Tichys Einblick
Streik der Ärzte

„Unseren Patienten drohen Wartelisten“

Karl Lauterbach gibt gerne Geld aus: Für Gesundheitskioske oder für Impfstoffe, die dann vernichtet werden müssen. Doch die Arztpraxen lässt der Gesundheitsminister sterben. Der große Verlierer sind arbeitende Menschen.

IMAGO / Christian Ohde

Arbeitnehmer kennen den klassischen Besuch beim Hausarzt, wenn die Grippesaison begonnen hat: Fieber, Husten und Gliederschmerzen. Diese drei Symptome aufzuzählen, kostet den Patienten zwischen einer halben und zwei Stunden. Wobei er die meiste Zeit davon im Wartezimmer verbringt. Den Arzt sieht er nur für wenige Minuten – eben um diese Symptome zu schildern. Wäre es nicht für den Krankenschein, würden sich viele Arbeitnehmer diese „Behandlung“ ganz sparen.

Dass die Situation in den Praxen so ist, liegt am deutschen Gesundheitssystem: Würde der Arzt den Patienten länger behandeln, ginge das von seinem Gehalt ab. Mitunter kosten ihn die drei Minuten für das Abfragen der Symptome und Ausstellen des Krankenscheins sogar eigenes Geld. Das kommt von den Fallpauschalen:

Für jede Behandlung kriegt der Arzt eine gewisse Summe von den Krankenkassen. Die bleibt gleich hoch, egal ob der Arzt den Grippepatienten schnell durchwinkt, oder ob er überprüft, ob sich hinter den Symptomen nicht doch etwas anderes, Schlimmeres verbirgt. Außerdem sind die Fallzahlen gedeckelt. Hat der Arzt mehr Grippepatienten behandelt, als die gesundheitliche Planwirtschaft vorgesehen hat, ist jede weitere Behandlung umsonst. Für die Krankenkassen. Denn dann bezahlt sie der Arzt – mit seiner Zeit und mit den Kosten für Miete, Gerät und Sprechstundenhilfen.

Dieses System ist unfair, klagen die Ärzte. Zudem ist die Höhe der Fallpauschalen nicht so stark gestiegen wie die Konjunktur und die Löhne in den Krankenhäusern. In der Folge gehe es den niedergelassenen Ärzten schlechter, als wenn sie als Oberarzt in einer Klinik arbeiten würden – und viele Praxen seien vom Aus bedroht. Deswegen haben die Ärzte an diesem Montag zu einem Streik aufgerufen und Praxen vorrübergehend geschlossen.

„Unseren Patienten drohen Wartelisten und der Arztberuf ist bedroht wie nie“, schildert der Spitzenverband Fachärzte Deutschlands die jetzige und die kommende Situation. Die ambulante Versorgung der Patienten sei in „schwerem Fahrwasser“. Hinzu kämen strukturelle Probleme: Fachkräftemangel, die überbordende Bürokratie und eine Digitalisierungsstrategie, die Praxen mehr belaste, als schone. Der Spitzenverband spricht von einer „insuffizienten“ Strategie. Das heißt: Wäre die Digitalisierung in den Praxen ein Herz, wäre der Patient tot.

Lösungen für die strukturellen Probleme seien derzeit seitens der Politik nicht in Sicht, sagt Dr. Dirk Heinrich, Vorstandsvorsitzender des Spitzenverbandes: „Unser Arztberuf, insbesondere der in freier Praxis, ist bedroht wie nie. Und was macht die Politik?“ Aus dem Hause Lauterbach komme anstelle dringend benötigter Reformen und einer Stärkung der bestehenden Strukturen ein „Gesundheitsversorgungsgesetz“. Dieses sieht den Aufbau von Gesundheitskiosken vor. Die haben wiederum die Aufgabe, medizinische Leistungen zu Menschen zu bringen, die mit dem Besuch eines Arztes intellektuell überfordert sind. Karl Lauterbach (SPD) will tausend Kioske aufbauen – der Gesundheitsminister sieht also offensichtlich eine große Menge Menschen in Deutschland leben, die schon mit dem Besuch eines Arztes intellektuell überfordert sind.

Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung sieht in Lauterbach den Grund dafür, dass keine Besserung der Lage der Praxen in Sicht ist. „Mit der Fortsetzung der aktuellen Politik von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wird es die qualitativ hochwertige haus- und fachärztliche Versorgung, die von allen wertgeschätzt wird, in der jetzigen Form nicht mehr lange geben“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Kassenärzte, Dr. Andreas Gassen. Als Beispiel nennt der Verband die Digitalisierung. Statt mit dieser die Praxen von der Bürokratie zu entlasten, drohe er diesen mit Sanktionen wie Bußgeldern, falls sie Lauterbachs Pläne nicht umsetzen, wie er das will.

Obwohl die Praxen nach Auskunft der Ärzte unterfinanziert sind, kommen auch die Krankenkassen nicht mit ihrem Geld aus. Die Innungskrankenkassen (IKK) gehen von einer weiteren Welle an Beitragserhöhungen zum Jahresanfang aus. Die Mitgliederversammlung des IKK-Dachverbands hat daher eine Resolution verabschiedet: Der „Reformstau im Gesundheitswesen“ müsse beendet werden. Die Ampel müsse nun endlich die Projekte angehen, die sie in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt hat.

„Mir ist unbegreiflich, warum die vom Gesetzgeber im Rahmen des GKV-Finanzstärkungsgesetz geforderten Eckpunkte für eine stabile Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung dem Parlament noch immer nicht vorliegen“, sagt der Vorstandsvorsitzende des IKK-Dachverbandes, Hans Peter Wollseifer. Als einen wesentlichen Grund dafür nennt Wollseifer die „versicherungsfremden Leistungen“. Also Kosten, die die Kassen tragen, obwohl dahinter gesellschaftliche Aufgaben stehen.

10 Milliarden Euro hat der Staat im vergangenen Jahr zum Beispiel zu wenig für die Gesundheitsversorgung der Menschen bezahlt, die Transfergeld von ihm erhalten. Also vor allem Bürgergeld. Wie hoch die Summe dieses Jahr sei, wollte TE von dem Dachverband der gesetzlichen Krankenkassen wissen. Das stehe noch nicht fest, wich der aus. Die Zahl scheint unbequem hoch zu sein.

Die Hintergründe bringen gesellschaftlichen Sprengstoff mit sich: Die arbeitenden Menschen zahlen für nichtarbeitende Menschen nicht nur die komplette Wohnung und das „Bürgergeld“, das die Ampel innerhalb eines Jahres um 25 Prozent erhöht hat. Sie übernehmen mit ihren Kassenbeiträgen auch noch deren Gesundheitsbehandlung. Dafür müssen sie sich im Gegenzug an den Kosten von eigenen Behandlungen beteiligen. Die Menschen, die arbeiten, wohlgemerkt. Die Menschen, die nicht arbeiten, müssen das nicht.

Die Versorgung wird sich weiter verschlechtern, warnt der Spitzenverband der Ärzte. Gehe Lauterbach nicht auf ihre Forderungen ein, werde es Zukunft nicht möglich sein, eine „zeit- und wohnortnahe Versorgung von Patientinnen und Patienten zu gewährleisten“. Für Termine bei Fachärzten müssten Arbeitnehmer mit langen Wartezeiten rechnen. Neue Patienten würden die Praxen nicht mehr annehmen. Stattdessen gibt es dann Lauterbachs Gesundheitskioske für Menschen, für die der Besuch eines Arztes bisher eine nicht zu bewältigende intellektuelle Leistung bedeutet.

Der Weg zum Krankenschein wird für kranke Arbeitnehmer weiter. Um drei Symptome schildern zu können, werden sie dann bald vier Stunden oder mehr warten müssen. Wenn sie überhaupt noch eine Praxis aufnimmt. Im Gegenzug dürfen sie dann zum Jahresbeginn schon wieder höhere Beiträge zahlen. Unter der Verantwortung der Ampel – vor allem unter der von Karl Lauterbach – sind arbeitende Menschen die großen Verlierer.

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