Wahlabende können im Zeitalter des medialen Dauer-Entertainments durchaus einen hohen Unterhaltungswert aufweisen. Zumindest dann, wenn die vom Wähler produzierten Ergebnisse erheblich von den Erwartungen der Akteure abweichen. Der 7. Mai 2017 bot ein solches Entertainment in fast vollendeter Perfektion. Gleichzeitig aber bieten sich Wahlabende regelmäßig auch an, einen vertieften Einblick in die Psyche und die Demokratiefähigkeit jener Personen und Parteien zu erhalten, die sich mehr oder weniger berufen fühlen, an der Spitze des Gemeinwesens zu stehen.
Doch bevor wir hier etwas genauer hinschauen, empfiehlt sich ein Ausflug in die Ergebnisse des Wahlabends von Schleswig-Holstein auch deshalb, um die eine oder andere am Wahlabend behauptete Interpretation ins rechte Licht zu rücken. Blicken wir so auf die tatsächlichen Zahlen – und stellen wir dann fest, wo die Gewinner und die Verlierer sitzen; und schließen wir daraus auf das, was gemeinhin als „Wählerwille“ pauschalisiert behauptet wird.
CDU und FDP als Gewinner
Zutreffend ist erst einmal, dass Daniel Günther von der CDU ein erstaunlich gutes Ergebnis einfahren konnte. Bei 2.310.841 wahlberechtigten Bürgern entschieden sich mit ihrer Zweitstimme genau 470.312 unmittelbar für den Polit-Jungstar. Das entspricht zwar real nur einem Anteil von 20,35 %, doch liegt er damit deutlich vor Amtsinhaber Torsten Albig, den 400.635 Bürger direkt unterstützten – was einem Anteil von 17,34 % gleichkommt.
Gleichzeitig jedoch hat Albig an realen Stimmen gegenüber 2012 kaum verloren: Vor fünf Jahren wählten ihn 404.048 Bürger. Sein Verlust liegt daher bei nur 3.413 Bürgern oder einem Rückgang um 0,84 Prozent. Damit ist die Aussage, dass Albig im Sinne seiner Klientel eine „gute“ Regierungspolitik gemacht habe, im Kern zutreffend. Das Problem des Alphamännchens aus Kiel lag also nicht darin, seine treuen SPD-Wähler vergrätzt zu haben – sein Problem lag darin, mit seiner Politik eben nur diese Klientel angesprochen zu haben.
Anders beim Kandidaten der CDU. Günther konnte für seine Partei 61.675 Bürger hinzugewinnen. Das wiederum entspricht einem Zugewinn von 15,09 %. Vereinfacht formuliert: Rund 60.000 Bürger, denen es 2012 egal war, ob sie von Albig oder von dem damaligen Unionskandidaten Jost de Jager regiert würden, wollten 2017 den SPD-MP definitiv nicht mehr sehen.
Gleiches gilt für die Wähler der FDP: 2012 entschieden sich 108.953 Bürger für Wolfgang Kubickis Laden und schickten die FDP so in die parlamentarische Opposition. 2017 konnte der eloquente Anwalt mit einer recht deutlichen Absage an die sogenannte „Küstenkoalition“ der um das südschleswigsche Anhängsel erweiterten rotgrünen Parlamentsminderheit die Zustimmung für seine Partei um 59.568 Bürger erweitern – und kann damit eine Steigerung um 54.67 % verzeichnen. Da der FDP-Wähler weiß, dass sein Spitzenkandidat keine Chance auf das Ministerpräsidentenamt hat, steigerte sich die Zahl jener, die Albig 2017 anders als noch 2012 nun auf keinen Fall mehr wollten, allein schon in der Addition von CDU und FDP-Zugewinnen auf 121.243 Bürger.
Albig hat die Wahl verloren
Stellen wir dagegen das Saldo jener Parteien, die sich explizit für Albig ausgesprochen hatten, so bleibt es auch hier bei der bereits konstatierten Stagnation. Nehmen wir Gewinne und Verluste von SPD, Grünen und Südschleswigschen Wählerverband zusammen, so hat Albig real lediglich 722 Bürger verloren. Das wäre marginal, läge eben nicht der Zugewinn des Anti-Albig-Lagers unter Einbeziehung der erstmals angetretenen AfD sogar bei 207.518 Stimmen und damit fast 290-mal so hoch wie der Albig-Zustimmungsverlust.
