähriger Tschetschene festgenommen worden, der angeblich ein „islamistisch inspiriertes Attentat … im Namen der dschihadistischen Ideologie des Islamischen Staates“ während der Olympischen Spiele plante, genauer im Fußballstadium in Saint-Etienne bei Lyon. Der Tschetschene wollte dort „als Märtyrer sterben“.
Am Donnerstag wurden in Belgien „sieben Personen“, in Deutschland zwei Personen (zur selben Ermittlung gehörend) und in Frankreich „zwei junge Männer“ (beide 18) – einer davon an seinem Urlaubsort (!) – festgenommen, die jeweils terroristische Akte geplant hätten. In Belgien und Deutschland ging es Einschätzungen zufolge um Terrorfinanzierung beziehungsweise Terrorplanung. Die Erkundigung nach Sprengstoffen gab offenbar den Ausschlag für 14 Razzien der belgischen Behörden. Angeblich geht es um Mitglieder des Islamischen Staats Khorasan mit Wurzeln in Zentralasien – diese Information fehlt aber in viele Meldungen, vor allem außerhalb der belgischen Presse.
Auch in Frankreich befragte die Polizei offenbar gezielt Einwohner mit Herkunft aus Zentralasien, speziell Tadschikistan, über sich selbst und ihre Verwandten. Laut Innenminister Gérald Darmanin wurden insgesamt bereits zwei Attentate, die für die Zeit der Olympischen Spiele geplant waren, von den Sicherheitsbehörden verhindert.
Mögliche Geiselnahmen und andere, nur zu reale Unsicherheiten
Die Olympischen Spiele könnten so auch große Zeiten für die Such- und Eingreifbrigade des französischen Innenministeriums werden. Die Brigade de recherche et d’intervention (BRI) wird eigentlich als „Anti-Gang-Brigade“ bezeichnet und ist auf schweren Raub und Geiselnahmen spezialisiert. Nun könnte sie zur Anti-Terror-Brigade werden, wie ein Bericht des Figaro nahelegt. Lange vor Beginn der Spiele wurden Geiselnahmen, etwa auch durch Terroristen, geübt. Der Truppe stehen gepanzerte Fahrzeuge, in Klein und Groß, zur Verfügung. Ist das mehr als eine Unsicherheitsphantasie der französischen Eliten?
Es ist nicht die einzige Art von Unsicherheit, die auf den Straßen von Paris droht. Unmittelbar vor Beginn der Spiele hat dieser Fall der Gruppenvergewaltigung einer Australierin durch fünf Afrikaner Aufsehen erregt. Ein Pariser versetzt: „So etwas passiert in Frankreich viele Male, jeden Tag … es ist ein bisschen verrückt, es gibt nicht mehr die Sicherheit, wie sie einmal bestand.“