In den braven Medien des Landes liest es sich – wie üblich einheitlich einer einheitlichen Sprachregelung folgend – so wie bei n-tv oder Spiegel:
n-tv: »Ein Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums (BMI) hat auf eigene Faust eine Analyse zum Umgang der Bundesregierung mit dem neuartigen Corona-Virus erstellt und versendet – an einen großen Verteiler mit Empfängern sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Seehofer-Behörde. Pikant: Die Thesen des Papiers, das am Wochenende auf dem rechtskonservativen Blog „Tichys Einblick“ veröffentlicht wurde, widersprechen der Haltung des Ministeriums diametral.«
spiegel.de: »Das Bundesinnenministerium von Horst Seehofer (CSU) muss sich mit einem pikanten Vorgang im eigenen Haus beschäftigen. Ein Referent des Ministeriums hat, ohne dafür einen Auftrag bekommen zu haben, ein Papier zur Coronakrise verfasst – das im völligen Widerspruch zur Haltung des Ministeriums steht. Das gut 80 Seiten umfassende Papier soll er nach SPIEGEL-Informationen sowohl intern wie extern an einen großen Verteiler verschickt haben. Am Wochenende landete es dann auf der rechtskonservativen Seite „Tichys Einblick“ – wo der Referent als eine Art Whistleblower dargestellt wird.»
Tatsache ist, dass der Beamte seine Analyse unter den Augen zahlreicher Stellen des Bundesinnenministeriums erarbeit hat. Sein Verteiler reicht im BMI bis zum Leiter der Abteilung Öffentliche Sicherheit und umfasst gut 30 Personen, darunter allein neun im Krisenstab des BMI. Das Deckblatt weist aus, dass die verschickte Fassung 2.0.1 vom 7. Mai auf einer Fassung vom 25. April 2020 beruht. Der Referent hat also am
A U SW E R T U N G S B E R I C H T
des Referats KM 4 (BMI) – erstellt von ORR xxxx –
Coronakrise 2020 aus Sicht des Schutzes Kritischer Infrastrukturen
Auswertung der bisherigen Bewältigungsstrategie und Handlungsempfehlungen
über lange Zeit gearbeitet. Die Zahl der Personen und Stellen, die daran aktiv oder passiv beteiligt waren, ist also groß, wie jeder weiß, der einmal in einem Ministerium oder einer Behörde gearbeitet hat. Einen Eindruck vom Umfang der Analyse gibt das Inhaltsverzeichnis.
Nachstehend der Wortlaut des Schreibens, mit dem der Beamte die Analyse am 8. Mai verschickte:
KM 4 – 51000/29#2
Interne Analyse KM 4 ergibt:
gravierende Fehlleistungen des Krisenmanagements
Defizite im Regelungsrahmen für Pandemien
Coronakrise erweist sich wohl als Fehlalarm
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
hiermit übermittle ich Ihnen die Ergebnisse der Analyse des Corona-Krisenmanagements des Referats KM 4. – Kurzfassung + Aufstellung von gesundheitlichen Kollateralschäden siehe unten, Langfassung und Anlagenband in Anlagen 1 und 2 –
Im Vorgriff auf eine nach der Krise zu unternehmende Evaluation hat KM 4 über die letzten Wochen krisenbegleitend eine intensive Analyse und Auswertung des Krisenmanagements aus der Perspektive der hiesigen Zuständigkeit für den Schutz Kritischer Infrastrukturen vorgenommen. Dabei wurden schwerwiegende Defizite im Regelungsrahmen für Pandemien diagnostiziert sowie Fehlleistungen im handwerklichen doing des Krisenmanagement. Die beobachtbaren Wirkungen und Auswirkungen von COVID-19 lassen darüber hinaus keine ausreichende Evidenz dafür erkennen, dass es sich – bezogen auf die gesundheitlichen Auswirkungen von Covid-19 auf die Gesamtgesellschaft – um mehr als um einen Fehlalarm handelt.
Sie erhalten diese Information vorab mit der Bitte um Kenntnisnahme und Weitergabe.
Mit freundlichen Grüßen
In Vertretung
xxxxxxxxxxx
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Referat KM 4: Schutz Kritischer Infrastrukturen Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat
Die Verschickung der Analyse hat einen Vorlauf im Ministerium. Seine erste Fassung schickte Referent K. am 23. März um 10:05 Uhr an seinen Referatsleiter und wenige Kollegen. Bereits um 11:09 am selben Tag fragt er seinen Vorgesetzten per Mail:
Frage zum weiteren Verfahren: Ist dieser Zwischenbericht aus Ihrer Sicht am besten in der Akte aufgehoben, oder sollte damit irgendetwas geschehen (z.B. Verteiler zur Kenntnisnahme)?
Gruß
K.
Am 25. März 2020 schreibt K. an einen kleineren Verteiler mit dem bemerkenswerten Wortlaut:
Unten stehender erster Zwischenbericht wurde in Referat KM4 (genauer: von mir) in eigener Zuständigkeit für „Grundsatzfragen des Schutzes Kritischer Infrastrukturen“ erstellt und sollte m.E. den im strategischen Krisenmanagement tätigen sowie der Hausleitung/Leitungsebene und dem Planungsreferat G zur Kenntnis gegeben werden.
Ich bitte um Mitteilung, ob und in welcher Form das geschehen kann.
