Tichys Einblick
Verharmlosung des Totalitären

„Stalins geistige Groß-Neffen sind unter uns“

Eine Restauration des Sozialismus in Russland sei nicht möglich, sagte Staatschef Putin erneut auf seiner Pressekonferenz. Anders in Deutschland. Hier lebt, vor allem in Politik und Medien, manches kommunistische Ideal noch fort.

JOHN MACDOUGALL/AFP/Getty Images

Heute vor 66 Jahren starb Iosif Stalin. Er, einer der mächtigsten Männer der Welt, vor dem nicht nur sein ganzes Land und selbst seine nächsten Getreuen zitterten, lag nach einem Schlaganfall stundenlang sprachlos im eigenen Urin. Keiner seiner Getreuen kam ihm zur Hilfe – im Gegenteil, sie verhinderten de facto, dass ein Arzt gerufen wurde. Sie hatten ihre Gründe.

Stalins Körper ist begraben, doch sein Geist ist erschreckend untot. Nicht nur in Russland, wo wieder Denkmäler für ihn errichtet werden – leider auch in Deutschland: Das gigantische Ausmaß seiner Verbrechen ist hierzulande vielen nicht bewusst. Selbst in der „ZEIT“ war im November ein Aufruf zu lesen, die DDR-Vergangenheit „lässiger“ zu betrachten“. Die Bundeskanzlerin adelte die Autorin und ihre These kurz danach gar mit einer Audienz – was für eine Symbolik.

Die Amadeu Antonio Stiftung organisierte im Februar ein „Fachtagung“ zum Thema – steuerfinanziert und de facto unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dabei sei es, so argwöhnen Kritiker, um den Versuch eines „Schlussstriches“ gegangen – darum, die Aufarbeitung des Unrechts und der Verbrechen des kommunistischen Regimes endgültig zu beenden. Das offizielle Motto der Tagung: „Der rechte Rand der DDR-Aufarbeitung“. Das erinnert an die alte Methode von Stalin und seinen Nachfolgern, Kritik an ihrem unmenschlichen Regime als rechts bzw. faschistisch zu diskreditieren. Diese Methode droht nun, quasi postum, erneut angewandt zu werden. Besonders pikant: Stiftungs-Chefin Anetta Kahane hat schon in der DDR als IM der Stasi Andersdenkende, die sie bespitzelte, als „rechts“ denunziert („reaktionäre und spießige, in politischer Hinsicht ordinäre und aggressive Personen“).

So weit gehen die Versuche der Verharmlosung der DDR, dass der Historiker Klaus-Rüdiger Mai bereits einen „staatlich geförderten Geschichtsrevisionismus“ diagnostiziert. Ein der Grundlagen der Verharmlosung ist die Verschleierung der Tatsache, dass die DDR ein Geschöpf Stalins war und Teil seiner gigantischen Verbrechensmaschinerie. In Berlin wird das schon an den Schulen nur noch unzureichend erklärt. Eine Achtklässlerin aus einem Charlottenburger Gymnasium und politisch interessiertem, eher konservativem Elternhaus war kürzlich völlig erstaunt, als ich ihr eröffnete, dass nicht Hitler, sondern die Sozialisten die Berliner Mauer gebaut hatten. Von deren Unrecht wusste sie nichts. Auch die „DDR“ konnte sie nur vage einordnen. Dafür hatte sie in der Schule gelernt, dass alle AfD-Wähler Nazis sind.

Bis heute werden die unvorstellbaren Verbrechen Hitlers und der Nazis von vielen missbraucht, um Stalins Verbrechen zu relativieren. Wer das tut, verhöhnt zynisch die Opfer beider Systeme. Es handelt sich dabei um eine Art historischen Hütchenspieler-Trick: Allein der Gedanke, Terrorherrschaft und Massenmorde gegeneinander abzuwägen, ist bei nüchterner Betrachtung abwegig. In Stalins Sowjetunion kamen geschätzt 20 Millionen Menschen durch kommunistische Gewaltherrschaft ums Leben, weltweit bis zu 100 Millionen. Versuche, das durch andere Verbrechen zu verharmlosen, sind obszön.

Dass so viele auf dem linken Auge blind sind, was den Totalitarismus angeht, ist eines der größten Probleme der deutschen Gesellschaft. Während Rechtsradikalismus hierzulande Gott sei Dank geächtet ist, wird Linksradikalismus von vielen beschönigt. Sozialdemokraten wie Stegner reden ihn schön („Gewalt ist nicht links“), Berlins Innensenator Geisel (SPD) sagt öffentlich, er sehe kein Problem damit, mit Linksradikalen gemeinsam zu demonstrieren. Sahra Wagenknecht ist eine der bekanntesten Politikerinnen in Deutschland und gern gesehener Dauergast in Talkshows – obwohl sie sich nie glaubwürdig von ihren früheren lobenden Worten für den Massenmörder Stalin distanziert hat. Der Linksdrall spiegelt sich selbst in unserem Wortschatz wieder: „Links“ ist cool, „rechts“ wird mit rechtextrem gleichgesetzt und ist ein Schimpfwort.