Damit wird unabhängig von den Verschiebungen innerhalb des Regierungslagers die Feststellung unterstrichen: Albig hat im Sinne seiner Wähler von 2012 tatsächlich eine „gute“ Politik gemacht – aber ganz offensichtlich empfand eine nunmehr deutliche Mehrheit von Bürgern das, was diese relative Minderheit für „gut“ hielt, sie eben genau für dieses nicht: „gut“. Womit im Rahmen der allgemein üblichen Pauschalisierungen die Feststellung zutreffend ist: Albig wurde von den Schleswigern und Holsteinern gezielt abgewählt.
Albig unbelehrbar
Kommen wir nun zu unserem Blick auf die Akteure und dem daraus möglicherweise abzuleitenden Erkenntnisgewinn.
Beginnen wir mit dem Abgewählten. Albig– seine Mimik war in dieser Hinsicht unübersehbar – war nicht nur tief getroffen – er war zutiefst beleidigt. Deshalb sprach er davon, dass seine „gute Politik“ nicht belohnt worden sei. Deshalb war er nicht bereit, seinen von einer deutlichen Bürgermehrheit gewollten Rückzug aus der Landespolitik zu vollziehen. Hatte er sich bereits im Wahlkampf mit seinem abfälligen Interview über seine langjährige Ehefrau als egozentrischer Macho geoutet und damit nicht nur weibliche Wechselwähler gekonnt zum politischen Gegner getrieben, so unterstrich er mit seinen Aussagen vom Wahlabend, dass er das Grundprinzip demokratischer Mehrheitsgewinnung nicht begriffen hat. Albig hatte denselben Fehler begangen wie dereinst die CDU-Bürgermeisternotlösung Christoph Ahlhaus im benachbarten Hamburg, der nach dem Ausstieg erst des beliebten Ole von Beust und anschließend des grünen Koalitionspartners vollmundig verkündete: „Jetzt wird CDU-Politik pur gemacht!“
Solche Puritäten mögen zwar den 150-prozentigen Parteigänger beglücken – doch eine Mehrheit der Bürger ist immer noch so gestrickt, dass sie vom Politiker eine Politik erwarten, die sich an den Bürger- und nicht an den Parteiinteressen orientiert. Für den in Verantwortung gewählten Politiker hat das Gemeinwohl und nicht das Parteienwohl Maxime des Handelns zu sein. Folge dereinst in Hamburg: Die nun plötzlich linientreue CDU fuhr krachend in den Keller. Folge für Albig: Er konnte unter dem Strich jenseits seiner unerschütterlichen Anhängerschaft nicht einen einzigen Bürger zusätzlich davon überzeugen, ihn zu unterstützen, hat diesen vielmehr den Beweis erbracht, dass er nicht Politik „für den Bürger“, sondern Politik für die Partei machte. Naheliegend, dass Nicht-Parteigänger dafür nicht gewonnen werden können.
Der eigentliche Wahlverlierer
Damit sind wir nun beim eigentlichen Wahlverlierer – jenem stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden, dessen festgeschraubte Griesgrämigkeit ihm das Attribut des „wandelnden Magengeschwürs“ eingebracht hat; der in den Netzwerken als „Pöbel-Ralle“ abgekürzt wird und in den inhaltsleeren Plattheiten dümmlicher Ideologie, mit denen er regelmäßig seine Follower bei Twitter beglückt, beständig den Beweis erbringt, dass in seiner kleinen Welt nicht der Politiker für den Bürger da ist, sondern der Bürger für die Parteipolitik.
Tatsächlich hatte allein schon die unkontrollierte Zusammenbruchsmimik dieses Ralf Stegner alle Entertainment-Ansprüche an den Wahlabend erfüllt. Das war besser als in jeder daily-soap, denn die Emotion dieses populistischen Ideologen trat derart offen und ungeschönt an das Tageslicht – da hätte selbst der legendäre Klaus Kinski Schwierigkeiten gehabt, das zu schauspielern.