Herr XXXX hat mich gebeten, mit diesem Anliegen unter meinem Namen und nicht im Namen von KM4 zu agieren, da er den dienstlichen Bezug nicht sieht.
Bitte bilden Sie sich selbst eine Meinung.
Der mit XXXX ersetzte Namen ist der des Referatsleiters des Referenten K. Der Vorgesetzte sieht keinen „dienstlichen Bezug” und fordert seinen Untergebenen praktisch auf, „privatdienstlich” zu handeln? Jedenfalls hindert er K. nicht, in der Sache weiter tätig zu sein. Ja, Referatsleiter XXXX verschickt die frühe Fassung der Analyse selbst an einige Kollegen weiter mit diesen vielsagenden Worten:
Nur zK, ggf. beratendes Feedback
Mit freundlichen Grüßen
XXXX, KM 4
Nachdem Referent K. die Schlussfassung seines Berichts Coronakrise 2020 aus Sicht des Schutzes Kritischer Infrastrukturen verschickt hatte, ging diese Mail am 8. Mai 2020 um 15:27 hinaus:
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
in Absprache mit AL KM darf ich Sie bitten, die unten stehende Mail samt Anlagen und deren Inhalte als gegenstandslos zu betrachten.
Die Versendung erfolgte ohne Absprache mit der Referats-, Stabsbereichs- oder Abteilungsleitung.
Mit freundlichen Grüßen
YYYY
Leiter Stabsbereich 4
Gemeinsamer Krisenstab BMI und BMG
Ein intimer Kenner des BMI und des ganzen Staatsapparates schreibt uns:
BMI tut so, als wäre der Bericht eine private Meinung eines Mitarbeiters unter missbräuchlicher Verwendung des Briefkopfs. Zu Ihrer Info meine Einschätzung: Wenn ich es richtig sehe, war Herr K. für das Thema durchaus zuständig (er war nicht Mitarbeiter zB der Sportabteilung) und als stv Referatsleiter (Oberregierungsrat) durfte er nach Para 17 Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesminsterien grds alle seine Schreiben an die Länder und Ressorts schlusszeichnen. Eine andere Frage ist, ob er vorher intern wegen der politischen Bedeutung die Zustimmung hätte einholen müssen, aber das ändert letztlich nichts am Charakter, dass es ein offizielles BMI-Schreiben und kein privates Schreiben unter falschem Briefkopf ist.
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Der Redaktion von TE liegt weiterer Mail-Wechsel vor, der zeigt, dass diverse höherrangige Beamte weder Zeit fanden noch Lust hatten, den langen Bericht zu lesen und den offensichtlich in der Sache besonders kundigen und engagierten Referenten K. einfach am ebenso langsamen wie unsensiblen bürokratischen Schneckengang scheitern ließen. Bis er es nicht mehr aushielt, dass seine Analyse von höchster Brisanz für das Leben von Unzähligen versandet, und er zur Tat schritt.
Früher einmal gab es ein Magazin namens Spiegel, das diesem dramatischen Stoff längst mit seiner ganzen Mannschaft nachgegangen wäre und daraus einen Titel gemacht hätte, der das Zeug zu einem besonders großen Verkaufserfolg gehabt hätte. Jetzt betet das Magazin brav nach, was das Bundesinnenministerium vorspricht. Auf die Idee, die Behauptung des Ministeriums kritisch zu hinterfragen, kommt kein Redakteur – weder bei SPIEGEL, FOCUS oder dpa. Die Aussage des Ministeriums wird widerspruchslos und unkritisch transportiert. Das Ironische an der Sache:
Der Verfasser hat das vorausgesehen. Der Totalausfall der kritischen Presse ist Teil des von ihm konstatierten Systemversagens. Hier seine Erklärung:
„Die nahezu durchgängige positive Resonanz der Medien insbesondere auf jegliche Aktivität der Bundeskanzlerin, egal was sie gerade ankündigte und wie und mit welchem Timing sie ihre Haltung zu bestimmten Fragen als alternativlos darstellte oder auch änderte, bestätigt leider negative Vorurteile über die Presse. Als Korrektiv für Fehlentwicklungen z.B. in einem suboptimalen Krisenmanagement scheint der übergroße Teil der (freien) Presse mehr oder weniger unbrauchbar. Aus gesamtstaatlicher Sicht muss das als Warnsignal angesehen werden. Es empfiehlt sich sehr, bei künftigen Anpassungen der rechtlichen oder Rahmenbedingungen auf eine wieder größere Unabhängigkeit und Kritikfähigkeit hinzusteuern. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Presse die Regierung geschlossen massiv einseitig und ungerecht kritisierte, und durch ihren Einfluss eine politische Machtveränderungen einfach auslösen könnte, dürfte gegen null gehen. Die Gefahr, dass die Bevölkerung alles glaubt, was sie von den meisten Medien serviert bekommt, und sich dies unkritisch zu eigen macht, liegt sehr hoch.
Die Leitmedien und vor allem die öffentlich Rechtlichen scheinen sich offenbar überwiegend als Überträger der als gemeinsam angesehenen Grundpositionierungen der dominierenden politischen Richtung auf die Bevölkerung zu sehen.“
Weitere Teile der Analyse folgen. TE liegt das ganze Dokument inklusive umfangreicher Anlagen vor.