Tichys Einblick
13-Jährige erhängte sich

Depressionen bei Jugendlichen: Die missachtete Corona-Folge

Während wir seit einem Jahr gebannt auf die Corona-Zahlen schauen, ignoriert man ein fundamentales Gesundheitsproblem unserer Gesellschaft vollkommen: Depressionen bis hin zu Selbsttötungen.

Symbolbild

IMAGO / Bihlmayerfotografie

Der Freistaat Bayern ist seit mehreren Jahren trauriger Spitzenreiter in der deutschen Suizidstatistik. Etwa 1.520 Menschen nahmen sich dort allein im Jahr 2019 das Leben. Deutschlandweit sind es jedes Jahr etwa 10.000 Tote – mehr als durch Verkehrsunfälle, Drogenmissbrauch und HIV zusammen. Nach Schätzungen begehen weitere 90.000 einen Suizidversuch. Die meisten dieser Menschen, die sich entschließen, ihr Leben aus Verzweiflung zu beenden, leiden an psychischen Störungen. Allen voran an Depressionen – und das relativ unabhängig von Alter und Geschlecht.

Alarmierende neue Datenauswertung
Lockdown und Homeschooling treiben Kinder und Jugendliche in Depressionen und Verzweiflung
Eine Gruppe Abiturienten aus Taufkirchen in Oberbayern hat mit einer 42.500 Unterschriften starken Petition deshalb schon 2019 vom Landtag gefordert, die Aufklärung über psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen endlich in den Lehrplan der bayrischen Schulen aufzunehmen. Die einstimmig angenommene Petition der Schüler erregte damals viel Aufsehen und veranlasste das Kultusministerium mit einem „Zehn-Punkte-Plan“ zu reagieren. Nur kurze Zeit später kam das Corona-Virus und mit ihm das Ende des normalen Lebens und des Schulalltags. Das Thema Depression und Suizid schien schnell vergessen, dabei ist es grade heute so aktuell wie nie.

Das zeigte leider erst vor kurzem ein weiterer Suizidfall im Landkreis Garmisch-Patenkirchen. Der Tod einer 13-jährigen Schülerin, die ihr Leben beendete, indem sie sich selbst erhängte, sorgte für Fassungslosigkeit und ließ die Forderung nach Aufklärung erneut auflodern. Es war bekannt, dass das Mädchen Probleme hatte – mit einem Suizidversuch hatte laut Merkur aber trotzdem niemand gerechnet.

Vergessene Corona-Opfer
Psychisch kranke Kinder leiden besonders unter dem Lockdown
Laut dem Chefarzt der Murnauer Klinik Hochried, Dr. Frank Beer, könnte das daran liegen, dass Selbstmorde – insbesondere von Kindern – in unserer Gesellschaft nach wie vor ein Tabuthema sind. „Eltern fällt es schwer, darüber zu sprechen oder sie erkennen nicht rechtzeitig die Anzeichen“, so Beer. Obwohl die Suizidfälle in Deutschland seit den 80er Jahren stark zurück gegangen sind, ist die Zahl noch heute erdrückend hoch. Laut polizeilicher Kriminalstatistik (PKS Bayern) hat 2020 jeden zweiten Tag ein Kind oder Jugendlicher in Bayern versucht sich das Leben zu nehmen. Der Mediziner sieht dennoch eine positive Entwicklung, denn „lmmer mehr Kinder und Jugendliche lassen sich rechtzeitig behandeln.“
Therapieanfragen von Kindern und Jugendlichen im Vergleich zum Vorjahr um 60 Prozent gestiegen

Doch genau da liegt der Knackpunkt: Die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind dank der Corona-Maßnahmen und den damit verbundenen psychischen Leiden der zahllosen kleinen Patienten nämlich völlig überlastet. Deutsche Kinderärzte sprachen gar von einer Triage, das heißt wer „nur“ Depressionen hat und (noch) nicht akut suizidgefährdet ist, wird überhaupt nicht mehr aufgenommen (TE Berichtete). Auch der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie des LMU-Klinikums München, Gerd Schulte-Körne, sagte gegenüber der Abendzeitung, dass alle 40 Betten der Einrichtung „überbelegt“ seien. Die Anfrage nach Behandlungsplätzen habe extrem zugenommen, was selbst auf den Intensivstationen zu langen Wartezeiten geführt habe. Laut Schulte-Körner habe es so etwas früher nicht gegeben, der Mediziner und seine Kollegen ständen unter einem „wahnsinnigen Druck“.

Kinder und Alte als Opfer
Die Schwachen und Sensiblen leiden am meisten unter der Corona-Politik
Der nicht zu bewältigende Ansturm beschränkt sich leider auch nicht nur auf die stationären Behandlungsmöglichkeiten. Nach Angaben der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung (DPtV) ist die Zahl der (ambulanten) Therapieanfragen von Kindern und Jugendlichen im Vergleich zum Vorjahr um 60 Prozent gestiegen – mit durchschnittlich 3,7 im Vergleich zu 5,9 Patientenanfragen pro Woche ein noch höherer Anstieg als bei Erwachsenen (Anstieg von 5,2 auf 7,2). Laut Ärzteblatt könne man immerhin 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen innerhalb von zwei Wochen und mehr als der Hälfte innerhalb eines Monats ein Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten anbieten. Dabei wird aber verschwiegen, dass das Angebot eines Erstgesprächs nicht immer gleichbedeutend mit einem freien Therapieplatz ist. Zumindest im Erwachsenen-Bereich bringen viele Therapieanwärter diverse Erstgespräche hinter sich, bevor sie einen Platz bekommen oder die Suche aus lauter Frustration wieder aufgeben.

Die Lage für Kinder und Jugendliche ist also nicht nur in Bayern, sondern in ganz Deutschland prekär. Die Hoffnung auf ein normales Leben und damit auch auf eine normale Entwicklung ist letztlich auch an Inzidenzwerte und die ständige Angst geknüpft, dass morgen die vierte, fünfte oder sechste Corona-Welle oder eine neue Mutante über uns hereinbricht. Die sowieso schon weit verbreiteten psychischen Krankheiten – Depressionen, Angst- und Essstörungen – werden, wenn das so weitergeht, vermutlich auch unter den Kleinsten weiter zunehmen.


Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.

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