Tichys Einblick
TE-Interview 08-2024

Norbert Bolz zur „Haltungs-Demokratie“: „Das ist ein typisches Sektenverhalten“

Die heutige politische Elite zeichnet sich durch „erschütternde geistige Hilflosigkeit“ aus – Der „komplett ungebildete Bundespräsident“ hält Verhinderung von Kontroversen für das Bild einer „guten Gesellschaft“, sagt Norbert Bolz.

picture alliance/dpa | Horst Galuschka

Berlin. Der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz vergleicht die Forderung der meisten Parteien nach gleicher Haltung und Einigkeit und das Ausgrenzen von Kritikern mit dem Verhalten Sekten. „Was immer jemand gegen ihre Abirrungen vorbringt, jeder Widerspruch wird dort als Bestätigung aufgefasst, alles richtig zu machen“, sagt Bolz im Interview mit der August-Ausgabe des Monatsmagazins Tichys Einblick. „Die übliche Formel, was die wirtschaftliche Transformation angeht, lautet: Die Welt ist eben noch nicht so weit wie Deutschland und muss deshalb von Deutschland belehrt werden. Das ist eigentlich ein typisches Sektenverhalten.“

Dabei sei für eine Demokratie Debatte und Streit konstituierend. Sogar im deutschen Kaiserreich habe es mehr gepflegte Debatte und Streit gegeben als heute. „Es gab in keiner Zeit so viel Kontroverse auf hochgelehrtem Niveau wie in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik“, so Bolz. „Das war eine intellektuell extrem fruchtbare Zeit. Und diese Kontroversen wurden unglaublich anspruchsvoll geführt – wenn Sie an Personen wie Carl Schmitt, Hermann Heller, Walter Benjamin denken.“ Das politische Spektrum reichte damals von weit links bis weit rechts.

Dieses Niveau habe es auch noch zu Beginn der Bundesrepublik gegeben. „Man erblasst geradezu, wenn man sieht, mit welcher Bildung, auf welcher hohen Ebene die Schöpfer des Grundgesetzes damals argumentierten. Vor diesem Hintergrund fällt der gewaltige Unterschied zur Gegenwart erst wirklich auf, die erschütternde geistige Hilflosigkeit der politisch Handelnden“, so Bolz. „Die heutige Elite zeichnet sich durch eine unglaubliche Charakter- und Geistesschwäche aus, verglichen mit der Zeit vor 100 oder auch vor 75 Jahren.“

Bolz erinnert an den Philosophen Georg Simmel, nach dessen Worten der ausgetragene Dissens die Gesellschaft zusammenhält und nicht der Konsens. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sehe das inzwischen umgekehrt. Bolz: „Wir sind heute genau an dem Gegenpol angelangt – bei dem „Wir“, dem Titel des Buchs von Steinmeier. Für diesen komplett ungebildeten Bundespräsidenten ist das Zusammenstehen, die Verhinderung echter Kontroversen ernsthaft das Bild von einer „guten Gesellschaft“. Das Verständnis, dass es sich genau umgekehrt verhält, ist uns in dramatischer Weise weggebrochen.“


Das ganze Interview in Tichys Einblick 08-2024 >>>

Die mobile Version verlassen