Stegners Mundwinkel – ohnehin schon wie festgetackert auf Höhe der Kinnspitze – näherten sich der Grasnarbe. Irgendein Post in den Netzwerken schrieb, diese Mundwinkel hätten problemlos die Schnürsenkel zubinden können. Ein wirklich hübsches und zutreffendes Bild.
Symbolbild zur #ltwsh. #grumpystegner pic.twitter.com/tfOYDJ9itM
— Marian Bracht (@MarianBracht) 7. Mai 2017
Wie bei seinem Partner Albig führte jedoch auch bei Stegner die unverkennbare Abwahl der rotgrünen Politik nicht zur Erkenntnis eigener Fehler. Wie auch: Wem der Bürger lediglich Instrument zur Durchsetzung seiner ideologischen Visionen ist, dem ist der Bürger dann das unbelehrbare Monster, wenn es sich dieser Instrumentalisierung verweigert. Die daraus abzuleitende Konsequenz lautet eben nicht, seine Politik mehr an den Bürgerbedürfnissen zu orientieren, sondern die Erziehung des dummen Bürgers im Sinne der eigenen Ideologie noch weiter verschärfen zu müssen.
Die Grundprinzipien der Demokratie nicht begriffen
Wie wenig die Politiker der „Küstenkoalition“ quer durch die sie tragenden Parteien die Grundprinzipien der repräsentativen Demokratie begriffen haben, unterstrichen auch die beiden kleineren Partner.
Die Grünen, die dank „Harbeck-Effekt“ ihren Anteil verteidigen konnten, fühlten sich erst einmal gemüßigt, sich gegen den unverkennbaren Wählerwillen zu positionieren und an der abgewählten Koalition festzuhalten. Hier sollte nun Kubickis FDP den willigen Steigbügelhalter der Abgewählten geben – so wie sie es beispielsweise in Rheinland-Pfalz unter Beweis gestellt hatte. Allerdings ist Kubicki ein deutlich anderes Kaliber als jener Unbekannte im Südwesten und machte unmissverständlich deutlich: Keine Zusammenarbeit mit Albig. Ob das am Ende auch bedeutete: keine Zusammenarbeit mit einem anderen SPD-Ministerpräsidenten – das ließ der gewiefte Taktiker vorerst offen.
Werfen wir noch einen kurzen Blick auf jene angeblich dänische Minderheit, die sich bereits in der Vergangenheit des Öfteren als sozialdemokratischer Wurmfortsatz bewiesen hatte. Wenn der Geschäftsführer dieser als „Partei der dänischen Minderheit“ firmierenden Splittergruppe am Tag nach der Wahl jedes Zusammengehen mit CDU und FDP kategorisch ausschließt – und damit eine reale Regierungsoption verweigert – dann stellt diese Vereinigung damit unter Beweis, dass es ihr ganz offensichtlich nicht im Geringsten darum geht, die Belange der dänischen Minderheit in Landespolitik zu vertreten. Denn als Zünglein an der Waage hätten die Dänen in einer CDU-FDP-SSW-Landesregierung die allerbesten Chancen, alles zu erreichen, was den Dänen auf den Nägeln brennt. Die nun offenbarte Fundamentalopposition ist so der abschließende Beweis dafür, dass diese Gruppierung Etikettenschwindel betreibt. Sie ist eine sozialdemokratische Hilfstruppe – keine Vertretung einer nationalen Minderheit. Und damit wäre ihr der entsprechende Sonderstatus der Befreiung von der Fünf-Prozent-Klausel umgehend zu entziehen.
Bürger lassen sich nicht zu Steigbügelhaltern degradieren
Was ist nun aus diesen Folgen eines unterhaltsamen Wahlabends jenseits der Selbstverständlichkeit, dass Günther und Kubicki gemeinsam die Geschicke zwischen den Meeren lenken sollten, zu schließen?
Schulz als Scheinriese
Womit wir nun auch beim Kerndilemma des „Clowns aus Würselen“ sind. Der Ex-EP-Chef Martin Schulz, medial gehypt auf Tur-Tur-Überformat, entpuppt sich als Scheinriese. Mit seinen Erzählungen von Gerechtigkeit tappte er in dieselbe Falle, in der ja bereits Albig und Stegner stecken. Er bedient ein erdachtes Basisklientel – und hat bereits dem „normalen“, noch selbständig denkenden Bürger den Beweis erbracht, dass auch er fester Bestandteil der Zwangsbeglückungsfraktion ist. Wer sich nicht bevormunden lassen möchte, der geht mittlerweile dem roten Messias von der Fahne. Dann lieber noch ein paar Jahre Merkel – auch wenn man ihrer überdrüssig ist – und der Satz, wer nichts macht, der macht nichts falsch, in der Politik doch eher falsch ist.
