Derzeit steht der thüringische AfD-Vorsitzende Björn Höcke vor dem Landgericht Halle/Saale, weil er bei einer Rede in Merseburg im Mai 2021 den Satz sagte: „Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für Deutschland.“ Das, so die Anklage, sei ein Verstoß gegen Paragraf 86 a des Strafgesetzbuchs, der die Verwendung verfassungsfeindlicher Parolen und Symbole sanktioniert.
Bei der Wendung „Alles für Deutschland“ handelte es sich um den Slogan der SA. Die Staatsanwaltschaft und ein großer Teil der Medien unterstellen Höcke, er müsste über dieses historische Detail Bescheid gewusst haben. Die „Tagesschau“ setzte in ihrem Bericht schon sprachlich den entsprechenden Rahmen, indem sie suggerierte, die Formulierung nehme automatisch Bezug auf Hitlers Sturmabteilung: „In einer Rede in Merseburg in Sachsen-Anhalt“, heißt es bei der ARD-Nachrichtensendung, „soll Björn Höcke im Mai 2021 die verbotene Parole ‚Alles für Deutschland!‘ der Sturmabteilung (SA) verwendet haben, der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP.“
Höcke tritt als Spitzenkandidat seiner Partei zur Landtagswahl in Thüringen am 1. September 2024 an. Eine Verurteilung könnte möglicherweise dazu führen, dass ihm die Wählbarkeit zum Landtagsabgeordneten entzogen wird – was das Ende seiner parlamentarischen Karriere bedeuten würde.
Für das Verfahren stellen sich zwei Fragen: Ist „alles für Deutschland“ – und zwar nicht als separater Satz, sondern wie in der Höcke-Formulierung als Teil einer längeren Aussage – überhaupt strafbar? Und zweitens: Sind diese drei Worte überhaupt hinreichend öffentlich als SA-Kampfruf bekannt? Denn auf diese Bekanntheit kommt es an, der Sinn des Paragraf 86 a besteht schließlich darin, die Verwendung von NS-Symbolik zu propagandistischen Zwecken zu verhindern. Für den SPIEGEL liegt der Fall klar: „alles für Deutschland“ überschreite „die Grenzen des Sagbaren“ – und es sei wegen des NS-Bezugs, den das Magazin für eindeutig hält, verboten, die Formulierung zu benutzen.
Das heißt: Ganz so klar war es bis vor kurzem auch im Hamburger Demokratiesturmgeschütz nicht. In der Ausgabe 37/23 am 8. September 2023 erschien ein Kommentar von Stefan Kuzmany zum „Deutschland-Pakt“ der Bundesregierung unter genau dieser Zeile: „Alles für Deutschland“. Später änderte das Magazin die Überschrift.
Übrigens begab sich auch die Regierung von Olaf Scholz mit der Wortwahl „Deutschland-Pakt“ auf historisch dünnstes Eis. Denn exakt so hieß das Wahlbündnis zwischen den rechtsextremen Parteien NPD und DVU im Jahr 2005.
„Alles für Deutschland“ tauchte schon einmal als SPIEGEL-Headline auf: nämlich in der Ausgabe 42/1952 als Überschrift für einen Text über eine paramilitärische Untergrund-Gruppe – aber auch hier ohne Bezug zur SA.
Die Wendung „Alles für Deutschland“ verwendete sehr viel später auch schon die CSU-Politikerin Dorothee Bär öffentlich.
Während der Fußball-WM 2006 lautete der via BILD-Zeitung popularisierte Anfeuerungsruf von Frank Beckenbauer vor dem Spiel Deutschland–USA: „Gebt alles für Deutschland!“
Der in Halle inkriminierte Satz prangte außerdem unbeanstandet mehr als 80 Jahre lang an dem Gebäude der Freiwilligen Feuerwehr Jänschwalde, bevor er 2021 entfernt wurde. Der „Tagesspiegel“ kommentierte damals, die Inschrift sei „jahrzehntelang keinem aufgefallen“. Im Titelschutz-Recht sprechen Juristen von der Verwässerung“ einer Formulierung: Handelt es sich um eine sehr allgemeine und alltagssprachliche Aussage, die schon häufig verwendet wurde, kann niemand die Rechte daran beanspruchen. In dem Verfahren gegen Höcke geht es zwar um Strafrecht. Aber auch hier dreht sich alles um die Frage: Lässt sich ein Satz mit einer sehr allgemeinen Aussage, den schon viele in den Mund genommen hatten, so eindeutig mit der SA verbinden?
Die Argumentation der Staatsanwaltschaft wie die vieler Medien lautet: Es komme immer auf den Kontext an. Höcke, so die Beweisführung, sei eben ein rechtsextremer Politiker, also müsse die Formulierung bei ihm eben anders bewertet werden, als wenn ein SPIEGEL-Journalist sie verwendet. Das würde bedeuten: Die Strafbarkeit hängt nicht von der Tat selbst ab, sondern davon, wer sie begeht.
Das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz würde damit enden.