Neues Spiel, neues Glück: So scheint man in der EU das Steckenpferd Chatkontrolle zu betrachten. Während Vorstöße vor dem Sommer zur Einführung der Massenüberwachung im digitalen Raum noch scheiterten, versucht man es in der neuen Legislaturperiode einfach wieder. Denn: In einigen Ländern, die bislang die Sperrminorität stellten, formierten sich ebenfalls neue Regierungen, die ihre Position zur Chatkontrolle zur Zeit noch abwägen.
Nun veröffentlichte das Portal netzpolitik.org ein Verhandlungsprotokoll, aus dem einige der neuen Vorstöße zur Durchsetzung der Chatkontrolle hervorgehen. Während Ratspräsident Ungarn versucht, einen Kompromiss durchzubringen, signalisieren einige der prinzipiellen Befürworter der Chatkontrolle, dass ihre Kompromissbereitschaft an ein Ende gelange, da sich ansonsten wenig zur bisherigen Rechtslage verändere.
Das Zünglein an der Waage sind aber jene Länder, die sich aufgrund nationaler Stimmungslagen noch unentschlossen zeigen. Um eine Sperrminorität durchzusetzen, bedarf es mindestens vierer Staaten mit 35 Prozent der EU-Bevölkerung, doch die sechs Verweigerer der Chatkontrolle kommen bislang nur auf 30 Prozent der EU-Bevölkerung.
Das (vermeintlich) letzte Angebot der Chatkontrolleure
Der Vorschlag der ungarischen Ratspräsidentschaft sieht vor, dass Anbieter von Internetdiensten zunächst nur nach bekanntem strafbaren Material suchen müssen. Die Durchleuchtung auf bislang unbekanntes Material und Grooming (die bewusst herbeigeführte Kontaktaufnahme zu Minderjährigen zwecks Herbeiführung sexueller Kontakte) sind in diesem Vorschlag bislang ausgespart, sollten aber, wenn die dazu benötigte Technologie weiterentwickelt wurde, später eingeführt werden.
Von den Befürwortern der Chatkontrolle betonten daraufhin zehn Staaten, dass „mit dem vorliegenden Vorschlag die Grenze der Kompromissbereitschaft für sie erreicht sei“. Irland hob hervor, dass es über die „Herausnahme von neuem Material und Grooming nicht glücklich“ sei, dies aber „im Sinne einer Kompromissfindung mittragen“ könne. Auch Spanien, Rumänien und Griechenland gehören zu den Ländern, die nicht bereit wären, weitere Konzessionen zu machen.
Die EU-Kommission hingegen erinnerte daran, dass auch der neue Gesetzesentwurf verschlüsselte Inhalte umfassen würde, womit ein Kernpunkt der Kritik – die Aushebelung verschlüsselter Kommunikation – nach wie vor Teil des Entwurfs ausmachen würde.
Neben Deutschland und Österreich lehnen auch Polen, Slowenien, Estland und Luxemburg die Chatkontrolle dezidiert ab. Selbst das deutsche Innenministerium forderte noch im Juni, dass „verschlüsselte private Kommunikation von Millionen Menschen nicht anlasslos kontrolliert werden“ dürfe. Auch der juristische Dienst der EU sieht die Bedenken „weiterhin nicht ausgeräumt“ und glaubt, dass „der Vorschlag einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten“ würde.
Allerdings ist damit das Problem nicht vom Tisch, denn die sechs Nationen kommen nicht auf die 35 Prozent der EU-Bevölkerung, die für eine Sperrminorität von Nöten wären.
Die Unentschlossenen auf der Suche nach dem Stimmungsbarometer
So liegt es vor allem an fünf Staaten, die bislang unentschlossen sind, ob diese Sperrminorität erreicht werden könnte. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht dabei Frankreich, das in Sachen Chatkontrolle seine Position bereits von seiner ursprünglichen Unterstützung zur Ablehnung verändert hatte. Doch mit der anstehenden Regierungsbildung hängt auch die jetzige Position Frankreichs in dieser Frage in der Schwebe. Vertreter Frankreichs im Europarat sprachen von einer „anhaltenden nationalen Debatte“ zu diesem Thema.
Ähnliche Stimmen kommen auch aus Italien, dem zweiten Schwergewicht im Kreis der Unentschlossenen. Die „schwierige nationale Diskussion“ sei noch nicht beendet, man sei zwar „vorsichtig positiv“, aber „einige Regierungsstellen“ seien noch „sehr skeptisch“.
Ebenfalls eine neue Regierung haben die Niederlande, die den Vorschlag als „ermutigend“ bezeichneten, die Belgier hingegen wollten den Vorschlag noch auf seine Verhältnismäßigkeit überprüfen. Der letzte Unentschlossene, Tschechien, berichtet ebenfalls von einer „sehr kontroversen Debatte über das Thema“ im Land.
Sollten Frankreich oder Italien sich gegen die Chatkontrolle stellen, oder zwei der kleineren Staaten, würde die Sperrminorität weiterhin bestehen bleiben. Bereits am Montag sollen die Berater für Justiz und Inneres den neuen Vorschlag verhandeln. Die ungarische Ratspräsidentschaft hofft bereits am 10. Oktober eine Entscheidung durch die Justiz- und Innenminister erfolgen.
Reale Bedenken werden ausgeblendet
Die anhaltenden Versuche, die Chatkontrolle in welch abgeschwächter Form auch immer einzuführen, offenbaren exemplarisch die eurokratische Methode der stufenweisen Grenzverschiebung, wobei nie ein Schritt hinter bereits Erreichtes gesetzt werden darf. Die Einführung der Chatkontrolle selbst im Zustand des jetzigen Kompromisses würde es ungleich leichter machen, in Zukunft nachzujustieren und die ursprünglich angedachten Forderungen umzusetzen.
Auffallend ist dabei vor allem, dass bei allen Verhandlungen darüber, wie man das Gesetz abschwächen könnte um es doch zu ermöglichen, die grundlegende Kritik von Daten- und Kinderschützern, die etwa am Nutzen der Chatkontrolle zum Schutz Minderjähriger prinzipielle Zweifel anmeldeten, immer wieder ausgeblendet wird.
Frei nach Ian Malcolm aus Jurassic Park fragen sich die Politiker Europas bei der Einführung der Chatkontrolle vor allem, ob sie das Gesetz einführen können, anstatt sich zu fragen, ob sie es einführen sollten. Die Folgen solch eines Verhaltens sind hinlänglich bekannt.