Anfang August durchbrach der langfristige Börsenstrompreis für Deutschland zum ersten Mal die Grenze von 400 Euro pro Megawattstunde. Der sogenannte Year-Ahead-Preis gilt für den Großhandelsbezug von elektrischer Energie im Zeitraum der nächsten 12 Monate – also bis August 2023. Das bedeutet: eine Verzehnfachung der Stromkosten im Vergleich zu den vergangenen Jahren. Der Durchschnittspreis für eine Megawattstunde lag zwischen 2010 und 2020 bei 41,1 Euro. Die mittelfristigen Börsenstrompreise besitzen eine große wirtschaftliche Bedeutung nicht nur für Privatverbraucher. Industrieunternehmen kalkulieren damit ihre Energiekosten für die nähere Zukunft.
Die extrem hohen Strompreise werden noch nicht durch einen echten Mangel verursacht. Es handelt sich zum einen um ein Marktsignal – also die Befürchtung, es könnte tatsächlich zu Engpässen in der Stromversorgung kommen, wenn zum Jahresende 2022 tatsächlich die verbliebenen drei deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet würden. Für diesen Fall sichern sich offenbar viele Versorger und Unternehmen jetzt schon langfristig Stromkontingente. Zum anderen verheizt Deutschland zur Stromerzeugung derzeit so viel Kohle wie schon lange nicht mehr, da die Erdgaspreise stark angestiegen sind, aber auch wegen der Unsicherheit, ob die Gasversorgung aus Russland weitergeführt wird.
Schon im ersten Quartal 2022 lieferte Kohle mit 31,5 Prozent so viel Strom wie kein anderer Energieträger – und 12,5 Prozent mehr als noch im ersten Quartal 2021. Derzeit gehen weitere Kohlekraftwerke aus der Reserve wieder ans Netz, etwa das Steinkohlekraftwerk Mehrum in Hohenhameln. Auch über eine Rückkehr des stillgelegten Hamburger Steinkohlekraftwerks Moorburg debattieren zurzeit Politiker in der Hansestadt – Wirtschaftssenator Michael Westhagemann (parteilos) zeigte sich dafür offen.
Bis jetzt gibt es innerhalb der Ampelkoalition zwar eine heftige Debatte darüber, die verbliebenen drei Atommeiler über den 31. Dezember 2022 hinaus am Netz zu halten. Bei seinem Besuch im Werk von Siemens Energy in Erlangen sagte Bundeskanzler Olaf Scholz, er sei „offen“ für einen Weiterbetrieb der Anlagen. Konkrete Schritte dazu fehlen allerdings noch. Um die Laufzeit der drei Kraftwerke zu verlängern, müsste das Atomgesetz geändert und die Stromerzeugungsgenehmigung für die Zeit nach Jahresende 2022 erteilt werden.
Bis jetzt erklärt sich ein Teil der Grünen nur mit einem sogenannten Streckbetrieb der Anlagen einverstanden, also einer langsameren Verwertung der Brennelemente – was aber gleichzeitig die Stromproduktion der Kernkraftwerke drosseln würde. Den Einsatz neuer Brennstäbe, der dann spätestens im Frühjahr 2023 nötig würde, schließt die Führung der Grünen nach wie vor kategorisch aus.