Im Bundesfinanzministerium arbeiten Menschen mit einem besonderen Humor: Sie glauben, dass ein Ehepaar in Deutschland für 423 Euro (Stand 2018) eine 60 Quadratmeter große Wohnung mieten kann (7,04 Euro pro Quadratmeter) und schreiben diese Zahlen auch noch in eine Vorlage für den Bundestag. In den 423 Euro sind schon Nebenkosten enthalten (Bruttokaltmiete). Dass die Mieten steigen, ist natürlich auch dem Finanzministerium nicht verborgen geblieben, und so hat man die Zahl brav fortgeschrieben: 2022 soll so eine Wohnung für 460 Euro zu haben sein. Wenn diese Beamten ihr Wolkenkuckucksheim in der Berliner Wilhelmstraße jemals verlassen und sich auf dem örtlichen Markt umgesehen hätten, hätten sie lernen können, dass eine 60-Quadratmeter-Wohnung in der Hauptstadt im ersten Quartal 2018 bei Neuvermietung für durchschnittlich 9,43 Euro pro Quadratmeter (565,80 Euro, ohne Nebenkosten) angeboten wurde. Auch die Bestandsmieten sind real erheblich höher als 7,04 Euro pro Quadratmeter.
Dass sich das Finanzministerium die Wohnkosten günstig rechnet, hat einen offensichtlichen Grund: Das steuerfreie Existenzminimum, das jedermann zusteht, soll nicht zu hoch ausfallen, weil dies andernfalls zu erheblich geringeren Staatseinnahmen führen würde. Also werden Schrauben gedreht, um zufür die Staatskasse günstigeren Ergebnissen zu kommen. Zur Freistellung dieses Existenzminimums bei Erwachsenen und Kindern war der Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht verpflichtet worden. Wie das Haus von Minister Olaf Scholz (SPD) im 13. Existenzminimumbericht (Bundestagsdrucksache 19/22800) schreibt, „muss dem Steuerpflichtigen nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld von seinem Erworbenen zumindest so viel verbleiben, wie er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und … desjenigen seiner Familie bedarf“.
Das Finanzministerium weiß selbst sehr wohl, dass die Mieten zu niedrig angesetzt sind und behauptet: „Die Orientierung an einem unteren Wert hinsichtlich der steuerlich zu berücksichtigen Wohnkosten ist verfassungsrechtlich zulässig.“ Für Leute, deren Nettoeinkommen für die Miete nicht reicht, hält das Finanzministerium einen Tipp bereit: „Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Bezieher niedriger Erwerbseinkommen zur Verringerung ihrer Wohnkosten nach Maßgabe des Wohngeldgesetzes Anspruch auf Wohngeld haben.“ Das ist Steuersozialismus pur: Erst den Arbeitnehmern das Geld abknöpfen und sie dann, wenn das Nettogehalt nicht mehr reicht, zum Amt zu schicken, wo sie um Zuschüsse betteln müssen.
Nicht nur am Grundfreibetrag, sondern auch beim steuerfreien Existenzminimum für Kinder beziehungsweise dem Kindergeld gibt es Indizien für Phantasiepauschalen, die der Wirklichkeit nicht standhalten. Mit dem Zweiten Familienentlastungsgesetz wurden neben den Grundfreibeträgen auch Kindergeld und Kinderfreibeträge angehoben. Das Kindergeld steigt 2021 um 15 auf 2019 Euro, der steuerliche Kinderfreibetrag steigt von 5.172 Euro um 288 Euro auf 5.460 Euro. Welche Annahmen für die Steuerfreiheit von Kosten für Kinder zugrundeliegen, zeigt Seite 7 des Existenzminimumberichts, wo „monatlich 3 Euro für Ausflüge von Kindern in Schulen und Kindertageseinrichtungen sowie monatlich 15 Euro für gesellschaftliche Teilhabe, das heißt für die Teilnahme an Freizeitgestaltungen wie insbesondere die Mitgliedschaft in Vereinen“ als ausreichend angesehen werden. Die „Teilhabe“ reicht gerade für die Mitgliedschaft in einem Sportverein, die meist zehn bis zwölf Euro im Monat kostet; kommt ein Besuch im Berliner Tierpark mit sieben Euro Eintritt für ein siebenjähriges Kind hinzu, wird das steuerfrei Budget bereits überzogen. Das Zweite Familienentlastungsgesetz und die Kindergelderhöhungen von 25 Euro in dieser Legislaturperiode seien eine tolle Leistung, erklärte der CDU-Abgeordnete Johannes Steiniger bei der Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag am 29. Oktober. Auch Steiniger ist Humor nicht abzusprechen.