Der Phoenix aus der Asche
Wie Phoenix aus der Asche kommt derzeit die FDP daher. Das liegt zum einen daran, dass sie als die einzige Nicht-Bevormundungspartei wahrgenommen wird, der Pragmatik vor Ideologie geht. Damit lassen sich – gepaart mit glaubwürdigen Vertretern wie Kubicki – derzeit wieder Wahlen gewinnen. Womit wir dann jedoch bei dem Problem dieser Partei sind. Für jeden, der bei Wahlen seine Stimme nicht in die Fundamentalopposition schicken oder einer laschen CDU geben möchte, könnte die FDP in NRW und auf Bundesebene zu einer Alternative werden. Könnte – denn derzeit noch fehlen ihr die Köpfe. Kubicki wird mit größter Wahrscheinlichkeit in Schleswig-Holstein einen Ministerposten übernehmen. Damit fällt er als Bundestagskandidat aus – und ein Ministerpostenwechsel von Kiel nach Berlin nach wenigen Monaten würde umgehend das alte Klischee der Karrieristen- und Klientelpartei reanimieren. Parteichef Christian Lindner, dem die Strahlkraft Kubickis nach wie vor fehlt, könnte es am kommenden Sonntag in Düsseldorf ähnlich gehen. Bleibt für die Attacke auf Berlin derzeit eigentlich nur noch Alexander Graf Lambsdorff als überregional bekannte FDP-Größe. Ob das allein dafür ausreicht, beim Sturm auf Berlin fulminant zu siegen, darf angezweifelt werden. Und so könnte sich die FDP derzeit auf Länderebene zu Tode siegen, denn diese Siege sind maßgeblich an Köpfe gebunden. Fehlen die Köpfe, könnte es schwer werden für die Liberalen.
Noch ein Blick auf die AfD
Werfen wir zum Abschluss noch einen Blick auf die Newcomer der AfD. Die haben – Parteichef Jörg Meuthen stellte es zutreffend fest – nun in Folge das zwölfte Landesparlament besetzt – mit fast 6%. Die Partei wird aller Voraussicht nach auch in Düsseldorf den Einzug schaffen. Doch ihren Zenith hat diese Partei vorerst überschritten. Wofür zwei Gründe maßgeblich sind: Zum einen ist das Interesse der Bürger an der illegalen Einwanderung deutlich abgeflaut – und zum anderen verweigert sich die AfD als Fundamentalopposition grundsätzlich jeglicher Regierungszusammenarbeit. Nur zu opponieren – Gauland betont seinen Stolz darauf – ist zwar legitim – aber es macht diese Gruppierung am Ende spätestens dann funktionslos, wenn die zwei bis drei vom Bürger als Kernanliegen wahrgenommenen Inhalte von den dann in Regierungs-Verantwortung stehenden Parteien gelöst werden, indem sie AfD-Positionen teilweise übernehmen (und die CDU damit oft in ihre eigenen alten Fußstapfen tritt).
Die Präsenz der AfD als Fundamentalopposition sorgt also zugleich dafür, dass Union und FDP (teilweise auch SPD und Grüne) ihre Politik ändern – und dafür, dass die AfD weniger Stimmen anzieht. Das zusätzlich auch deshalb, weil sie ihr Etikett einer bürgerlich-konservativen Politik nicht mehr bedient. Denn Bürger – das war nun in Kiel deutlich zu sehen – streben nach politischer Verantwortung für das Gemeinwesen. Wer diese grundsätzlich verweigert, ohne überhaupt erst den Versuch unternehmen zu wollen, mit anderen Parteien eigene Ziele zu verwirklichen, ist eben nicht bürgerlich. Er ist einfach nur ein Stachel im Fleisch, der irgendwann gezogen wird. So mag der Schmerz dem Gemeinwesen für einen bestimmten Zeitraum hilfreich sein – die Frage ist wie lange.