Nachdem die Aufarbeitung der NS-Diktatur jahrzehntelang verbrecherisch schleppend verlaufen ist, müssen wir uns gegen die Verklärung der DDR-Diktatur wehren. Wir müssen am rechten wie am linken Rand gleichermaßen wachsam sein. Wir müssen zurückdenken an die Worte des großen Sozialdemokraten Kurt Schumacher, der zehn Jahre in Hitlers Konzentrationslager einsaß. Er nannte Stalins Kommunisten „rot lackierte Nazis“.

Die Partei „Die Linke“ hat sich nie auch nur halbwegs überzeugend von ihrer SED-Vergangenheit distanziert. Im Gegenteil. Sie ist nicht nur Nachfolgerin der SED, die unter Stalin gegründet wurde. Der „Linke“-Bundesschatzmeister Karl Holluba erklärte an Eides Statt vor dem Berliner Landgericht: „,Die Linke‘ ist rechtsidentisch mit der ,Linkspartei.PDS‘, die es seit 2005 gab, und der PDS, die es vorher gab, und der SED, die es vorher gab.“.

Unter der SED-Herrschaft wurden Sozialdemokraten nach dem Krieg in die alten Konzentrationslager eingesperrt. Dass die SPD heute mit dieser Partei, die einst ihre Mitglieder derart peinigte, koaliert, ist eine Schande für die einst große Sozialdemokratie. Dass die umbenannte SED heute gerne gesehener Partner im „Kampf für die Demokratie“ und „Kampf gegen Rechts“ ist, ist an Geschichtsvergessenheit kaum zu überbieten. Es zeigt, wie massiv unser demokratischer Kompass mittlerweile verstellt ist.

In Russland erstreckt sich die staatlich geförderte Stalin-Nostalgie ausschließlich auf dessen Machtmethoden, seinen Nationalismus und rot getarnten Imperialismus – aber nicht auf dessen kommunistische Ideologie. Die ist im heutigen Russland bis auf einen eher geringen Prozentsatz Ewiggestriger verpönt. Auch Putin erteilte ihr im Dezember wieder einmal öffentlich eine Absage: Eine Restauration des Sozialismus in Russland sei nicht möglich, sagte der Staatschef auf seiner Pressekonferenz.

Anders in Deutschland. Hier lebt, vor allem in Politik und Medien, manches kommunistische Ideal noch fort. Stalins und Lenins Maxime war die Schaffung eines neuen Menschen, einer neuen Gesellschaft, von oben herab, mit Gewalt und Umerziehung, aus der festen Überzeugung heraus, Moral und Erkenntnis auf der eigenen Seite zu haben. Viele Politiker und Journalisten haben gegen diese wohlklingende Wahnvorstellung keine ähnliche Immunität entwickelt wie gegen den Faschismus. Im Gegenteil: Sie hegen für solche Ideen durchaus Sympathien. Sie fühlen sich im Besitz von Wahrheit und wollen die Gesellschaft nach ihren realitätsfremden Idealen von oben herab modellieren.

Stalin sagte einst sinngemäß, je näher man dem Kommunismus kommt, umso mehr Feinde und Kategorien von Feinden entstehen, die es zu bekämpfen gilt. Feindbilder, die Verunglimpfung von Andersdenkenden und die ständige Jagd auf Andersdenkende waren eine der Säulen, die den brüchigen Sozialismus hielten, und von den massiven Missständen ablenkten. Wer auch nur in den Verdacht geriet, ein „Volksfeind“ zu sein – also eine andere Meinung zu haben, wurde unter Stalin „liquidiert“, wie das Morden vornehm genannt wurde. Davon sind wir heute Welten entfernt. Aber wir müssen auch den (Wieder-)Anfängen wehren: Es kann nicht angehen, dass Andersdenkende wieder als (Volks-)Feinde (neudeutsch: „Nazi“) diffamiert werden und ausgegrenzt – wenn etwa dem Kind eines AfD-Politikers die Aufnahme in eine Schule verweigert wird und Journalisten das beklatschen, um nur eines von zahlreichen Beispielen zu nennen.

Hätte mir in den knapp16 Jahren, die ich in Russland lebte und arbeitete, irgend jemand gesagt, dass in Deutschland im 21. Jahrhundert wieder solche Gefahren auftauchen könnten – ich hätte ihn für verrückt erklärt. Ich habe im Land Lenins und Stalins die unglaublichen Verwerfungen, die ihre Gewaltherrschaft auslöste, fast täglich am eigenen Leib gespürt. Russland wird an der Vergiftung der Gesellschaft durch fast 70 Jahre kommunistische Diktatur noch lange zu tragen haben.

So bitter es ist und so schwer es fällt, das auszusprechen: Stalins geistige Groß-Neffen sind unter uns. Sie sind eine verschwindend kleine Minderheit – aber umso lautstarker und tonangebender. Die Mehrheit, die Mitte, muss endlich deutlicher ihre Stimme erheben und sich wehren gegen ihre Versuche, unsere Gesellschaft mit realitätsfremder Ideologie umzubauen und zu vergiften. Gegen ihre Versuche, Andersdenkende mundtot zu machen, zu stigmatisieren. Freiheit, Pluralität und Demokratie sind kein Naturzustand – sie müssen erkämpft werden. Jeden Tag aufs Neue. Wir sind es den Opfern Stalins schuldig, diese Lehre aus seinem Terror zu ziehen.

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